KAPITEL 69
Die Frage erheischte keine Antwort. Ich wandte
den Kopf. Kardinal van Dieterling kam näher. Er schien über den
Boden zu gleiten. Ich fragte:
»Agostina Gedda gehört also in
diese Gruppe?«
»Sie hat uns ihre Erlebnisse
geschildert, ja. Ich nehme an, dass sie auch mit Ihnen darüber
gesprochen hat.«
»Sie hat von einem Traum
berichtet. Der Teufel hätte sie angestachelt, sich zu rächen. Ihr –
oder vielmehr ›ihm‹ – zufolge soll Salvatore sie die Felswand
hinuntergestoßen haben, als sie elf Jahre alt war.«
»Das stimmt. Wir haben das
überprüft. Wir haben die anderen Kinder, die damals dabei waren,
ausfindig gemacht.«
»Kann sie sich nicht selbst
daran erinnert haben?«
»Hören Sie auf, die Tatsachen
zu leugnen. Dann kommen Sie schneller voran.«
Agostina hatte mir genau das
Gleiche gesagt. Ich stand auf, um mit dem Kardinal auf Augenhöhe zu
sein. Hinter mir schaltete Rutherford bereits den Computer aus. Ich
stellte den Mann in Schwarz und Purpur unverblümt zur Rede:
»Eminenz, was haltet Ihr davon?
Glaubt Ihr tatsächlich, dass Agostina der Teufel erschienen ist?
Dass er sich all diesen wiederbelebten Menschen gezeigt hat? Ich
meine: ein echter Teufel? Eine inspirierende und zerstörerische
Kraft?«
Van Dieterling antwortete
nicht. Ich nahm die Kühle und Feuchtigkeit in dem Zimmer wieder
wahr. Schließlich sagte er, mit der Hand über die blassen und
vergoldeten Bücherrücken streichend:
»Was ich glaube, tut nichts zur
Sache. Agostina hatte ein Erlebnis, das sie psychisch verändert
hat. Diese Wandlung vollzog sich langsam, über einen Zeitraum von
achtzehn Jahren. Aber als sie abgeschlossen war, war die durch ein
Wunder geheilte Frau aus Paterno eine Mörderin. Abyssum abyssus invocat.«
»Der Abgrund ruft den Abgrund
herbei.« Ich fing den Ball auf:
»Eben. Ich würde gern an ein
›bloßes‹ psychisches Trauma glauben. Eine Halluzination, die ihre
Persönlichkeit verändert hat. Aber da ist die körperliche
Gesundung. Ihr seid gerade recht schnell über diese Heilung
hinweggegangen. Dieses Wunder könnte ein konkreter Beweis für die
Existenz des Teufels sein. Er hätte das Kind gerettet und wäre ihm
gleichzeitig erschienen. Und dann viel später zweifellos weitere
Male.«
Der Kleriker lächelte wieder
hämisch:
»Aber Sie glauben nicht an
Satan …«
»Ich mache mich zum Anwalt des
Teufels. In all diesen Erfahrungsberichten ist von einer
Erscheinung hinter einem roten Licht die Rede. Ein Wesen der
Finsternis, das mit ihnen gesprochen hat. Und mir ist aufgefallen,
dass sie alle dieses Zwiegespräch nicht wiedergeben …«
»Den Hölleneid.«
»Was?«
»Den Pakt mit dem Bösen. Eine
sehr alte Überlieferung hat ihm diesen Namen gegeben: der
Hölleneid.«
»Was bedeutet das?«
»Der Teufel gibt nichts
umsonst. In dem Augenblick, in dem der Betreffende stirbt, bietet
Satan seinen Handel an. Die Lebensrettung gegen eine völlige
Unterwerfung. Das Versprechen, Böses zu tun. Dieses ›Geschäft‹ wird
Hölleneid genannt. Der faustische Pakt, aber in seiner psychischen
Version. Die berühmte cedula, das
Gefolgschaftsgelöbnis, das der Ketzer mit seinem Blut
unterzeichnet. Hier ist der Eid ein rein geistiger Prozess. Es
bedarf keines Blutes und keines Zeremoniells. ›Lex est quod facimus.‹ Der
Besessene schreibt durch seine Verbrechen ein neues Gesetz.«
Die Wörter Agostinas. Ich
spürte ein Kribbeln im Nacken. Alles fügte sich nahtlos ineinander.
Die Tatsachen waren zu überzeugend, zu … indiskutabel.
»Aber Ihr«, versetzte ich
plötzlich, »glaubt Ihr daran?«
»Es tut nichts zur Sache, was
ich glaube. Wir müssen zusammenarbeiten.«
»Sie haben meine
Unterlagen.«
»Wir wollen wissen, wie es
weitergeht. Wir möchten über jedes neue Detail unterrichtet
werden.«
Er machte einen Schritt auf
mich zu. Seine schwarze Robe roch nach Weihrauch und
Vetiveröl.
»Wir sind der gleichen Meinung,
Sie und ich. Ein und derselbe Mörder. Sie glauben an einen Mörder
aus Fleisch und Blut. Ich glaube an einen Übermörder, der sich in
den geheimen Winkeln des Komas verbirgt. Nennen Sie ihn, wie Sie
wollen, Teufel, Tier, Engel der Finsternis, aber dieser ›Anstifter‹
erteilt seine Befehle aus der Tiefe des Limbus. Wir müssen ihn
entlarven. Gemeinsam.«
»Ich kann Euch nicht helfen.
Ich teile Eure Überzeugungen nicht. Ich …«
»Schweigen Sie. Alles verändert
sich gegenwärtig, und Sie stehen im Mittelpunkt dieser
Wandlung.«
»Was für einer Wandlung?«
»Der Stil des Anstifters ändert
sich. Früher begnügte er sich damit, den Besessenen Gewalt, Folter
und Morde zu befehlen. Die Art und Weise spielte keine Rolle. Heute
schreibt er ihnen ein bestimmtes Ritual vor. Die Insekten, die
Flechten, die Bisswunden, die abgeschnittene Zunge … Er nennt all
seinen Geschöpfen die Einzelheiten. Sie kennen den Fall Simonis.
Wir haben den Fall Gedda. Es gibt noch andere.«
Ich dachte an Raimo Rihiimäki,
den Esten. Wie viele weitere gab es noch, weltweit? Van Dieterling
hatte recht, und ich selbst hatte es bereits begriffen: Das war
keine Mordserie, sondern eine Serie von Mördern. Mörder, die, nach
dieser Logik, auf einen transzendenten, metaphysischen Mörder
hinwiesen. Derjenige, der in der Tiefe des »Schlunds« die Fäden
zog.
Ich fragte:
»Woher wisst Ihr, dass es
weitere Fälle gibt?«
»Wir wissen es. Wir ahnen es.
Und jetzt brauchen wir einen Ermittler, der mit allen Wassern
gewaschen ist. Einen Vollblut-Polizisten ohne Grenzen und ohne
Prinzipien. Einen Mann wie Sie, der Spaß an Gewalt und Lüge hat.
Der zu allem bereit ist, um seine Ziele zu erreichen.«
Ich nahm die Beleidigung hin.
Schließlich war sie nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Der
Kirchenmann fuhr fort:
»Sie müssen diese Personen, die
durch den Teufel geheilt wurden, aufspüren.« Er hob die Stimme.
»Eine neue Generation von Killern tritt an. Wir müssen verstehen,
weshalb der Teufel diese Männer und Frauen rettet und sie dazu
drängt, sich auf eine genau reglementierte Weise zu rächen.«
Ich antwortete kleinlaut:
»Im Fall Simonis habe ich nicht
einmal einen Verdächtigen ...«
»Sie werden ihn finden. Es
läuft jedes Mal nach dem gleichen Muster ab. Ein Mensch wird
ermordet und dann durch den Teufel gerettet. Anschließend, manchmal
sehr viel später, rächt er sich, indem er Säuren, Insekten,
Flechten und was weiß ich sonst noch verwendet. Wir möchten eine
Liste all dieser Morde. Wir wollen verstehen, weshalb der Teufel
jetzt handelt, durch die Hand seiner Sendboten, wie ein
Serienmörder, mit seinen Obsessionen, seiner Methode, seiner
Signatur. Wir glauben, dass darin eine Botschaft liegt, die es zu
entschlüsseln gilt. Eine Prophezeiung.«
Das war es also. Die Namen des
Teufels auf den Leichen der Opfer. Die Verstümmelungen, die die
Waffen des Todes selbst aufgriffen. Eine Botschaft. Das Wort
Luzifers …
Mir wurde schwindlig. Meine
Ermittlungen spielten sich nicht auf einer irdischen, sondern auf
einer eschatologischen Ebene ab. Hinter den Morden standen nicht
irgendwelche Mörder, sondern Satan persönlich, Ein Dämon, der durch
seine Rachegeister brüllte und handelte …
Wieder dachte ich an Luc. War
er bei seinen Nachforschungen so weit gegangen? Hatte er die
Prophezeiung des Bösen entdeckt? Ich tastete meine Taschen ab und
fand sein zerknittertes Porträt.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Der Kardinal verzog kühl die
Lippen.
»Nein. Wer ist das?«
»Ein Freund von mir. Ebenfalls
Polizist. Er arbeitete an diesem Fall.«
»Was ist mit ihm
passiert?«
»Er hat einen Selbstmordversuch
unternommen.«
»Dann ist er gescheitert.
Scheitern Sie nicht, Mathieu Durey. Enttäuschen Sie mich
nicht!«
Er drehte sich um. Seine Robe
knatterte. Eine Warnung in Schwarz und Rot. Die Inquisition war
zurückgekehrt, mit einem rätselhaften Sprung über die
Jahrhunderte.