KAPITEL 24
In der Zentrale erwartete mich in meinem
Ablagefach der übliche Papierkram. Vernehmungsprotokolle,
Abhörberichte, Fernschreiben von der Amtsleitung, Pressespiegel …
Ich nahm alles mit einem Griff heraus und warf es auf meinen
Schreibtisch. Ich setzte mich hin, wickelte die beiden Pistolen von
Doudou in ein Fensterleder ein und legte sie dann in eine meiner
abschließbaren Schubladen.
Ich griff nach dem Telefon. Als
Erstes rief ich Laure an, um mich für meinen überstürzten Aufbruch
nach der Messe zu entschuldigen. Ich schnurrte die üblichen
Floskeln herunter und sagte dann nach einigem Zögern in den
Hörer:
»Du sollst noch etwas wissen …
Ich habe Nachforschungen über Lucs Reisen angestellt.«
»Na und?«
»Es gab keine Frau. Zumindest
nicht so, wie du meinst.«
»Bist du dir sicher?«
»Absolut. Ich ruf dich wieder
an.«
Ich legte auf, ohne zu wissen,
ob ich ihrem weiblichen Stolz geschmeichelt oder ihre ehelichen
Sorgen noch verstärkt hatte. Ich blätterte in den Unterlagen und
las die Notiz von Malaspey über Lucs Münze. Völlig wertloser
Nippes. Das eingravierte Symbol – der Erzengel Michael – war für
Luc das Entscheidende gewesen.
Auch Meyers Bericht über den
Verdächtigen im Fall Perreux befand sich in dem Konvolut. Der
Zigeuner Kalderasch. Ich las ihn flüchtig durch – gute Arbeit.
Diesen Bericht könnte ich Dumayet als Beleg dafür präsentieren,
dass die Ermittlungen vorankamen.
Ich rief Foucault an und sagte
ihm, er könne sein Handy bei mir abholen. Dann meldete ich mich bei
Svendsen. Ich wollte wissen, ob er mit den CT-Aufnahmen, die ich
bei Luc gefunden hatte, weitergekommen war. Er fiel mir ins
Wort:
»Es sind Aufnahmen, die mit dem
PET, dem Positronen-Emissions-Tomografen gemacht wurden. Ein Gerät,
mit dem die Aktivität des Gehirns in Echtzeit sichtbar gemacht
werden kann. Diese Aufnahmen stammen aus der Abteilung für
Nuklearmedizin des Brookhaven National Laboratory, eines sehr
renommierten Forschungszentrums in New Jersey.«
»Um was für Aufnahmen handelt
es sich in diesem konkreten Fall?«
»Nach dem, was man mir gesagt
hat, sind es Patienten, die gerade einen schweren Anfall haben.
Gemeingefährliche Schizophrene.«
»Verbrecher?«
»Jedenfalls gewalttätige
Personen.«
Genau das, was ich mir
vorgestellt hatte. Im Mittelalter trat der Teufel in Gestalt eines
Wasserspeiers in Erscheinung. Im 21. Jahrhundert manifestierte er
sich als eine »mörderische Fissur« im Gehirn.
Svendsen fuhr fort:
»Ich hab noch mehr
herausgefunden. Diese Patienten weisen auch körperliche
Missbildungen auf, die mit ihrer Schizophrenie zusammenhängen. Ein
ungewöhnlich breiter Oberkörper, ein asymmetrisches Gesicht, eine
ungewöhnlich starke Behaarung … Es ist, als würde die
Geisteskrankheit ihren Körper verändern. Eine Art Mister Hyde
…«
Ich ahnte, was Luc an diesen
Persönlichkeitsveränderungen interessierte. Das Böse ergriff
buchstäblich »Besitz« von diesen Menschen, und zwar so sehr, dass
es sie körperlich entstellte. Es waren moderne Verdammte. Ich
verabschiedete mich von Svendsen, als Foucault in meiner Höhle
erschien.
»Danke«, sagte ich, während ich
ihm sein Handy hinhielt.
»Hast du deines
wiedergefunden?«
»Alles in Ordnung. Wie sieht’s
aus?«
»Ich hab spaßeshalber
überprüft, ob Larfaoui in der Region Besançon Kontaktleute hatte.
Fehlanzeige!«
»Die Kontoauszüge?«
»Ich hab alles bekommen. Nichts
Auffälliges. Keine Unregelmäßigkeiten bei den Kontobewegungen und
nichts Ungewöhnliches bei den Telefonrechnungen. Seine Anrufe, auch
die von seiner Wohnung aus, sind ausnahmslos beruflicher Natur.
Aber er hat nicht nach Besançon telefoniert. Ich vermute, dass er
seine Privatgespräche von einem anderen Apparat aus führte. Das
kommt bei Seitensprüngen immer häufiger vor und …«
»Okay. Ich will, dass du
Larfaouis Aktivitäten noch mal ganz genau unter die Lupe nimmst.
Find heraus, was für Geschäfte er neben dem Getränkegroßhandel
gemacht hat!«
Ich hatte die Hoffnung noch
nicht aufgegeben, ein Detail zu finden, das irgendwie mit dem
Ganzen zusammenhing. Schließlich war der Mörder des Kabylen
angeblich ein Priester, was auf eine Verbindung zum Teufel
hinweisen konnte …
»Und die E-Mails von
Unital6?«
»Die Typen dort haben angeblich
alles auf den Kopf gestellt. Sie schwören, dass sie nichts gefunden
haben.«
Ich hatte doch nicht geträumt!
Luc hatte diese Nachrichten mit Sicherheit versendet. Trotzdem
beschloss ich, die Spur vorerst nicht weiterzuverfolgen.
»Die Liste der Personen, die an
der Konferenz über Satanismus teilnehmen werden?«
»Hier.«
Ich warf einen Blick darauf:
Priester, Psychiater, Soziologen, allesamt Italiener. Kein Name,
der mir auf Anhieb etwas gesagt hätte.
»Super«, versetzte ich, während
ich das Blatt auf den Tisch legte. »Noch etwas: Ich verreise heute
Abend.«
»Wohin?«
»Privatsache. Währenddessen
schmeißt du den Laden hier.«
»Wie lange bleibst du
weg?«
»Ein paar Tage.«
»Bist du über dein Handy
erreichbar?«
»Keine Sorge.«
»Wirklich erreichbar?«
»Ich werd meine Nachrichten
abhören.«
»Hast du mit Dumayet über den
Trip gesprochen?«
»Ich geh gleich zu ihr.«
»Und … was ist mit Luc?«
»Sein Zustand ist unverändert.
Man kann nichts weiter für ihn tun.« Ich zögerte und fügte dann
hinzu: »Aber an dem Ort, den ich aufsuche, werde ich ihm nahe
sein.«
Mein Stellvertreter stutzte. Er
verstand nicht, was ich meinte.
»Ich ruf dich an«, sagte ich
lächelnd.
Kaum dass er die Tür hinter
sich zugezogen hatte, nahm ich Mayers Bericht und ging damit zu
Nathalie Dumayet.
»Gut, dass Sie kommen«, sagte
die Direktorin der Kripo, als ich eintrat. »Ihre achtundvierzig
Stunden sind vorbei.«
Ich legte den Bericht auf ihren
Schreibtisch.
»So viel schon mal zu Le
Perreux.«
»Und der Rest?«
Ich schloss die Tür, setzte
mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und begann zu reden. Der
Tod Larfaouis. Die unsauberen Geschäfte des Kabylen. Die Namen:
Doudou, Jonca, Chevillat. Bis zum Hals darin verwickelt. Aber ich
verschwieg, dass Luc die Augen davor verschlossen hatte und
Gefallen daran fand, Menschen zu manipulieren.
»Die Kollegen vom
Drogendezernat brauchen nur vor ihrer Tür zu kehren«, sagte sie,
nachdem ich mit meinen Ausführungen zu Ende war. »Jeder ist für
sich selbst verantwortlich.«
»Ich hab Doudou versprochen,
dass Sie ein gutes Wort für ihn einlegen.«
»Wieso sollte ich?«
»Er hat mir wichtige
Informationen geliefert.«
»Was im Drogendezernat
passiert, geht uns nichts an.«
»Sie könnten Levain-Pahut
anrufen. Coudenceau kontaktieren. Die internen Ermittler auf eine
andere Spur führen.«
»Was für eine Spur?«
»Luc arbeitete an dem Mordfall
Larfaoui. Sie könnten sie auf andere Gedanken bringen, indem Sie
von einer verdeckten Ermittlung bei den Bierbrauern sprechen. Mit
der Aussicht auf einen großen Fisch.«
Ihr eiskalter Blick lähmte
mich:
»Sind die Informationen von
Doudou diesen Preis wert?«
»Vielleicht ist das der Grund
für Lucs Selbstmordversuch. Jedenfalls hat er an diesem Fall bis
zum Schluss mit Hochdruck gearbeitet.«
»Was für ein Fall?«
»Ein Mord im Jura. Heute ist
Donnerstag, geben Sie mir bis Montag.«
»Kommt gar nicht in Frage. Ich
habe Ihnen schon eine Gefälligkeit erwiesen, Durey. Jetzt zurück an
die Arbeit.«
»Geben Sie mir ein paar Tage
Urlaub.«
»Wo, glauben Sie, sind wir
hier? Bei der Post?«
Ich antwortete nicht. Sie
schien nachzudenken. Ihre spitzen Finger klopften auf die lederne
Schreibunterlage. Seitdem ich bei der Kripo war, hatte ich noch
keinen einzigen Tag Urlaub genommen.
»Ich will keinerlei Aufsehen«,
fuhr sie endlich fort. »Wo immer Sie hingehen, Sie haben keinerlei
Befugnisse.«
»Ich werde diskret
vorgehen.«
»Montag?«
»Um neun bin ich im
Büro.«
»Wer ist sonst noch
eingeweiht?«
»Niemand außer Ihnen.«
Sie nickte langsam, ohne mich
anzusehen.
»Und die laufenden
Ermittlungen?«
»Foucault schmeißt den Laden.
Er wird Sie auf dem Laufenden halten.«
»Und Sie, Sie halten mich auf
dem Laufenden. Jeden Tag. Schönes Wochenende.«