KAPITEL 29
Zehn Fotos waren auf der polierten Stahlfläche im
rechten Winkel zur zentralen Abflussrinne des Seziertischs
angeordnet.
Valleret hatte gesagt:
»Ich möchte, dass Sie wissen,
womit wir es zu tun haben, und zwar ganz genau.«
Ich war mir schon nicht mehr
sicher, ob ich es wirklich wissen wollte. Die Bilder erzählten,
eins nach dem anderen, die Geschichte der Verwesung eines
menschlichen Körpers. Die erste Aufnahme war eine Totale. Eine
abschüssige Lichtung, von Tannen gesäumt und auf einer Seite
flankiert von einer steil abfallenden Felswand. Eine nackte Frau,
die auf der Seite lag und zu schlafen schien, von hinten gesehen.
Die Leiche sah aus wie eine Gliederpuppe, die aus nicht
zusammenpassenden Fragmenten gebastelt worden war. Der Kopf, der
tief zwischen den Schultern saß, und der gekrümmte Oberkörper
wiesen normale Proportionen auf, aber die Hüften und die Beine
verjüngten sich zu den Füßen hin, die bis auf die Knochen abgenagt
waren.
Das zweite Foto war eine
Großaufnahme der Mittelfuß- und Fußwurzelknochen, die nur noch
durch schwärzliche Fleischfasern verbunden waren. Die dritte
Aufnahme zeigte die grünlichen, ledernen Oberschenkel. Auf dem
vierten Foto sah man die Hüften und das Geschlechtsorgan, wo es von
Maden und Insekteneiern wimmelte. Dann der Bauch, verfault,
bläulichrot, aufgedunsen, ebenfalls besiedelt von
leichenschändendem Ungeziefer …
So ging es von Foto zu Foto
immer weiter nach oben, bis zum Oberkörper, der weniger zerfressen,
wenn auch durchlöchert von Bohrgängen der Maden war, und zu den
marmorierten Schultern. Der Kopf schließlich war gut erhalten, aber
das unsägliche Martyrium, von dem er anschauliches Zeugnis ablegte,
ließ einem das Blut in den Adern gefrieren: Das Gesicht war nur ein
einziger klaffender Mund, der in einem Schrei erstarrt war, den man
noch immer zu hören glaubte.
»Alles, was Sie hier sehen, ist
das Werk des Mörders«, sagte Valleret, der auf der anderen Seite
des Seziertischs stand. »Diese Leiche weist sämtliche
Verwesungsstadien auf, und zwar gleichzeitig. Von den Füßen bis zum
Kopf kann man den Prozess der Fäulnis zurückverfolgen.«
»Wie ist das möglich?«
»Das ist nicht möglich. Der
Mörder hat das Unmögliche ins Werk gesetzt.«
»Als ob die Frau mehrere Male
gestorben wäre«, hatte Shapiro gesagt. Diese stufenweise Fäulnis
war also das Ergebnis einer gezielten Bearbeitung, einer besonderen
Behandlung …
»Zunächst«, fuhr der Arzt fort,
»als die Feuerwehrmänner und die Rettungssanitäter die Leiche
entdeckt haben, glaubten sie, diese unterschiedlichen
Verwesungsstadien seien auf die Witterungsverhältnisse
zurückzuführen. Auch ich habe dies herumerzählt, um die Leute zu
beruhigen. Aber das ist natürlich Unsinn, wie Sie sicher wissen.
Unter normalen Bedingungen dauert es drei Jahre, bis eine Leiche
vollständig verwest ist. Wie konnte sich die untere Körperhälfte so
stark zersetzen? Der Mörder hat dieses Phänomen gezielt
herbeigeführt. Er hat jede Phase der Zersetzung geplant und
künstlich erzeugt.«
Ich betrachtete noch einmal die
Fotos, während Valleret mitgesenkter Stimme die folgenden Verse
aufsagte:
»Die Sonne brannte so auf dies verfaulte
Leben,
Als koche sie es gar,
Und wolle der Natur in hundert Teilen geben,
Was sie als eins gebar.«
Ein Gerichtsmediziner mit poetischer Ader! Er und
Svendsen passten gut zusammen. Ich kannte diese Zeilen. Ein Aas von Charles Baudelaire.
»Als ich die Leiche sah, musste
ich sofort an diese Strophe denken«, bemerkte er. »Diese Bluttat
hat eine künstlerische Dimension. Eine ästhetische Perspektive, ein
wenig wie auf kubistischen Gemälden, die sämtliche Blickwinkel auf
einen Gegenstand in einer Ebene darstellen.«
»Wie, wie hat er das
hingekriegt?«
Der Arzt ging um den Tisch
herum und stellte sich neben mich.
»Seit Juni geht mir diese
Leiche nicht mehr aus dem Sinn. Ich versuche mir die Techniken des
Mörders vorzustellen. Meiner Meinung nach hat er bei den am
stärksten zersetzten Körperteilen Säuren verwendet. Weiter oben hat
er Chemikalien unter die Haut und in die Muskeln gespritzt, um
dieses pergamentartige Aussehen zu erreichen. Diese
unterschiedlichen Verwesungsstadien erfordern ferner eine gezielte
Wärmebehandlung und Beleuchtung, denn Wärme beschleunigt organische
Prozesse …«
»Die Leiche wurde also erst
später auf die Lichtung gebracht?«
»Natürlich. All dies geschah in
einem geschlossenen Raum. Vielleicht sogar in einem Labor.«
»Glauben Sie, dass der Mörder
eine Ausbildung als Chemiker hat?«
»Zweifellos. Und er hat Zugang
zu sehr gefährlichen Produkten.«
Der Gerichtsmediziner griff
zwei Fotos heraus und legte sie auf die anderen.
»Betrachten wir zwei Beispiele.
Hier sieht man, wie sich die Hüften und das Geschlechtsorgan
wässrig zersetzen: Sechs bis zwölf Monate nach dem Tod treten
Körpersäfte aus und das Fleisch verflüssigt sich. Hier ist der
obere Bauchraum im Stadium der Gasbildung: Ammoniakgärung,
Verdunstung jauchiger Flüssigkeiten. All dies wurde hervorgerufen,
in die Länge gezogen, gesteuert … Dieser Psychopath ist ein echter
Dirigent.«
Ich versuchte mir den Mörder
»bei der Arbeit« vorzustellen. Ich sah nichts. Nur ein Schatten,
das Gesicht maskiert, in einem Operationssaal über sein Opfer
gebeugt, mit Spritzen und unbekannten Instrumenten hantierend.
Valleret fuhr fort:
»Da gibt es noch etwas wirklich
Merkwürdiges … Ich habe im Brustkorb Flechten gefunden, die man
dort nicht erwarten würde. Ich meine, Flechten, die nichts mit der
Verwesung zu tun haben. Ein körperfremder Stoff, den er zu beiden
Seiten des Oberkörpers injiziert hat.«
»Was für eine Art von
Flechte?«
»Das weiß ich nicht genau, aber
sie hat eine Besonderheit: sie leuchtet. Als die Rettungsmannschaft
den Leichnam gefunden hat, leuchtete der Brustkorb von innen. Nach
Aussage der Sanitäter glich er einem echten Halloween-Kürbis mit
einer Kerze darin.«
Eine Frage ging mir nicht aus
dem Kopf: Weshalb? Weshalb hatte jemand so viel Aufwand mit der
Präparierung der Leiche getrieben?
»Bei anderen Körperteilen ist
es ›einfacher‹«, fuhr der Gerichtsmediziner fort. »Die Schultern
und die Arme waren gerade erst in den rigor
mortis gefallen, der ungefähr sieben Stunden nach dem Tod
einsetzt und sich im Verlauf einiger Tage wieder löst. Was den Kopf
betrifft …«
»Der Kopf?«
»Er war noch lauwarm.«
»Wie hat der Mörder das
hingekriegt?«
»Damit hat es nichts Besonderes
auf sich. Als die Frau gefunden wurde, war sie gerade verstorben,
das ist alles.«
»Sie wollen sagen …«
»Dass Sylvie Simonis all diese
Torturen bei vollem Bewusstsein durchlitten hat. Sie ist vor
Schmerzen gestorben. Ich kann Ihnen den genauen Zeitpunkt nicht
nennen, aber es war am Ende ihrer Marter. Ihre frische
Gesichtsfarbe bestätigt das. Ich habe in dem, was von Leber und
Magen übrig blieb, Reste von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren
gefunden, die auf einen starken Stress hindeuten. Sylvie Simonis’
Todeskampf hat mehrere Tage gedauert.«
Mein Kopf dröhnte. Meine eigene
Angst vor dem Tod ließ mich erschaudern.
Valleret fügte hinzu:
»Bildlich gesprochen könnte man
sagen, dass der Mörder sie mit den Werkzeugen des Todes selbst
getötet hat. Er hat nichts vergessen. Nicht einmal die
Insekten.«
»Hat er diese Tierchen auf dem
Körper ausgesetzt?«
»Er hat sie in den Körper
eingebracht, in Wunden, unter die Haut. Er hat für jede Phase die
entsprechenden aasfressenden Insekten ausgewählt. Fleischfliegen,
Würmer, Milben, Aaskäfer, Schmetterlinge … All diese Schwadronen
des Todes waren da, zeitlich perfekt auf den Verwesungsprozess
abgestimmt.«
»Bedeutet das, dass er diese
Insekten züchtet?«
»Zweifellos.«
Obwohl ich noch immer völlig
fassungslos war, zeichneten sich einige Anhaltspunkte ab: ein
Chemiker, ein Labor, eine Insektenzucht … aussagekräftige Spuren,
um den Dreckskerl aufzuspüren.
»Hier in der Region wohnt einer
der führenden Insektenkundler Europas. Er hat mir bei der Autopsie
geholfen.«
Valleret schrieb seine Adresse
und seine Telefonnummer auf eine seiner Visitenkarten. »Mathias
Plinkh.«
»Züchtet er ebenfalls
Insekten?«
»Das ist die Grundlage seiner
Forschungstätigkeit.«
»Kommt er als Täter in
Betracht?«
»Jetzt drehen Sie mal nicht
durch. Besuchen Sie ihn. Machen Sie sich selbst ein Bild. Er ist
schrullig, aber nicht gefährlich. Seine Insektenzucht liegt in der
Nähe des Mont d’Uziers an der Straße nach Sartuis.«
Ich blickte noch einmal auf die
Großaufnahmen, die auf dem Seziertisch lagen, und zwang mich dazu,
sie eingehend zu betrachten. Durch Fäulnisgase angeschwollenes
Fleisch. Aufgeplatzte Wunden voller Fliegen. Weiße Maden, die an
rosafarbenen Muskeln saugen … Trotz der Kälte brach mir der Schweiß
aus allen Poren. Ich fragte:
»Haben Sie weitere Spuren von
Gewaltanwendungen festgestellt?«
»Haben Sie noch nicht
genug?«
»Ich meine eine andere Art der
Gewalttätigkeit. Spuren von Schlägen, von roher Gewalt bei der
Entführung beispielsweise.«
»Es gibt natürlich Fesselmale,
aber vor allem Bisswunden.«
»Bisswunden?«
Der Arzt zögerte. Ich wischte
mir den Schweiß von der Stirn.
»Weder von Menschen noch von
Tieren. Nach meinen Beobachtungen stammen sie von einem ›Ding‹, das
über ungewöhnlich viele Zähne verfügt, genauer gesagt über
Fangzähne, die schief und verdreht stehen. Als ob … als ob diese
Zähne nicht in einer Reihe angeordnet wären. Eine Art von Kiefer,
der aus dem Chaos hervorgegangen ist.«
Ein Bild schoss mir durch den
Kopf. Pazuzu, der assyrische Dämon aus Lucs Bildersammlung. Das
Ungeheuer mit Skorpionschwanz strich durch den Operationssaal und
beugte seinen Fledermauskopf über den Leichnam. Ich hörte sein
heiseres Knurren, sein gieriges Saugen an zerfetztem Fleisch. Der
Teufel. Der leibhaftige Teufel, der sein Opfer zerfleischt …
Valleret riss mich aus meinen
Fantasien:
»Das Einzige, was ich mir
vorstellen kann, ist ein mit Tierzähnen übersäter Knüppel. Zähne
einer Hyäne oder großen Raubkatze, jedenfalls eine Waffe, die mit
einem Stiel versehen ist. Der Mörder könnte damit auf verschiedene
Körperstellen – Arm, Kehle, Flanken – von Sylvie Simonis
eingeschlagen haben. Aber da ist das Problem, dass sich die Kiefer
ziemlich deutlich abgedrückt haben. Und weshalb ausgerechnet diese
Folter? Das passt nicht zum Rest. Ich …« Er sah mich unvermittelt
an. »Ist alles in Ordnung? Sie scheinen nicht ganz auf dem Damm zu
sein.«
»Geht schon.«
»Sollen wir einen Kaffee
trinken gehen?«
»Nein, danke, ist schon
gut.«
Ich fuhr mit nüchternen
polizeilichen Fragen fort, um wieder einen klaren Kopf zu
bekommen:
»Hat man am Fundort noch andere
Spuren gefunden?«
»Nein. Der Körper muss in der
Nacht dort abgelegt worden sein, aber der Regen am Morgen hat alle
Spuren vernichtet.«
»Wissen Sie, wie weit die
Fundstelle vom Kloster entfernt ist?«
»Ich habe Fotos gesehen, ja.
Die Leiche lag an der oberen Kante einer Felswand, an deren Fuß
sich das Kloster befindet. Sie überragte dieses also gewissermaßen,
was einen Affront, eine Provokation darstellt.«
»Ich habe gehört, dass es sich
um ein satanistisches Verbrechen handeln soll. Fand man Zeichen,
Symbole auf dem Leichnam oder um ihn herum?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Was können Sie mir über den
Mörder selbst sagen?«
»Man kann ein exaktes Profil
von ihm erstellen. Ein Chemiker, ein Botaniker, ein Entomologe, der
gründliche anatomische Kenntnisse besitzt. Vielleicht sogar ein
Gerichtsmediziner! Er ist das Gegenteil eines Einbalsamierers. Er
konserviert nicht, sondern er beschleunigt die Verwesung. Er
steuert sie und spielt damit … Er ist ein Künstler. Ein Mensch, der
seine Tat jahrelang vorbereitet hat.«
»Haben Sie das alles auch den
Gendarmen erzählt?«
»Natürlich.«
»Haben die irgendwelche
konkreten Spuren verfolgt?«
»Ich habe nicht den Eindruck,
dass sie viel herausgefunden haben. Aber die Untersuchungsrichterin
und der Capitaine der Gendarmerie hüllen sich in Schweigen.
Vielleicht wissen sie etwas …«
Ich sah in Gedanken Corine
Magnan mit ihrem Tigerbalsam und Capitaine Sarrazin, der seine
Wörter verschluckte. Was konnten sie gegen ein solches Verbrechen
tun? Ich schlug eine andere Richtung ein.
»Sehen Sie eine Verbindung zu
dem Mord an der Tochter von Sylvie Simonis im Jahr 1988?«
»Ich kenne den ersten Fall
nicht besonders gut. Aber es gibt keine Gemeinsamkeiten. Die kleine
Manon wurde in einem Brunnen ertränkt. Das ist schrecklich, aber
das hat nichts mit der ausgeklügelten Hinrichtung von Sylvie zu
tun.«
»Wieso ›Hinrichtung‹?«
Er zuckte mit den Schultern,
ohne zu antworten. Während seiner Ausführungen war seine Stimme
fester geworden, und er hatte an Selbstsicherheit gewonnen. Jetzt
verfiel er wieder in seine anfängliche Scheu und Unsicherheit. Aber
ich ließ nicht locker:
»Was möchte der Täter Ihres
Erachtens erreichen?«
Langes Schweigen. Valleret rang
nach Worten:
»Er ist ein Fürst der
Finsternis. Ein Experte auf dem Gebiet des Bösen, der eine Passion
für das Raffinement hat. Ich bin mir nicht sicher, ob er bei der
Tat Lust empfindet, ich meine, sexuelle Lust. Ich sage es noch
einmal: Er ist ein Künstler mit … abstrakten Motiven.«
Mehr bekam ich nicht aus ihm
heraus. Zum Abschluss fragte ich:
»Haben Sie vielleicht eine
Kopie Ihres Obduktionsberichts?«
»Warten Sie hier.«
»Haben Sie auch Proben der
Flechten aufgehoben?«
»Ja mehrere,
vakuumverpackt.«
Er verschwand in der
Schwingflügeltür. Wenig später drückte er mir eine Aktenmappe aus
ungebleichtem Leinen in die Hand.
»Alles, was ich habe«, sagte
er. »Mein Bericht, das Protokoll der Gendarmerie, die Aufnahmen vom
Fundort, der Wetterbericht, alles. Ich habe auch zwei Beutel mit
Flechten beigelegt.«
»Danke.«
»Bedanken Sie sich nicht. Ich
drehe Ihnen das Baby an, mein Lieber. Ein vergiftetes Geschenk.
Jahrelang hat mir der Unfall im OP, der mein Leben kaputtgemacht
hat, keine Ruhe gelassen. Seit dieser Autopsie höre ich nur noch
die Schreie der von Maden zerfressenen Frau.« Er lächelte bitter.
»Der eine kommt, der andere geht, wie morsch das Brett auch immer
ist.«
Erleichtert kehrte ich in die oberirdische Welt
zurück. Als ich im Mittagslicht den Vorplatz des Krankenhauses
überquerte, fiel das Unbehagen von mir ab. Doch als ich die
Fernbedienung meines Autos betätigte, erstarrten meine Finger
mitten in der Bewegung.
Das Bild des Dämons tauchte
wieder auf, der in den Körper von Sylvie Simonis biss, umschwirrt
von einem Mückenschwarm, und mit heulenden Hunden im Hintergrund.
Eine Erinnerung aus meinen Theologie-Seminaren wurde wach.
Beelzebub leitete sich vom
hebräischen »Beelzebul« her, das wiederum eine Ableitung vom
philistinischen »Baal Zebub« war, dem Herrn der Fliegen.