KAPITEL 99
»Ist Professor Zucca da?«
Wo ich schon einmal in der
Klinik war, wollte ich auch gleich den Psychiater befragen. Die
Sekretärin antwortete mir lächelnd:
»Um diese Uhrzeit joggt er
immer.«
»Ist er schon weg?«
»Nein, er läuft hier in unserem
Park.«
Ich verließ die gelb und rot
gestrichene Halle und ging dann um den Pavillon 21 herum. Es war
fast dunkel. Ich setzte mich auf die Stufen des Seiteneingangs, der
auf die Allee des Klinikgeländes ging. Ich ging davon aus, dass ich
Zucca hier begegnen würde, bevor er sein Training beendet
hatte.
Ich zog eine Camel heraus und
klopfte sie gegen die Stufe, auf der ich saß. Ich rief Corine
Magnan auf ihrem Handy an, doch es meldete sich nur ihr
Anrufbeantworter. Ich hinterließ eine Nachricht: Ich bat sie, mich
so schnell wie möglich zurückzurufen. Anschließend wählte ich die
Nummer des Handys von Manon. Sie war nicht so abweisend, wie ich
befürchtet hatte. Ich hatte sie geweckt. Seit unserer Ankunft in
Paris litt Manon an regelrechten Schlafanfällen. Ihr Schlaf war
schwer und tief und grenzte schon an Scheintod. Der Fernseher
surrte im Hintergrund. Ich versprach ihr, zum Abendessen da zu
sein. Mit einem müden, nichtssagenden »Ich küsse dich« legte sie
auf.
Ich zündete meine Zigarette an
und zwang mich zur Ruhe. Dann ließ ich den Blick über die
Landschaft gleiten, die vor mir erlosch. Kahle Rasenflächen, Laub,
Buchengehölze. Keine Menschenseele auf dem Weg oder auf den
Sportplätzen, die den Pavillons gegenüberlagen, nicht einmal der
Schatten eines Autos. Ich dachte an Manon, die seit fast einer
Woche in meiner Wohnung eingesperrt war: Wie würde es mit uns
beiden enden?
Nach einigen Minuten tauchte
Zucca auf; er lief mit kleinen Schritten. Er trug einen
K-Way-Poncho. Ich stand auf und schnippte meine Zigarette weg. Als
mich der Psychiater erblickte, trippelte er wie ein japsender
Jagdhund mit halb offenem Mund auf mich zu. Sein Gesicht war
feuerrot.
»Haben Sie Ihren Kumpel
besucht?«, fragte er zwischen zwei Atemzügen.
»Ich wollte auch mit Ihnen
reden.«
Mit einer Kopfbewegung deutete
er auf die Camel, die ich gerade auf den Boden geworfen
hatte.
»Haben Sie eine für
mich?«
»Sie rauchen, obwohl Sie
laufen?«
»Ich bin eben
vielseitig.«
Mit spitzen Fingern zog er eine
Zigarette aus der Schachtel. Dabei machte er weiterhin kleine
Schritte auf der Stelle. Er beugte sich über mein Feuerzeug. Sein
Gesicht war voller roter Flecken, die ihn gegen jede Regung zu
immunisieren schienen. Er verzog das Gesicht, als er den ersten Zug
nahm.
»Was wollen Sie wissen?«
»Ihre Meinung über Luc. Über
seinen psychischen Zustand. Verschlimmert er sich?«
»Das kann man noch nicht
sagen.«
»Hören Sie, Luc Soubeyras ist
mein bester Freund und …«
Er unterbrach mich mit einer
Geste.
»Wir machen es uns einfach. Sie
ersparen mir die sentimentale Leier, und ich verschone Sie mit
wissenschaftlichem Blabla. Dadurch gewinnen wir beide Zeit. Ich bin
sicher, dass Sie präzise Fragen im Kopf haben, Ihre kleinen
persönlichen Hypothesen.«
Er betrat den Asphaltweg, wobei
er weiterhin auf der Stelle lief. An diesem Morgen hatte er mich an
einen Boxtrainer erinnert. Heute Abend glich er dem Boxer
selbst.
»Ich glaube nicht, dass Luc
eine negative Nahtod-Erfahrung hatte«, begann ich. »Ich glaube,
dass er Opfer seiner Überzeugungen ist. Er hat sich freiwillig ins
Nichts gestürzt, um den Teufel zu ›sehen‹. Jetzt ist er überzeugt
davon, dass ihm das gelungen ist. Aber vielleicht ist er einfach
ein Opfer seiner übersteigerten Fantasie.«
»Das sehe ich anders.«
Zucca betrachtete seine rötlich
glimmende Camel im Wind und fuhr fort:
»Wir haben während der
Hypnose-Sitzung eine ganze Reihe körperlicher und psychischer
Parameter überwacht, ganz ähnlich wie bei einem Lügendetektortest.
Luc Soubeyras log nicht. Er erinnerte sich. Die Messergebnisse
waren eindeutig.«
»Vielleicht war er ehrlich. Er
hat geglaubt, diese …«
»Nein. Mithilfe der Elektroden
konnten wir seine Hirnstromwellen aufzeichnen. Es wäre zu
kompliziert, Ihnen das jetzt zu erklären, aber Luc hat sich
erinnert. Das steht außer Zweifel. Außerdem ist die Technik der
Hypnose zuverlässig. Man kann sie nicht austricksen. Luc hat sein
Gedächtnis sprechen lassen. Er hat seine Nahtod-Erfahrung wieder
erlebt.«
Ich hatte gehofft, in Zucca
einen Verbündeten zu finden – aber da hatte ich mich getäuscht. Ich
nahm eine neue Zigarette.
»Er hat also den Teufel
gesehen?«
»Auf jeden Fall hat er den
seltsamen Greis gesehen.«
»Wie erklären Sie aus
psychiatrischer Sicht eine solche Vision?«
Der Arzt runzelte die Stirn und
blieb stehen.
»Sind diese Informationen für
Ihre Ermittlungsarbeit wirklich von Belang? Geht es Ihnen nicht
eher um konkrete Tatsachen, Beweisstücke?«
»In dieser Sache gibt es keinen
Unterschied zwischen dem Konkreten und dem Mentalen, dem Realen und
dem Übersinnlichen. Ich will verstehen, was in Lucs Kopf
vorgegangen ist.«
Zucca ging normal weiter. Er
atmete langsamer.
»Psychologisch gesehen, sind
Nahtod-Erfahrungen etwas Alltägliches.«
»Negative Erfahrungen sind viel
seltener.«
»Richtig. Aber, egal ob sie
positiv oder negativ sind, wir wissen, was dabei geschieht.«
Ich erinnerte mich an die
wissenschaftlichen Ausführungen Beltreïns. Zucca sagte mehr oder
minder das Gleiche: Übererregung der Neuronen und Freisetzung
bestimmter Substanzen. Eigentlich interessierte ich mich nicht für
die Erklärung dieser Erfahrung.
»Aber die Visionen selbst?«,
hakte ich nach. »Wie erklären Sie diese Fantasiebilder? Weshalb
sieht man während der negativen Erfahrung immer einen …
Dämon?«
»Die Übererregung der
Nervenzellen fördert vielleicht das Auftreten von Bildern, die
unserem kollektiven Unbewussten entstammen. Altüberlieferte,
tiefverwurzelte kulturelle Figuren.«
»Eben. Da gibt es ein Problem.
Die Gestalt, die die betreffenden Personen wahrnehmen, sollte einem
Archetypus entsprechen. Also zum Beispiel das herkömmliche Aussehen
des Teufels haben, Hörner, Spitzbart, Gabelschwanz …«
»Ja.«
»Aber das ist nicht der Fall.
Wir haben es heute Morgen festgestellt. Und nach dem, was ich weiß,
›sieht‹ jeder Überlebende eine andere Person. Jeder begegnet seinem
eigenen Teufel. Wie erklären Sie das?«
»Ich kann es nicht erklären.
Und das lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.«
»Wieso?«
»Es hat den Anschein, als würde
sich Luc Soubeyras an etwas erinnern, was ihm tatsächlich
widerfahren ist. Kein Trugbild, keine stereotype Fantasie, sondern
eine echte Begegnung. Mit einer
einzigartigen Kreatur, einer Verkörperung des Bösen, die sich
niemand anderer hätte ausdenken können und die sich ihm in der
Vorhölle gezeigt hat.«
Das war der richtige Zeitpunkt,
um meine psychoanalytische Theorie zu unterbreiten:
»Ich habe mir eine Erklärung
für diese ›Begegnungen‹ ausgedacht.«
»Nur heraus damit«, sagte er
lächelnd. »Deshalb sind Sie doch hier.«
»Der Betreffende gibt dem
Besucher vielleicht das Gesicht oder das Aussehen einer Person aus
seiner Vergangenheit. Einer Person, die er hasst oder
fürchtet.«
»Und weiter?«
»Der Eindringling wäre also nur
ein Erinnerungsbild, das wieder abgerufen wird. Das Zerrbild einer
nahestehenden Person, die dem Betreffenden in seiner Kindheit etwas
angetan oder ihm schreckliche Angst eingeflößt hat. In der
Nahtod-Erfahrung tritt dann eine individuelle Figur auf, die halb
Erinnerung, halb Halluzination ist.«
Zucca nickte zustimmend, aber
mit einem ironischen Lächeln.
»Denken Sie an die Figur des
Vaters?«
»Ja. Aber ich habe mich bereits
über die Fälle, die ich kenne, kundig gemacht: Weder der Vater noch
jemand aus dem Umfeld der Zeugen ähnelt Ihrem ›Teufel‹.«
»Haben Sie noch eine
Zigarette?«
Die Flamme meines Zippo
züngelte in der Nacht. Zucca stieß einen weiteren Zug aus, machte
eine Pause und meinte dann:
»Ich glaube, dass die Wahrheit
einfacher ist. Einfacher und schrecklicher.«
Mit seiner Zigarette deutete er
auf den Pavillon 21 – wir waren einmal rund um das Gelände
gegangen.
»Bis zu einem gewissen Grad bin
ich mit Ihnen einverstanden. Das Aussehen des Teufels in diesen
Visionen hängt mit der Vergangenheit der Betreffenden zusammen. Da
bricht etwas Verschüttetes, Verborgenes hervor, das ist
unübersehbar. Es ist eine individuelle Darstellung des Bösen. Eine
subjektive Inszenierung einer Person aus der Vergangenheit. Aber
was die Natur des Regisseurs anlangt, bin ich nicht Ihrer
Meinung.«
»Was wollen Sie damit
sagen?«
»Für Sie ist all das nur eine
Produktion des Unbewussten, ein psychisches Trugbild, eine
geschlossene Schleife. Ich dagegen bin überzeugt, dass ein äußerer
Akteur eingreift.«
Ich erschauerte. Die Kälte, die
Dunkelheit – und meine Angst.
»Sie glauben also an einen
übernatürlichen Eingriff?«
»Ja.«
»Eher ungewöhnlich für einen
Psychiater.«
»Ein Psychiater ist kein
Ingenieur, der die Arbeitsweise des Gehirns mit chemischen
Vorgängen oder kognitiven Strukturen erklärt. Unser Gehirn ist ein
Empfänger. Eine Art Radio. Es empfängt Signale.«
Ich war gekommen, um Hilfe bei
einer rationalen Erklärung zu erhalten. Ich war ganz offensichtlich
auf dem Holzweg. Er fuhr in geändertem Tonfall fort:
»Ich glaube, dass durch die
Übererregung der Neuronen eine archaische Wahrnehmung reaktiviert
wird. Dass eine Tür zu einer Parallelwelt geöffnet wird, wenn Sie
so wollen. Verkürzt gesagt: eine Tür zum Jenseits.«
Ich war beklommen. Auch ich
glaubte an diese Tür. Sie war einer der Schlüssel des christlichen
Glaubens. Die Ekstase des Apostels Paulus auf dem Weg nach
Damaskus, die Erscheinungen des Franz von Assisi, die Visionen der
Teresa von Avila waren nichts anderes als ein Aufblitzen dieses
Jenseits.
Zucca fuhr fort:
»Luc hat sich dem Ende
genähert, oder? Könnte es nicht sein, dass sein Gehirn in einem
Zustand der ›Überempfänglichkeit‹ war und dass er einen flüchtigen
Blick auf die andere Welt geworfen hat?«
Die Worte sickerten in mein
Bewusstsein und entfalteten dort ihre ganze Bedeutung. Mir dämmerte
eine Wahrheit, die schlimmer war als alle anderen. Ich
antwortete:
»Verstehe ich Sie recht, dass
uns auf der anderen Seite des Lebens ein Dämon erwartet? Oder
vielmehr Personen, die uns zu Lebzeiten verhasst waren und die uns
im Tod auflauern, um uns in alle Ewigkeit zu peinigen?«
»Die Sitzung heute Morgen lässt
diesen Schluss zu, ja.«
»Wissen Sie überhaupt, wovon
Sie reden?«
Er starrte mich kalt an.
»Natürlich.«
»Sie sprechen von der
Hölle.«
»Von Anfang an hat niemand von
etwas anderem geredet.«