KAPITEL 63
Draußen war es jetzt stockfinster.
Ein unglaubliches Phänomen –
die Asche wirbelte durch die Luft und zeichnete großräumige Muster,
die sich sogleich wieder verflüchtigten. Der Duomo, die Kathedrale
von Catania, die ganz in der Nähe lag, war kaum zu sehen. Die
Einwohner von Catania hatten ihre Regenschirme aufgespannt, die
Autofahrer betätigten ihre Scheibenwischer – aber noch immer nicht
das geringste Anzeichen einer Panik.
Ich ging die Via Etnea hinauf
und fand mein Auto gerade noch rechtzeitig, bevor es ganz unter
Asche begraben war. Unwillkürlich sah ich zur Avenue hinauf. Auf
dem Gehsteig gegenüber, etwa fünfzig Meter entfernt, weckte eine
Gestalt, die durch die Asche in der Luft unscharf wurde, eine
Erinnerung. Ein hochgewachsener Mann in einem eng anliegenden
langen Ledermantel. Sein Gesicht erkannte ich nicht, aber seine
Glatze stach durch ihre Blässe hervor. Plötzlich wurde mir klar,
dass es einer der beiden Killer aus den Alpen war. Ich hatte seine
Gestalt auf der verschneiten Baustelle gesehen – derselbe Mantel,
die gleiche Schlankheit und die gleiche steife Haltung.
Ohne nachzudenken, überquerte
ich die breite Straße im Aschenhagel. Die Körner drangen mir in die
Augen, die Nasenlöcher und den Mund. Ich fühlte mich stark. Die
Menge war mit mir, der Sturm war mit mir. Der Killer hatte keine
Handlungsfreiheit. Außerdem steckte mir die Demütigung der
Verfolgungsjagd zwei Tage zuvor noch immer in den Knochen und
erfüllte mich mit einem vagen Wunsch nach Rache. Ich sah mich
wieder, gegen die Bausteine gepresst, wie ein Tier in einer Falle.
Ich hatte noch eine Rechnung offen. Eine Rechnung gegen mich.
Der Mann wich zurück und machte
dann kehrt. Ich ging schneller. Ich wich den Schirmen, den Besen
und den Rußböen aus. Ich schlängelte mich zwischen den Passanten
durch, lief mit kurzen Schritten und stellte mich auf die
Zehenspitzen, um meine Beute auszumachen.
Der Aschenregen hörte nicht
auf. Fassaden, Auslagen, Gehsteige: Noch der kleinste Winkel der
Avenue war gesprenkelt wie ein grobkörniges Foto in einer Zeitung.
Unmerklich schien alles unter meinen Augen zu entschwinden und sich
aufzulösen.
Der Schatten war verschwunden.
Ich beschirmte meine Augen mit beiden Händen. Niemand. Ich lief
aufs Geratewohl los, wobei ich immer mehr Vulkanasche schluckte.
Heiße Luft, die die Atemwege versengte und die Lungen blähte.
Rechts eine Gasse. Instinktiv ging ich hinein – wobei mir irgendwie
im Hinterkopf dämmerte, dass ich mich von der Menge entfernte und
keine Waffe bei mir hatte.
Fünfzig Meter, um zu bemerken,
dass ich mich in einer Sackgasse befand. Hundert Meter, um zu
kapieren, dass ich in eine Falle ging. Kein Mensch in der Gasse,
kein Händler in Sicht. Mülleimer und Autos, die als Zeugen
abgestellt waren. Ich blieb stehen.
Während ich zurückwich, trat
der Killer aus einem Vorbau heraus. Die Schöße seines Ledermantels
bildeten zwei schräge Linien zum Boden. Ich machte kehrt. Auf der
anderen Seite versperrte mir der zweite Killer den Weg. So breit
und so groß, dass seine ausgebreiteten Arme die Hauswände der
Sackgasse zu berühren schienen. Er trug den gleichen schwarzen
Mantel, aber in der Größe eines Fallschirms. Weder der eine noch
der andere hatte ein Gesicht. Nur eine graue, staubbedeckte Maske.
Ich dachte an lebendige Töpfererde, von Maden wimmelnde Fratzen.
Und tief, tief in meinem Hinterkopf sagte ich mir: »Ich kenne diese
beiden Männer. Ich habe sie schon irgendwo
anders gesehen.«
Ich drehte mich abermals um. In
der behandschuhten Hand des glatzköpfigen Killers zeichnete sich
eine Automatik ab, halb Stahl, halb Inox, mit einem Schalldämpfer
versehen. Bevor ich irgendwie reagieren konnte, drückte der Mann
auf den Abzug. Nichts geschah. Kein Mündungsfeuer, keine
Detonation, kein Verschluss, der betätigt wurde. NICHTS.
Die Asche. Sie hatte die
Pistole blockiert! Ich drehte mich um und schlug mit beiden Fäusten
blindlings zu. Der Fettwanst hatte ebenfalls eine Waffe gezogen.
Unter der Wucht des Schlags ließ er sie fallen. Ich brachte ihn
durch einen weiteren Schlag gegen die Schulter zum Torkeln und lief
auf die sich verschwommen abzeichnende Hauptstraße zu.
Ich war in Panik, aber nicht so
sehr, dass ich die Orientierung verloren hätte. Innerhalb weniger
Sekunden war ich an meinem Wagen. Die Fernbedienung versagte. Der
Staub hatte den Signalempfänger überzogen. Ich unterdrückte einen
Fluch, den Mund voller Sand. Ich spielte mit dem Schlüssel, bekam
ihn aber nicht ins Schloss. Überall Ruß. Die Sekunden brannten. Mit
einem letzten Rest von Kaltblütigkeit kniete ich mich hin und blies
sachte, ganz sachte ins Schloss.
Der Schlüssel glitt hinein. Ich
stieg in meinen Fiat Punto. Zündschlüssel. Die Reifen drehten einen
Moment lang durch, dann schoss ich auf die Fahrbahn. Zwei
Abzweigungen, und ich war weg.
Im Nirgendwo, aber am
Leben.
Wieder einmal.
Der Flughafen von Catania war
seit dem Vortag geschlossen. Um nach Rom zu gelangen, musste ich
von der nächsten größeren Stadt abfliegen. Blick auf meine Karte.
Ich konnte in gut zwei Stunden in Palermo sein. Mit etwas Glück
würde ich dort ein Flugzeug erwischen.
Während ich aus der Stadt
hinausfuhr, rief ich beim Flughafen von Palermo an: Ein Flug ging
um 18.40 Uhr nach Rom. Es war 15.30 Uhr. Ich reservierte einen
Platz und legte dann auf. Ich rieb mir die Augen, schnäuzte mich
und spuckte aus. Ich hatte das Gefühl, dass mir der Staub noch in
den innersten Winkeln meines Körpers klebte.
Ich fuhr und fuhr. Ich kam um
16.30 Uhr an Enna vorbei, dann an Catanisseta, Resuttano,
Caltavuturo. Um 17 Uhr fuhr ich am Tyrrhenischen Meer entlang,
vorbei an Bagheri. Um 18 Uhr näherte ich mich dem Flughafen Palermo
Punta Raisi. Die Regeln respektieren. Ich gab meinen Wagen bei der
Zweigstelle der Autovermietung ab und begab mich dann zum
Abfertigungsschalter. Um 18.30 Uhr reichte ich der Stewardess meine
Bordkarte. Ich sah aus wie ein Gespenst, Sand in jeder Falte meines
Mantels, Tasche in der Hand und Akte an die Brust gepresst.
Erst als ich auf meinem Sitz in
der Ersten Klasse saß und der Steward mir ein Glas Champagner
anbot, entspannte ich mich. Nun sah ich den Tatsachen geradewegs
ins Auge: Aus irgendeinem unbekannten Grund stand ich auf einer
Todesliste. Ich ermittelte in einem Fall, der offenbar so brisant
war, dass man mich ausschalten wollte. Aber um welchen Fall
handelte es sich? Den von Sylvie Simonis oder den von Agostina
Gedda? Bestand zwischen beiden eine Verbindung? Ging es bei diesen
Morden letztlich um viel mehr?
Ich dachte an meinen Besuch in
Malaspina. Meine Meinung über den Geisteszustand von Agostina stand
fest. Eine Schizophrene, wie sie im Buche stand, reif für die
Klapse. Ich war weder Psychiater noch Dämonologe, aber die junge
Frau litt an einer Persönlichkeitsspaltung und musste intensiv
behandelt werden. Weshalb war sie nicht in eine geschlossene
Anstalt eingewiesen worden? War es den Anwälten der Kurie lieber,
sie in Malaspina unter Beobachtung zu halten?
Den Experten der Kirche ging es
nicht darum, sie zu heilen. Es ging ihnen auch nicht darum, die
bestmögliche Verteidigung vor Gericht für sie zu organisieren.
Niemand im Vatikan scherte sich um das weltliche Gesetz der
Menschen. Sie wollten lediglich verstehen, wie eine Frau, die von
Gott auf wundersame Weise geheilt worden war, in die Gewalt des
Teufels geraten konnte. Oder vielmehr, um es genauer zu sagen,
herauszufinden, ob es möglich war, dass ein Mensch durch den Teufel
von einer Krankheit geheilt wurde. Was darauf hinauslief, die
Existenz Satans zu beweisen.
Gewiss, bei meinem Besuch
hatten sich unerklärliche Dinge ereignet. Der widerliche Gestank,
die plötzliche Kälte. Ich hatte die Anwesenheit des Anderen gespürt
… Aber ich war vielleicht der Spielball meiner
Einbildungskraft.
Schließlich konnte der Geruch
auch von Agostina selbst stammen. Ihre physiologischen Funktionen
konnten unter dem Einfluss ihrer Geistesstörung erheblich gestört
sein. Und die Kälte? Ich war in dem Besuchszimmer derart verstört
gewesen, dass es nicht verwunderlich gewesen wäre, wenn mir kalte
Schauer über den Rücken gelaufen wären.
Ich schüttelte den Kopf: Nein,
in dieser Zelle war keine fremde Macht anwesend gewesen. Der Fürst
der Finsternis hatte sich nicht zu der Vernehmung eingeladen. Ich
hatte nur einen Feind, immer denselben: den Aberglauben. Man musste
diese verborgenen Überzeugungen, die unwillkürlich immer wieder an
die Oberfläche kamen, bekämpfen. Für Satan war in der katholischen
Glaubenslehre kein Platz, und ich glaubte nicht an ihn.
Ich ließ meinen Blick über die
Wolken wandern. Ein Satz hallte in meinem Kopf wider. LEX EST QUOD
FACIMUS. Gesetz ist, was wir tun. Was hatte Agostina damit gemeint?
Wer war dieses »wir«, in dessen Namen sie sprach? Die Heerschar der
Besessenen? Und was war dieses »Gesetz«? Vielleicht war damit die
Regel des Teufels gemeint, wonach alles erlaubt ist. Gesetz ist,
was wir tun.
Ich wiederholte diese Silben
innerlich immer wieder, als würde ich eine Sure rezitieren, bis mir
die Litanei ihr Geheimnis verriet. Stattdessen schlummerte ich ein,
ohne das Aufsetzen auf der Landebahn zu bemerken.