KAPITEL 111
Ein Gang.
Vollkommen schwarz.
Ich tastete mich in die
Dunkelheit vor, die Gedanken standen still. Durch die halb
geöffnete Tür hinter mir dröhnte das Rauschen des Wassers. Ich
begriff sofort, dass ich nicht in irgendeinem Abstellraum, einer
Garage oder einem Hangar war. Ich befand mich in einem Heiligtum.
Einem Ort aus Beton und Stille, wo die schlimmsten Geheimnisse
gehütet wurden.
Meine Augen passten sich an die
Dunkelheit an. Eine weitere Tür am Ende des Gangs. Bei jedem
Schritt rutschte mir das Herz ein Stück tiefer in die Hose. Hitze
schlug mir entgegen. Eine klamme Schwüle, die nicht zur Jahreszeit
passte. Da war auch ein Geruch, den ich sogleich erkannte.
Rohes Fleisch.
Fleisch mit einem
Hautgout.
Endlich war ich da. In der
Höhle des »Höllengasts«. Ich ging weiter. Kein Geräusch mehr bis
auf das Surren eines Dampfkessels oder eines Belüftungssystems. Die
Hitze nahm zu. Direkt vor mir eine Tür. Der Albtraum erwartete mich
auf der anderen Seite. Diese Gewissheit – ein stummer Schrei in
meinem Kopf – betäubte mich sogleich. Die Hand auf der Klinke, war
ich vollkommen ruhig, wie losgelöst von der Wirklichkeit.
Die Tür ging widerstandslos
auf. Alles war zu einfach. Wie aus großer Ferne ertönte in mir eine
Alarmglocke: Diese Mühelosigkeit deutete auf eine Falle hin, der
Schraubstock, der sich unmerklich um mich schloss. Beltreïn war da
– und erwartete mich. »NUR DU UND ICH.«
Der Raum war in völliges Dunkel
getaucht. Ich zog die Taschenlampe aus der Tasche und schaltete sie
an. Ich erwartete Insektenkästen, ein Treibhaus voller Flechten.
Doch es war nur ein digitales Fotolabor. Gehäuse, Objektive,
Scanner, Drucker.
Ich näherte mich einem Brett,
das auf Böcken lag: Eine Vielzahl ungeordneter Abzüge. Ich legte
die Taschenlampe hin, steckte meine Waffe weg und streife die
Latexhandschuhe über. Ich griff wieder nach meiner Streamlight und
richtete sie auf die Abzüge. Bilder, die ich kannte. Das entstellte
Gesicht von Sylvie Simonis. Ihr von Maden und Mücken zerfressener
Körper. Nur dass die Frau auf diesen Bildern noch lebte …
Das Zittern bezwingend, wandte
ich mich den anderen Fotos zu. Ein verwesender Mann, dessen Gesicht
nur noch ein weit aufgerissener Mund ist. Salvatore Gedda. Weitere
Abzüge. Ein alter Mann im Todeskampf, dessen grünliches Fleisch
unter dem Druck der Fäulnisgase Blasen warf. Zweifellos der Vater
von Raimo.
Weitere Gesichter, weitere
Körper. Und jeder einzelne eine Bestätigung. Seit Jahren schon
schlug Beltreïn überall in Europa zu, wobei er die Chancen nutzte,
die ihm sein Fachgebiet eröffnete. Er manipulierte das Unbewusste
von Wiederbelebten und marterte und tötete auf bestialische Weise
Opfer, die er für schuldig befunden hatte. Er rächte die Lichtlosen
im Namen des Teufels.
Ich würde mir wünschen, dass
dies ein historischer Moment wäre.
Dass die ganze Welt Bescheid
wüsste.
Freitag, 15. November 2002, 20
Uhr, Commandant Durey identifiziert am Hang des Mont Gantrish einen
der gerissensten Serienmörder des beginnenden Jahrhunderts.
Aber nein.
Niemand wusste, dass ich hier
war.
Niemand ahnte auch nur etwas
von der Existenz dieses einzigartigen Mörders.
Ich blickte auf. Vor mir eine
weitere Tür, schwarz gestrichen. Die Suite der Hölle. Ich ging um
den Tisch herum. Der Geruch von verfaultem Fleisch, der immer
durchdringender wurde. Und immer wieder der alarmierende Gedanke:
Beltreïn ist ganz in der Nähe.
Es war eine abgedichtete
Brandschutztür. Ich atmete tief ein, drückte die Tür auf und betrat
den angrenzenden Raum. Ich ging in eine Falle, das stand außer
Zweifel. Aber es war zu spät, um zurückzuweichen. Ich war
hypnotisiert, wie berauscht von der Gewissheit, dass der Moment der
Wahrheit, die endgültige Auflösung unmittelbar bevorstand.
Der Gestank von verwesendem
Fleisch war hier unerträglich. Ich atmete nur noch durch den Mund.
Es war ein schwach beleuchteter großer rechteckiger Raum, an dessen
beiden Seitenwänden mit Gaze bespannte Kästen standen – genau wie
bei Plinkh. Die Decke und der obere Teil der Wände waren mit durch
Glaswolle ausgepolstertem Packpapier überzogen. Die Hitze war
drückend, gesättigt vom Verwesungsgestank. Große Luftbefeuchter
standen in jeder Ecke des Raums.
Die Fotos an der hinteren Wand
gehörten zu der gleichen Sammlung wie die im Vorzimmer. Ich näherte
mich. Zerfressene Gesichter, von Maden wimmelndes Fleisch, eitrige
Wunden. Aber auch aus Lehrbüchern der Rechtsmedizin und der
Anatomie ausgeschnittene Bilder. Radierungen, Bildtafeln von
Raubinsekten, die mit der Feder gezeichnet waren. Alles war genau
so wie bei Plinkh, nur barbarischer und krimineller.
Auf einem Arbeitstisch in der
Mitte des Raums standen Goldfischgläser und Aquarien, die mit
Tüchern und Müllsäcken bedeckt waren. Ich wagte mir nicht
auszumalen, was sich darunter befand – die Nahrung für die
Heerscharen Beltreïns.
Ich konzentrierte mich auf
meine Rolle als Polizist. Ich war Commandant Durey. Ich war
dienstlich hier, und ich musste diesen Raum ordnungsgemäß
durchsuchen. Mir konnte nichts geschehen.
Ich hob die Tücher an und
betrachtete das Innere der Glasgefäße. Ein abgeschnittener Penis,
Augen, in Formaldehyd schwebend. Ein Herz, eine Leber,
kastanienbraun, kaum sichtbar in einer bernsteinfarbenen
Flüssigkeit.
Diese menschlichen Überreste
stammten nicht von den Mordopfern, das wusste ich. Der Mediziner
war auch ein Leichenfledderer. Ein Grabschänder. Aufgrund seiner
beruflichen Stellung hatte er Zugang zu den Listen der Menschen,
die nicht nur in seiner Klinik, sondern in Lausanne und der Region
verstorben waren. Grub er selbst die Leichen aus, um seine Schwärme
damit zu füttern? Ich dachte an die Schweizer Familien, die in
stillem Gedenken vor leeren Gräbern verharrten.
»Ich könnte sie mit
Tierkadavern füttern, aber das würde dem Genius Loci nicht
entsprechen.«
Ich drehte mich um. Moritz
Beltreïn stand in der Tür. Er trug einen offenen schmutzigen Kittel
über einem Fleece-Pullover und hatte beide Hände in die Taschen
seiner Jeans gesteckt. Er sah aus wie ein Doktorand in seinen
Stan-Smith-Sportschuhen. Mit seinem langen Pony und seinen großen
Brillengläsern sah er ulkiger aus denn je.
Die Glock auf ihn richtend,
forderte ich ihn auf:
»Nehmen Sie langsam die Hände
aus den Taschen.«
Lässig leistete er der
Aufforderung Folge. Plötzlich schrie ich:
»Warum?« Mit weit aufgerissenen
Augen blickte ich mich um. »Warum das alles? Diese Toten? Dieses
Foltern? Diese Insekten?«
»Deine Ermittlungsarbeit war
einzigartig, Mat. Sie betraf die fundamentale Frage.«
»Den Teufel?«
»Den Tod. Im Grunde genommen
sprechen die Polizisten, die Richter und Anwälte nie über die
Hauptsache, das wichtigste Thema: die Toten. Was denken sie über
die Morde, die ihr tägliches Brot sind? Was würden sie tun, wenn
sie sich rächen könnten?«
In seinen Brillengläsern
spiegelten sich die grünen Kästen, sodass seine Augen nicht zu
erkennen waren. Er war zum Du übergegangen, was angemessen war,
denn schließlich verband uns eine intime Feindschaft.
»Dank dem Meister«, fuhr er
fort, »haben die Toten zum ersten Mal das Wort. Eine zweite Chance.
Ich helfe ihnen, zurückzukehren und sich für die Grausamkeit der
Lebenden zu rächen.«
Ich wollte losschreien.
Beltreïn sprach noch immer so, als würden die Lichtlosen die ihnen
zur Last gelegten Verbrechen selbst begehen. Ich wollte mich nicht
von ihm einwickeln lassen. Ich atmete tief durch und versetzte dann
in ruhigerem Ton:
»Sie haben Sylvie Simonis,
Salvatore Gedda und Arturas Rihiimäki getötet. Und viele weitere
Menschen.«
»Du hast nichts kapiert,
Mathieu. Ich habe niemanden getötet.« Er breitete die Hände aus,
wie um seine Unschuld zu unterstreichen. »Ich bin nur ein
Lieferant, ein Mittelsmann, wenn du willst. Ich liefere lediglich
die … Rohstoffe.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
Endlich hatte ich den Mörder, den Wahnsinnigen, den »Höllengast«
gefunden – und der Schwachkopf wollte mir noch immer weismachen,
die Lichtlosen hätten die Morde selbst begangen.
»Ich weiß alles«, stieß ich
zwischen den Zähnen hervor. »Dass Sie die Reanimierten einer
Gehirnwäsche unterziehen. Ihre Methode, um eine Nahtod-Erfahrung
vorzutäuschen. Dass Sie dabei auf Suggestion, die Droge Iboga und
vermutlich weitere Substanzen setzen. Sie haben diese Menschen
manipuliert. Sie haben ihnen weisgemacht, sie hätten den Teufel
gesehen. Sie haben ihre Erinnerungen verfälscht. Sie haben ihnen
eingeredet, sie wären die Mörder. Aber Sie und niemand anders haben
gefoltert und gemordet. Sie erschaffen die Lichtlosen. Sie fädeln
ihre Rache ein. Sie verbreiten Tod und Verderben!«
»Ich bin enttäuscht, Mathieu.
Du bist bis zu mir vorgedrungen, und trotzdem entgeht dir noch ein
großer Teil der Wahrheit. Weil du die Augen vor den Tatsachen
verschließt. Der Macht Satans. Er allein hat sie gerettet, und sie
haben sich anschließend gerächt. Eines Tages wird ein Buch über die
Lichtlosen geschrieben werden.«
Ich war enttäuscht. Aber ich
durfte von diesem Mörder keine vernünftigen Ausführungen erwarten.
Beltreïn war ein Gefangener seines Wahns. Es würde genügen, um
seine Schuldunfähigkeit nachzuweisen und seine lebenslängliche
Sicherungsverwahrung anzuordnen. Ich dachte an die zuckenden Körper
der Gefolterten, an den kastrierten Leichnam Sarrazins, an den
progressiven Wahnsinn Lucs – und spannte den Hahn meiner
Pistole.
»Es ist vorbei, Beltreïn. Ich
bin das Ende der Geschichte.«
»Nichts ist vorbei, Mathieu.
Die Kette geht weiter. Mit mir oder ohne mich.«
Eine Vibration am Körper. Mein
Handy. Ich bin wie gelähmt. Der Arzt lächelt.
»Geh ran. Ich bin sicher, dass
dich dieser Anruf interessieren wird.«
Seine selbstbewusste Stimme
erschrak mich. Dieser Anruf schien zu einem Plan zu gehören, der
vor langer Zeit ausgeheckt worden war. Ich dachte an Manon. Ich
tastete in meiner Tasche nach meinem Handy. Foucault:
»Wo bist du?«
»In der Schweiz.«
»In der Schweiz, was treibst du
eigentlich?«
Irgendetwas an der Stimme
meines Stellvertreters war seltsam. Es musste etwas passiert
sein.
»Was ist los?«
Foucault antwortete nicht. Sein
Keuchen im Hörer. Als würde er ein Schluchzen unterdrücken. Ich
ließ Beltreïn nicht aus den Augen, ich hatte die Pistole noch immer
auf ihn gerichtet.
»Was ist los, verdammt?«
»Laure ist tot, Mann. Laure und
ihre beiden Töchter.«
Das Zimmer drehte sich um mich.
Ich hatte das Gefühl, dass alles Blut auf einen Schlag aus meinem
Körper entwich. Beltreïn lächelte mich unter seinem Pony und mit
seiner Brille noch immer an. Ich lehnte mich gegen den Arbeitstisch
und berührte eines der Einmachgläser. Ruckartig zog ich die Finger
zurück.
»Was … was sagst du da?«
»Die Kehle durchgeschnitten.
Alle drei. Ich bin in ihrer Wohnung. Alle sind da.«
»Wann ist das passiert?«
»Nach den ersten Untersuchungen
vor einer Stunde.«
Meine Augen füllten sich mit
Tränen. Ich konnte nicht mehr klar sehen und keinen klaren Gedanken
mehr fassen. Aber etwas dämmerte mir schon: Beltreïn konnte nicht
der Täter sein. Ich fand die Kraft zu fragen:
»Seid ihr sicher?«
»Vollkommen sicher. Die Leichen
sind noch warm.«
Kein Verdächtiger für dieses
neue Gemetzel. Keine Erklärung für diese fürchterliche Gräueltat.
Dann, wie ein Gift, die Stimme Lucs: »Manon,
sie wird sich rächen.« Plötzlich erinnerte ich mich. Luc hatte
mich gebeten, seine Familie zu beschützen, und ich hatte keinen
Finger gerührt. Seine Bitte war mir völlig entfallen. Meine Stimme
zitterte:
»Wo ist Manon?«
»Auf freiem Fuß. Sie wurde vor
fünf Stunden freigelassen.«
»Mist, ich hatte dir doch
gesagt …«
»Du kapierst nicht: Als du mich
angerufen hast, war sie schon weg.«
»Und du weißt nicht, wo sie
ist?«
»Niemand weiß es. Es läuft eine
Großfahndung nach ihr.«
»Wieso?«
»Mat, du raffst es nicht.
Während ihres Polizeigewahrsams ist Manon verrückt, hysterisch
geworden. Sie hat geschworen, dass sie sich an Luc rächen wird.
Dass sie seine Familie auslöschen wird. Wir haben ihre
Fingerabdrücke überall in der Wohnung gefunden.«
»WAS?«
»Herrgott, wach endlich auf!
Sie hat sie umgebracht! Alle drei. Sie ist ein Monster! Ein
verdammtes Monster in Freiheit!«
Ein langer freier Fall. Und
Beltreïn, der immer noch lächelte. Die Silhouette seines stämmigen
Körpers hinter dem Schleier meiner Tränen. Ein Wirbel riss mich
fort und sog mich an. Das Böse war ein Mangel an Licht. Dieser
Mangel verschluckte mich jetzt wie ein riesiges schwarzes Loch
…
Ich verlor das Bewusstsein. Für
den Bruchteil einer Sekunde. Und fing mich gleich wieder. Beltreïn
war nicht mehr da. Reflexartig steckte ich mein Handy ein und hielt
die Waffe im Anschlag. Hinter mir ertönte eine Stimme:
»Glaubst du’s jetzt?«
Ich drehte mich um. Beltreïn
stand vor der rückwärtigen Wand zwischen den Horrorfotos. In seiner
Hand eine riesige Automatik: Ein Colt vom Kaliber.44.
Das war nicht weiter
schlimm.
Jetzt war gar nichts mehr
schlimm.
Wir würden zusammen
sterben.
»Manon hat sie umgebracht,
nicht wahr?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Sie hat sich gerächt.
Ich habe einen solchen Anruf erwartet.«
»Das ist unmöglich. Sie war in
Polizeigewahrsam …«
»Nein. Und du weißt es. Es ist
an der Zeit, dass du der Wahrheit ins Auge siehst.«
Ich wusste nicht, was ich
darauf erwidern sollte. Ich konnte nicht mehr denken. Mein Gehirn
war eingefroren.
»Sie ist Sein Geschöpf«, fuhr
er fort. »Nichts kann sie jetzt mehr aufhalten. Sie ist frei.
Vollkommen frei. ›Gesetz ist, was wir
tun.‹«
Ich stieß eine Art Röcheln aus,
halb Lachen, halb Schluchzen.
»Was haben Sie ihr angetan? Was
haben Sie ihr eingeflößt?«
Hinter seiner großen Brille
gefror sein Lächeln zu einer trügerischen, bösartigen Fratze.
»Ich habe ihr gar nichts getan.
Ich habe ihr nicht einmal das Leben gerettet.«
»Und Ihre Maschine?«
»Du klebst an deiner Logik,
Mathieu. Du hast nie über deine Überzeugungen hinausgeblickt. Manon
wurde vom Teufel gerettet. Wenn man dir gesagt hätte, dass sie von
Gott gerettet worden wäre, hättest du die Augen zugemacht und das
Vaterunser aufgesagt.«
Ich wollte »Nein!« schreien,
aber aus meiner Kehle kam kein Ton. Schließlich wurde mir unser
beider baldiges Ende bewusst: Wir würden uns gegenseitig
erschießen. Aber meine Gleichgültigkeit schwand bereits: Ich durfte
nicht sterben. Die Ermittlungen waren nicht abgeschlossen. Ich
musste Manon aus diesem Albtraum herausreißen. Ihre Unschuld
beweisen. Ich musste aufwachen und dieses Schwein erledigen.
»Du suchst einen Mörder aus
Fleisch und Blut«, fuhr er fort. »Du wolltest bei deinen
Ermittlungen nie wahrhaben, worum es eigentlich geht. Dein einziger
Feind ist unser Gebieter. Er ist da, vergraben in jedem von uns. Es
ist ohne große Bedeutung, wer tötet oder wer getötet wird. Was
zählt, ist die Demonstration Seiner Macht, die das geheime
Räderwerk des Kosmos offenbart. Die Lichtlosen sind Leuchtfeuer,
Mathieu. Ich bin ihnen nur behilflich. Ich erwarte sie am Ausgang
der Schlucht. Sie interessieren mich eigentlich nicht. Was mich
interessiert, ist das schwarze Licht, das in der Tiefe ihrer Seele
funkelt. Satan hinter ihren Taten!«
Ich wollte mir seine Wahnideen
nicht länger anhören. Wenn Beltreïn in der Schweiz war, wer hatte
dann Laure und ihre Töchter getötet? Die Geschichte war noch nicht
zu Ende. Die Ermittlungen waren nicht abgeschlossen …
»Und eines darfst du nie
vergessen, Mathieu: Manon Simonis ist die Schlimmste von
allen.«
»Ich will das nicht hören!«,
sagte ich, während ich auf ihn zuging. »Du bist der einzige Mörder
in diesem ganzen Fall! Du hast sie umgebracht. Alle!«
Statt zu antworten, hob er die
Waffe und drückte auf den Abzug. Aber ich war schon über ihm. Meine
Schulter lenkte seinen Schuss ab. Ein Einweckglas zerbarst hinter
mir. Organe fielen zu meinen Füßen, während ich meinerseits
feuerte. Beltreïn packte mein Handgelenk unter einem gellenden
Schrei. Meine Kugel verirrte sich zwischen den Käfigen. Ich drückte
meinen Kolben gegen seine Kehle und blockierte seinen bewaffneten
Arm mit meiner rechten Schulter. Ich spürte wieder den Schmerz
meiner Verletzung. Wir stießen gegen den Arbeitstisch.
Einmachgläser fielen zu Boden. Wir wateten in Formalin und zwischen
Organen. Beltreïn entfernte sich vom Tisch. Ich klammerte mich an
ihn, damit er nicht genügend Abstand bekam, um zu schießen. Wir
drehten uns gemeinsam im Kreis, bis wir gegen die Kästen prallten
und dann ein weiteres Mal gegen die Kante des gekachelten
Arbeitstischs.
Beltreïn rutschte aus. Ich fiel
zusammen mit ihm. Wir wälzten uns zwischen Organen und Scherben in
dem zähflüssigen Formalin. Er schoss zwei Mal schräg auf meinen
Hals. Daneben. Ein Regen aus Glassplittern, Fleischstücken und
kalten Flüssigkeiten ergoss sich auf uns. Als ich im Nacken
klebrige menschliche Körperteile spürte, stieß ich einen Schrei
aus, ohne locker zu lassen – Beltreïn hörte nicht auf zu kreischen.
Erneutes Knallen. Ich wusste nicht einmal mehr, wer schoss. Wir
waren ineinander verhakt und schlugen mit Armen und Beinen wild um
uns, während wir uns in der ekligen Pfütze wälzten.
Ich fiel auf den Rücken.
Beltreïn stürzte sich mit wild gebleckten Zähnen auf mich – seine
große Brille war verrutscht und hing jetzt schräg in seinem
Gesicht. Ich schleuderte ihn nach hinten. Ein Kasten stürzte
zwischen uns zu Boden. Hinter der Gaze und den Fliegen nahm mich
Beltreïn wieder aufs Korn.
Ich zog meine Beine an und trat
dann mit voller Wucht gegen Scherben des Kastens. Der Irre drückte
auf den Abzug – der Holzrahmen lenkte seine Hand ab, sodass die
Kugel wieder danebenging. Inmitten der schwirrenden Fliegen stieß
Beltreïn die Bruchstücke zur Seite. Ich ließ mich unter den
Arbeitstisch rollen. Hunderte von Maden krochen über meine Hände
und schlüpften in meine Ärmel.
Das heisere Schnaufen
Beltreïns, ganz nahe. Knurrend und lachend, beugte er sich nach
unten, um mich ausfindig zu machen. Unter dem Tisch sah ich nur
noch seine Beine. Meine Waffe war mir entglitten. Ich erblickte die
Scherbe einer Flasche. Ich packte sie und rammte sie dem Mörder
knochentief in die Wade. Das Monster stieß einen gellenden Schrei
aus. Ich ließ die Scherbe los und kroch zur anderen Seite des
Arbeitstischs.
Die Schreie Beltreïns hallten
im Raum wider. Ich hatte jegliche Orientierung verloren. Ich sah
nichts mehr, nur noch Gaze, Organe und Maden. Mein Gegner brüllte
noch immer und humpelte, sein blutverschmiertes Bein
nachschleppend, um den Arbeitstisch herum. Ich wälzte mich unter
den Tisch und versuchte auf der anderen Seite herauszukriechen. Ich
stützte mich auf den Fliesen ab und stand wieder auf. Beltreïn war
ein paar Meter entfernt. Er suchte nicht mehr nach mir. Von Mücken
umschwärmt, schlug er wild um sich, wobei er seine Waffe als
Fliegenwedel benutzte.
Ich ging durch die schwirrende
Wolke hindurch, um den Tisch herum und packte seinen dicken
Schädel. Ich schlug ihn mehrfach gegen die Tischkante. Seine Brille
fiel herunter. Die Insekten fielen sofort über seine Augen her,
aber sie gingen auch auf mich los. Ich sah nichts mehr. Ich hatte
nur diesen Kopf in meinen Händen und hörte das nervenaufreibende
Gewimmer des Monsters. Der Irre wehrte sich noch immer. Wir fielen
zusammen hin. Er war auf mir, mit blutverschmiertem Gesicht, das
von Insekten überzogen war. Unglaublicherweise hielt er noch immer
seine Waffe in der Hand. Ich tastete aufs Geratewohl den Boden ab
und fand einen ausgerissenen Holzstab, der von einem der
zertrümmerten Kästen stammte. Von Fliegen umschwirrt schloss ich
die Augen, streckte den Arm aus und betastete sein Gesicht. Ich
suchte die empfindliche Stelle an seiner Schläfe, dort, wo der
Schädelknochen auch beim Erwachsenen noch so weich ist wie bei
einem Neugeborenen. Ich rammte den Stab an dieser Stelle tief in
den Schädel. Ich wich zurück und öffnete die Augen. Die Fliegen
ließen bereits von mir ab. Sie wuselten an der rosa Hirnmasse
Beltreïns, die aus dem Loch in seinem Schädel hervorquoll wie Eiter
aus einem angestochenen Abszess.