KAPITEL 21
Auf der Avenue de la Porte-de-Vincennes entdeckte
ich das Motorrad Doudous.
Ein Sammlerstück – eine Yamaha
mit 500 ccm, Moto-Cross-Ausführung. Ich ging zu der Maschine und
zog mein Handy heraus.
Ich wählte die Nummer der
Zeitansage und klemmte das Gerät dann zwischen den Motorradsitz und
das erhöhte Schutzblech.
Ich wartete gute fünf Minuten,
ehe die Menge aus der unterirdischen Kapelle herauskam. Ich setzte
eine dem Anlass entsprechende Miene auf und kehrte zur Truppe
zurück, wobei ich nach Laure Ausschau hielt. Sie wurde förmlich
überhäuft mit Grüßen und wohlwollenden Gesten. Ich mischte mich
unter die Schwarzmäntel und flüsterte ihr ins Ohr:
»Ich ruf dich gleich an.«
Schon ging ich wieder zurück,
wobei ich im Vorübergehen Foucault an seiner Jacke zupfte:
»Kannst du mir dein Handy
borgen?«
Ohne Fragen zu stellen, reichte
er es mir. Doudou, der mittlerweile bei seinem Motorrad stand, zog
seinen Sturzhelm über.
»Danke. Ich gebe es dir heute
Mittag in der Firma wieder.«
»Erst am Mittag? Aber …«
»Tut mir leid. Ich hab meines
vergessen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten,
lief ich zu meinem Audi A3, den ich fünfzig Meter von hier, in
einer Seitenstraße, abgestellt hatte. Ich drehte den Zündschlüssel
um, während Doudou mit dem Absatz den Kickstarter durchdrückte.
Während ich den ersten Gang einlegte, wählte ich eine Nummer, die
ich auswendig kannte.
»Durey, Mordkommission. Wer hat
Bereitschaftsdienst?«
»Estreda.«
Glücklicher Zufall: einer der
Techniker, die ich am besten kannte.
»Geben Sie ihn mir.«
Doudou war soeben im
Verkehrsgewühl verschwunden. Ich scherte aus und bremste, bevor ich
mich in den Verkehr einfädelte. Ich hörte den Akzent von
Estreda:
»Durey.«
»Wie geht’s?«
»Mein Handy wurde mir
geklaut.«
»Na, Glückwunsch.«
»Kannst du es für mich
orten?«
»Wenn dein Typ telefoniert,
geht das problemlos.«
Seit Kurzem war es möglich,
anhand der Funksignale eines Handys seinen Standort zu ermitteln,
sofern es eingeschaltet war. Das Prinzip war einfach. Man
identifizierte die Funkzelle, mit der sich das Telefon verband. In
den Städten gab es immer mehrere dieser Zellen, und ihre Reichweite
beschränkte sich auf zwei- bis dreihundert Meter.
Diese Technik war von privaten
Speditionsfirmen eingeführt worden, die damit die Bewegung ihrer
LKWs verfolgten. Die französische Polizei besaß kein eigenes System
und wandte sich an Firmen, die gegen Bezahlung den Zugriff auf
ihren Server erlaubten.
»Du hast Glück«, sagte Estreda,
»dein Typ telefoniert.«
Ich klemmte das Handy unter
mein Kinn und schaltete in den ersten Gang:
»Ich höre.«
»Hast du einen Computer?«
»Nein. Ich sitze im Auto. Du
lotst mich.«
»Hört sich ziemlich verworren
an, deine Geschichte.«
»Mach schon. Ich bin
unterwegs.«
»Du benutzt mich nicht
zufälligerweise für eine nicht genehmigte Observierung?«
»Vertraust du mir oder
nicht?«
»Nein. Aber dein Typ ist an der
Porte de Vincennes auf den Périphérique gefahren.«
Ich fuhr mit quietschenden
Reifen an.
»Welche Richtung?«
»Südliche Richtung.«
Ich überquerte den Platz mit
Karacho und zwang die anderen Autofahrer unter wildem Gehupe, eine
Vollbremsung hinzulegen – das Martinshorn konnte ich nicht
benutzen. Mit über achtzig Sachen peste ich über den abschüssigen
Zubringer.
»Der fährt ja mit nem
Affenzahn. Ist er auf der Flucht oder was?«
Ich antwortete nicht und
bemerkte lediglich die Innovation: Mit einer neuen Software konnte
man in Echtzeit die Schnelligkeit des Wechsels von einer
Mobilfunkstation zur nächsten berechnen. Ein echtes
Videospiel.
»Er ist bereits an der Porte de
Charenton vorbei.«
Ich fuhr jetzt mit über hundert
Sachen und ordnete mich ganz links ein. Der Verkehr lief flüssig.
Ich war sicher, dass Doudou nicht zur Zentrale zurückfuhr. Estreda
bestätigte mir, dass der Motorradfahrer an der Porte de Bercy
vorbeigefahren war.
Porte de Bercy. Quai d’Ivry.
Porte d’Italie …
»Er scheint langsamer zu werden
…«
Ich wechselte auf die rechte
Fahrspur.
»Fährt er raus? Wo ist
er?«
»Warte, warte …«
Estreda fand plötzlich
Geschmack an der Sache. Er dachte, ich würde meinen »Dieb«
verfolgen. Ich stellte ihn mir vor, über seinen Bildschirm gebeugt,
auf dem der Cursor blinkte, der die Position meines Handys anzeigte
…
»Er nimmt die A6, Richtung
Orly.«
Zum Flughafen? Wollte sich
Doudou etwa absetzen? Aber in dieser Richtung lag auch der
Großmarkt von Rungis. Sofort vermutete ich einen Zusammenhang mit
der Welt der Bierbrauer.
»Wo ist er?«
Keine Antwort von Estreda: Das
Signal war zweifellos noch nicht auf eine andere Funkzelle
übergegangen.
»Wo ist er, verflixt nochmal?
Ist er in Orly abgefahren oder was?«
Vor mir sah ich die Abfahrten
immer näher auf mich zukommen: links Orly, rechts Rungis … Ich war
nur noch ein paar Hundert Meter entfernt. Gegen meinen Willen nahm
ich den Fuß vom Gas, um ein paar Sekunden herauszuholen. Plötzlich
schrie der Portugiese:
»Richtung Rungis!«
Ich hatte also den richtigen
Riecher gehabt. Die Getränkelager. Ich trat das Gaspedal wieder
durch. Es waren erstaunlich wenige Autos auf der Straße, während
der Gegenverkehr zum Stillstand gekommen war.
»Er wird langsamer«, versetzte
Estreda. »Er … er fährt ab. Richtung Großmarkt.«
Ich kannte die Strecke, denn
ich war schon einmal in diesem »Markt von nationaler Bedeutung«
gewesen. Ich passierte die Mautstelle und fand mich vor einem
Schilderwald wieder: Gärtnerei, Fische und Meeresfrüchte, Obst und
Gemüse … Ich stieg voll auf die Bremse und griff nach dem
Handy:
»Wo ist er? Sag mir wenigstens
die Richtung!«
»Mist. Das Signal bewegt sich
nicht mehr.«
»Hat er angehalten?«
»Nein. Aber es gibt mehrer
Handymasten in Rungis. Sie sind oft belegt.«
»Na und?«
»Dein Typ bewegt sich
vielleicht noch, aber sein Signal bleibt auf derselben
Mobilfunkstation, weil die anderen es nicht aufnehmen können. Es
gibt ein System, das die Anrufe verteilt, wenn …«
»Mist!«
Ich schlug gegen das Lenkrad.
Ich sah mich bereits, auf der Suche nach der Maschine von Doudou,
kreuz und quer durch den riesigen Großmarkt und seine Straßen
fahren …
»Okay«, zischte ich, »ich komm
schon klar.«
»Bist du sicher, dass …«
»Ruf mich an, sobald sich das
Signal bewegt.«
»Dich anrufen? Aber dir ist
doch dein Handy geklaut worden …«
»Ich hab mir eins geliehen. Die
Nummer muss auf deinem Display erscheinen.«
»Okay, ich … Warte, ich hab
eine neue Funkstation!«
»Mach schon.«
»Die am Rondell des Großmarkts,
nahe der Porte de Thiais.«
Estreda kannte sich
offensichtlich dort aus. Er bestätigte es:
»Rungis gehört quasi zu uns,
Kumpel. Unsere LKWs fahren jeden Tag dorthin.«
»Kennst du in dem Bereich einen
Stand, der sich auf Getränke spezialisiert hat?«
»Einen Stand, nein, aber es
gibt die Compagnie des Bières, ein Lagerhaus der Bierbrauer, Rue de
la Tour.«
Ich legte den ersten Gang ein
und fuhr mit quietschenden Reifen los.