KAPITEL 12
Das Arbeitszimmer war blitzblank. Die gleiche
künstliche Ordnung wie in Lucs Büro in der Kripozentrale. Wer hatte
aufgeräumt? Laure oder Luc? Ich schloss die Tür, zog mein Sakko
aus, legte das Holster ab. Auf den ersten Blick war alles
unauffällig. Aber niemand ist unfehlbar – und ich konnte mir Zeit
lassen.
Ich ging um den Schreibtisch
und sein iBook herum, um die Fotos zu betrachten, die auf einem
niedrigen Möbelstück vor dem Fenster standen. Amandine und Camille
beim Ponyreiten, Schwimmen, Anfertigen von Masken … Eine Postkarte
aus Rom mit den handgeschriebenen Sätzen: »Ich kannte die kleine
Fabrik. Jetzt habe ich das große Werk gefunden!« Die »Fabrik«
(unausgesprochen: »von Priestern« ) war eine Anspielung auf
Saint-Michel-de-Sèze, mit »das große Werk« war das Priesterseminar
in Rom gemeint. Ein anderes Foto zeigte einen Mann in blauer
Arbeitsmontur, der einen Helm mit Stirnlampe trug. Er posierte
triumphierend mit Seilen und Karabinerhaken vor dem Eingang einer
Höhle. Zweifellos Nicolas Soubeyras, der Vater Lucs, der
Höhlenforscher.
Luc hatte immer voller
Bewunderung von ihm gesprochen. Er war 1978 in der Höhle von
Genderer in den Pyrenäen, mindestens zweitausend Meter vom Ausgang
entfernt, ums Leben gekommen. Damals beneidete ich ihn um diesen
Vater, diesen Heroismus, sogar um diesen Tod, da ich nur einen
Pseudo-Vater gehabt hatte, der einige Jahre später nach einem
Abendessen, bei dem er allzu tief ins Glas geschaut hatte, in
Harry’s Bar in Venedig einem Herzinfarkt erlegen war. Wie man sich
bettet, so liegt man.
Ich beugte mich zu der
Lamellentür des Möbels hinab, die verschlossen war. Ich versuchte
es mit dem Schrank: das Gleiche. Ich nahm hinter dem Schreibtisch
Platz und schaltete den Computer ein. Ich tippte ein wenig darauf
herum und bemerkte, dass ich diesmal kein Passwort brauchte, um die
Dateien zu öffnen. Nichts Interessantes. Ein Heimcomputer mit
Rechnungen, Urlaubsfotos, Spielen. Ich öffnete das Postfach. Die
privaten E-Mails waren ebenfalls uninteressant: elektronische
Warenbestellungen, Werbesendungen, lustige Geschichten … Nur ein
paar E-Mails erregten meine Aufmerksamkeit. Sie waren immer an den
gleichen Adressaten geschickt und unmittelbar darauf gelöscht
worden. Eine Zeile im Speicher, die jede verschickte Sendung
anzeigte, war das Einzige, was davon übrig geblieben war. Die
letzte Nachricht war am Tag vor Lucs Selbstmordversuch abgeschickt
worden. Die genau Adresse lautete: unital6.com.
Ich gab diese Buchstaben in
Google ein.
Tatsächlich existierte eine
gleichnamige Website: www.unital6.com. Doppelklick. Ein Logo. Die
Silhouette von Bernadette Soubirous, mit ihrem kleinen blauen
Gürtel, tauchte auf einer Ansicht von Lourdes auf. Der Begleittext
zu dem Foto war auf Italienisch abgefasst. Seit meiner
Seminaristenzeit beherrschte ich diese Sprache perfekt.
Unital6 war ein ehrenamtlicher
Verein, der Wallfahrten nach Lourdes organisierte. Weshalb hatte
Luc so kurz vor seinem Abgang Verbindung zu dieser Stiftung
aufgenommen? Wieder der Verdacht einer tödlichen Erkrankung … Aber
Laure schien ihrer Sache sicher zu sein, und die Ärzte im
Hôtel-Dieu hätten einen Tumor oder eine Infektion sofort erkannt.
Hatte diese Website etwas mit einem Ermittlungsverfahren zu
tun?
Ich klickte mich durch die
verschiedenen Menüseiten. Unital6 bot weitere Aktivitäten an:
Seminare, Exerzitien in italienischen Klöstern. Ich las die Liste
der Vorträge durch. Das einzige Thema, das Luc womöglich
angesprochen hätte, war ein Kolloqium über die »Rückkehr des
Teufels«, das am 5. November in Padua stattfinden sollte. Ich nahm
mir vor, die Spezialisten von der Abteilung für
Computerkriminalität anzurufen. Sie könnten vielleicht die Texte
der E-Mails wiederherstellen.
Ich wandte mich von dem
Computer ab und konzentrierte mich nun auf den Schreibtisch. In den
Schubladen entdeckte ich nur bürokratischen Kram: Kontoauszüge,
Stromrechnungen, Versicherungsquittungen, Unterlagen der
staatlichen Sozialversicherung … Ich hätte mich in diese Dokumente
vertiefen können, aber ich war nicht in der Stimmung, Zahlen unter
die Lupe zu nehmen. In der letzten Schublade ein Terminkalender mit
Namen, hingekritzelte Zahlen, Initialen. Einige kannte ich, andere
nicht, wieder andere waren unleserlich. Ich steckte den Kalender in
meine Sakkotasche, und als ich weitersuchte, stieß ich auf einen
Bund mit kleinen Schlüsseln. Ich blickte auf: der Büroschrank und
der kleine Einbauschrank mit der Lamellentür …
Sie ließ sich sofort öffnen.
Aktenordner aus grauem Leinen, mit einem Riemen zugebunden, standen
auf einem Regal dicht nebeneinander, trugen auf dem Rücken den
Buchstaben D und die Jahresangaben: 1990-1999, 1980-1989. 1970-1979
… Es reichte bis zum Anfang des Jahrhunderts zurück. Ich nahm den
Ordner ganz rechts heraus, der die Aufschrift »2000 …« trug,
stellte ihn auf den Boden und öffnete das Leinenbändchen.
Zwei weitere Aktenmappen, die
beide das Datum eines Jahres trugen: 2000 und 2001. Ich öffnete die
Mappe von 2001 und fand Bilder vom Anschlag des 11. September. Die
beiden rauchenden Türme des World Trade Center, Körper, die in die
Tiefe stürzten, verstört dreinblickende Menschen, die mit Staub
bedeckt waren und über eine Brücke liefen. Dann tauchten weitere
Fotos auf: Leichen mit ausgestochenen Augen, abgerissene Oberkörper
von Kindern unter Schutt. Im Kommentar hieß es: »Grosny,
Tschetschenien«. Ich blätterte weiter: Skelettreste, ein Schädel
mit einem Frauenschlüpfer zwischen den Zähnen. Man brauchte die
Legende gar nicht zu lesen. Das Foto zeigte die Exhumierung eines
der Opfer des Serienmörders Emile Louis aus der Gegend von
Auxerre.
Weshalb bewahrte Luc diese
schrecklichen Bilder auf? Ich stellte den Ordner zurück und schlug
dann denjenigen der 1990er Jahre auf, wobei ich aufs Geratewohl
Blätter herauszog. 1993. Männer und Frauen mit durchgeschnittener
Kehle in der Gasse eines algerischen Dorfs. Zerstückelte Leichen
zwischen Blutlachen und verkohlten Blechen. »Selbstmordanschlag,
Ramat Ash Kol, Jerusalem, August 1995«. Meine Hände begannen zu
zittern. Ich ahnte, dass eine Aktenmappe meinem vertrauten Albtraum
gewidmet war. Schwarze Körper in rotem Schlamm, aufgeschlitzte
Gesichter, Massengräber, so weit das Auge reicht: »Ruanda,
1994«.
Ich schlug die Akte zu, bevor
mir die Bilder ins Gesicht sprangen. Erst nach mehreren Anläufen
gelang es mir, sie wieder zu schließen. Eiskalter Schweiß lief mir
übers Gesicht. Die Angst kehrte mit Macht zurück, wie an den
schlimmsten Tagen. Ich stand auf und zog die Jalousien am Fenster
zur Seite, dann suchte ich den in Dunkelheit gehüllten Innenhof mit
den Augen ab. Nach einigen Sekunden fühlte ich mich besser. Erleben
zu müssen, wie sehr Ruanda noch immer in mir präsent war, wie
überempfindlich ich darauf reagierte, enttäuschte, ja demütigte
mich geradezu.
Ich kam auf Luc zurück. Damit
also hatte er seine Abende und seine Wochenenden verbracht. Suchen,
ausschneiden, ein Verzeichnis der schlimmsten Gräueltaten
erstellen, die Menschen begangen hatten. Ich beugte mich erneut
über die Regale und fischte eine Akte heraus, die getrennt
eingeordnet worden war: »1940-1944«. Ich erwartete einen Katalog
von Nazi-Gräueln, aber ich durfte mir zunächst asiatische Bilder zu
Gemüte führen. Die Vivisektion einer Frau, durchgeführt von
Japanern in OP-Kitteln und Mundschutz. Die Bildunterschrift
lautete: »Vergewaltigt und befruchtet von dem Forscher namens
Koyabashi aus der Einheit 731; er selbst schneidet den Fötus
heraus, den sie trägt.« Die behandschuhten Hände des Forschers, der
blutverschmierte Körper, die Männer in Zivil im Hintergrund, die
ebenfalls Mundschutz tragen. All dies war der reinste Horror.
Die folgende Mappe war
diejenige, mit der ich gerechnet hatte: die Nazis und ihre Gräuel.
Die Konzentrationslager. Ausgemergelte, zermürbte, kaputte
Gestalten. Leichen auf der Schaufel eines Baggers. Mein Blick blieb
an einem Foto hängen. Alltägliche Szene im Block 10 in Auschwitz,
1943: Eine Hinrichtung, bei der die Verurteilten, nackt, mit dem
Gesicht zur Wand, darauf warteten, dass ihnen der Offizier eine
Kugel in den Kopf schoss – die meisten waren Frauen und Kinder. Ein
Detail ließ mich erstarren: Die beiden schwarzen Zöpfe eines
kleinen Mädchens, betont durch die Körnigkeit der Aufnahme, hoben
sich von seinem weißen, zierlichen Rücken ab.
Ich stellte alles wieder
zurück: Ich hatte genug. Die Chronik auf den anderen Regalen
reichte Jahrhunderte zurück – 19., 18. Jahrhundert … Ich hätte mich
bis zum Morgengrauen im Horror tummeln können. Stiche, Gemälde,
Schriften, immer über dieselben Themen: Kriege, Folter,
Hinrichtungen, Morde … Eine Anthologie des Bösen, eine Systematik
der Grausamkeit. Aber was bedeutete das D auf dem Rücken aller
Ordner?
Plötzlich ging mir ein Licht
auf.
D für »Diabolus« oder
»Dämon«.
Ich dachte an »Dancing with
Mister D.« der Rolling Stones.
Die gesammelten Werke des
Teufels oder fast alle …
Das Läuten meines Handys ließ
mich zusammenzucken.
»Foucault. Ich komme gerade von
einem Abendessen mit Doudou.«
Es war fast 23 Uhr. Die Bilder
des Schreckens hallten in meinem Kopf nach.
»Wie ist es gelaufen?«
»Es hat mich ein echtes Gelage
gekostet, aber ich hab den Tipp. In letzter Zeit interessierte sich
Luc für einen besonderen Fall.«
Ihm kamen die Worte nur schwer
über die Lippen. Er schien völlig am Ende zu sein.
»Was für ein Fall?«
»Der Mord an Massine
Larfaoui.«
»Dem Bierbrauer?«
»Genau.«
Ich kannte den Kabylen aus
meiner Zeit bei der Sitte. Einer der größten Getränkelieferanten
der Bars, Restaurants und Discos von Paris. Ich wusste nicht
einmal, dass er umgebracht worden war.
»Wann wurde er umgelegt?«
»Anfang September. Eine Kugel
in den Kopf und zwei ins Herz, aus nächster Nähe.
Profi-Arbeit.«
»Weshalb haben wir den Fall
nicht bekommen?«
»Die Leute vom Drogendezernat
hatten Larfaoui bereits auf dem Kieker. Der Kerl war groß in den
Drogenhandel eingestiegen: Cannabis, Kokain, Heroin. Sie haben sich
mit der zuständigen Kripo-Direktion geeinigt und den Fall an sich
gezogen.«
»Was haben die Ermittlungen
ergeben?«
»Nichts. Keine Spur, kein Zeug,
kein Motiv. Gar nichts. Der Staatsanwalt will die Akte schließen,
aber Luc wollte die Flinte nicht ins Korn werfen.«
Diese Bluttat zerstreute den
Verdacht der Bestechung nicht.
Im Gegenteil. Larfaoui hatte
immer undurchsichtige Beziehungen zur Polizei unterhalten, wobei er
seinen Geschäftskunden gegen etwas Bakschisch polizeiliche
Gefälligkeiten verschaffte. Erschleichung einer Schankkonzession,
Duldung einer Spielhölle, Schutz vor möglichen Erpressern … Die
besten Leibwächter blieben die Polizisten selbst. Hatte Luc
herausgefunden, dass in der Abteilung Interne Ermittlungen ein
Maulwurf saß? Oder deckte er irgendetwas?
»Hast du Näheres über Larfaoui
herausgefunden?«, fuhr ich fort. »Wo wurde er umgenietet?«
»Zu Hause. In einem kleinen
Haus in Aulnay-sous-Bois. Am 8. September gegen 23 Uhr.«
»Die Kugel, die Waffe?«
»Doudou wollte nichts
ausspucken. Aber es scheint eine echte Hinrichtung gewesen zu sein.
Eine Abrechnung oder ein Racheakt. Das könnte jeder Profi gewesen
sein.« Foucault machte eine kurze Pause. »Auch ein Polizist.«
»Hat Luc das geglaubt?«
»Niemand weiß, was er
dachte.«
»Hat Doudou dir nichts über die
Reisen erzählt, die Luc in letzter Zeit unternahm?«
»Nein.«
»Wer ist der
Untersuchungsrichter in Sachen Larfaoui?«
»Gaudier-Martigue.«
Eine schlechte Nachricht. Ein
engstirniger Dummkopf, päpstlicher als der Papst. Keine Chance,
hintenrum an Informationen zu gelangen, geschweige denn,
Akteneinsicht zu erhalten.
»Leg dich aufs Ohr«, sagte ich
zum Abschluss. »Morgen hab ich weitere Aufträge für dich.«
Foucault lachte laut auf.
Ziemlich betrunken. Ich legte auf. Diese Neuigkeiten waren nicht
diejenigen, die ich erhofft hatte. Die Hinrichtung eines
Bierbrauers-Dealers hatte Luc ganz gewiss nicht in Verzweiflung
gestürzt.
Ich kehrte zum Wandschrank
zurück. Auf dem unteren Regalbrett wiesen Aktenordner unter dem
allgemeinen D winzige Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge auf.
Ich öffnete die erste Lasche und begriff: die Serienmörder. Alle
waren da, alle Jahrhunderte und alle Kontinente. Von Gilles de Rais
bis Ted Bundy, von Joseph Vacher bis Fritz Haarmann, von Jack the
Ripper bis Jeffrey Dahmer. Ich verzichtete darauf, diese Dokumente
zu überfliegen – ich kannte die meisten und hatte keine Lust, mich
auch noch in diesem Schlamm zu wälzen. Genauso wenig wie ich die
letzte Reihe unten konsultieren wollte, die offensichtlich der
Pornografie und allen Abarten körperlicher Lust gewidmet war.
Ich rieb mir die Augen und
stand auf. Es war Zeit, sich den großen Schrank vorzunehmen. Ich
öffnete die beiden Flügel und entdeckte weitere Aktenordner, die
ebenfalls das Sigel D trugen. Aber diesmal ein anderes Register: Es
handelte sich um eine umfangreiche Ikonografie des Teufels, seine
Darstellungen durch die Jahrhunderte.
Ich nahm die links stehenden
Akten heraus und schlug sie auf dem Schreibtisch auf. Die Antike
mit den ersten Dämonen der Menschheitsgeschichte, aus sumerischer
und babylonischer Überlieferung. Ich verweilte bei einer der
Hauptgestalten dieser Mythologie: dem assyrischen Dämon Pazuzu, dem
Herrn der Fieberkrankheiten und Geißeln.
Während meines Studiums hatte
ich ein Seminar über Dämonologie belegt. Ich kannte dieses
Ungeheuer mit den vier Flügeln, dem Fledermauskopf und dem
Skorpionschwanz. Es personifizierte unheilbringende Winde, die
Krankheiten und andere Übel über die Menschheit brachten. Ich
betrachtete seine wulstige Schnauze, seine wirr durcheinander
stehenden Zähne. Er stand am Anfang einer jahrhundertelangen
diabolischen Überlieferung. Und wenn heutzutage ein größerer Film
über den Teufel gedreht wurde, wie etwa Der
Exorzist von William Friedkin, grub man noch immer Pazuzu, den
schwarzen Engel der vier Winde, aus der irakischen Sandwüste
aus.
Ich blätterte weiter: Seth, der
ägyptische Dämon; Pan, der griechische Gott des sexuellen
Verlangens, mit seinem Bocksgesicht und seinem behaarten Körper;
Lotan, »derjenige, der sich krümmt«, der Urahn Leviathans …
Die anderen Aktenmappen. Die
urchristliche Kunst, in der das Böse entsprechend der Genesis die
Gestalt einer Schlange annahm. Dann das Mittelalter, das goldene
Zeitalter Satans. Manchmal war er ein dreiköpfiges Monster, das die
Verdammten beim Jüngsten Gericht verschlang; dann wieder war er ein
schwarzer Engel mit gebrochenen Flügeln, oder er verkörperte sich
in Wasserspeiern, Skulpturen und Reliefs, die scheußliche Fratzen,
zerfressene Gesichter, spitze Hauer zeigten …
Ein leises Klopfen an der Tür.
Laure trat lautlos ein. Es war Mitternacht. Sie warf einen Blick
auf die Akten zu meinen Füßen.
»Ich stelle alles wieder
zurück«, sagte ich schnell.
Sie machte eine müde,
wegwerfende Handbewegung. Sie hatte geweint. Ihre Mascara war
verwischt, sodass es aussah, als hätte sie zwei blau geschlagene
Augen. Ich hatte diesen absurden und grausamen Gedanken: Meiner
Mutter wäre niemals ein solcher Fauxpas unterlaufen. Ich sah sie
wieder vor mir, in dem Auto, das uns zur Beerdigung meines Vaters
fuhr, wie sie sich die Wimpern mit wasserfester Mascara tuschte,
für den Fall, dass sie die Tränen nicht zurückhalten könnte.
»Ich geh schlafen«, sagte
Laure. »Brauchst du noch was?«
Ich hatte eine trockene Kehle,
dennoch schüttelte ich den Kopf. Die späte Stunde, diese plötzliche
Intimität mit Laure … Ich fühlte mich nicht wohl.
»Hast du was dagegen, wenn ich
die ganze Nacht hier arbeite?«
Sie warf einen weiteren Blick
auf die Fotos, die auf dem Boden lagen. Ihr Blick blieb an der
Maske eines tibetanischen Dämons hängen, die aus einem Karton
herausragte.
»Er verbrachte die Wochenenden
in seinem Arbeitszimmer und sammelte diese
Abscheulichkeiten.«
In ihrer Stimme schwang dumpfe
Missbilligung mit. Sie drehte sich um, griff nach der Klinke, doch
dann besann sie sich anders:
»Ich wollte dir etwas sagen.
Ich habe mich wieder an ein Detail erinnert.«
»Was?«
Ich stand unwillkürlich auf,
wischte mir die Hände an der Hose ab. Ich war mit Staub
bedeckt.
»Eines Tages habe ich ihn
gefragt, was er in dieser Rumpelkammer tue. Er hat mir nur
geantwortet: ›Ich habe den Schlund gefunden.‹«
»Den Schlund? Sonst hat er
nichts gesagt?«
»Nein. Er war völlig außer
sich.« Sie verstummte, plötzlich von ihren Erinnerungen übermannt.
»Falls du doch in der Nacht weggehst, zieh die Tür hinter dir ins
Schloss. Und vergiss nicht die Messe übermorgen.«
»Ich habe den Schlund
gefunden.« Was hatte er damit gemeint? War es ein Schlund im
anatomischen oder im übertragenen Sinne? Meinte er den Körperteil
oder einen Schlund im Sinne der gähnenden Öffnung eines Kraters,
einer Schlucht oder eines steinernen Brunnens?
Die Stunden vergingen. In
Gesellschaft von Teufelsfresken Fra Angelicos und Giottos,
bildlicher Darstellungen des Widersachers von Grünewald und Breugel
dem Älteren, des Teufels mit Rattenschwanz von Hieronymus Bosch,
des Teufels, der in ein Schwein gefahren ist, von Dürer, der Hexen
Goyas, des Leviathans von William Blake …
Um 3 Uhr morgens nahm ich die
letzte Ablage in Angriff. Als ich die Aktenmappen aufschlug, sah
ich, dass sie keine Fotoabzüge enthielten, sondern medizinische
Aufnahmen. CT-Aufnahmen und Kernspintomogramme von Gehirnen. Ich
las die Legenden. Psychisch Kranke in akuten Krisen, vor allem
gewalttätige Schizophrene.
Man musste kein Genie sein, um
Lucs Denkweise zu erraten. Seines Erachtens waren diese Aufnahmen,
die pathologische Prozesse im Innern des Gehirns sichtbar machten,
sozusagen die zeitgenössischen Darstellungen des Teufels. Der Sinn
und Zweck dieses Archivs lag auf der Hand: Eine umfassende Sammlung
aller Erscheinungsformen des Bösen.
Ich sah diese Archivunterlagen
schnell noch einmal durch und fischte einige Fotos heraus, die ich
entweder selbst behalten oder an Svendsen weitergeben wollte.
Erschöpft setzte ich mich hinter den Schreibtisch – ich hatte keine
Kraft, um jetzt aufzubrechen. Meine Gedanken wurden immer
verschwommener, und ich fühlte mich immer schlechter.
Es lag nicht nur an der
Müdigkeit. Seitdem ich begonnen hatte, das Arbeitszimmer zu
durchsuchen, hatte mir eine Sache keine Ruhe gelassen: Ruanda. Die
schlichte Tatsache, dass ich mich in der Nähe der Bilder des
Massakers befand, hatte mir für die Nacht die Stimmung verhagelt.
Aber meine Neugier war stärker als meine Erschöpfung, und so konnte
ich nicht widerstehen.
Ich war bereit für einen
Abstecher in die Hölle, für den Abstieg in den Brunnen meiner
Erinnerungen.