KAPITEL 36

Chopard erwartete mich auf der Terrasse vor einem rauchenden Holzkühlengrill – schöne zartrosa Forellen brutzelten über der Glut. Ich erinnerte mich an seine leeren Fangkörbe. Der alte Hase lachte laut auf, als hätte er meinen Gesichtsausdruck in seinem Rücken sehen können:
   »Ich habe sie im Restaurant nebenan gekauft. Das mache ich immer so.«
   Er deutete auf einen Plastiktisch, um den Gartenstühle standen. Er war schon gedeckt: Papiertischtuch, Pappteller, Becher und Plastikbesteck.
   »Bedien dich. Die Munition steht im Schatten, unter dem Tisch.«
   Ich fand eine Flasche Ricard und einen Chablis. Ich entschied mich für den Weißwein und zündete eine Camel an.
   »Setz dich, in einer Minute ist es fertig.«
   Ich nahm Platz. Die Sonne überzog alles mit einem dünnen Hitzefilm. Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Die Tausende von Wörtern, die ich gelesen hatte, schwirrten mir durch den Kopf.
   »Was hältst du davon?«
   Chopard legte eine knusprige Forelle auf meinen Teller, verziert mit Pommes frites.
   »Schöne Geschichten.«
   »Red keinen Stuss. Wie findest du es?«
   »Sie schinden manchmal Zeilen.«
   Er hantierte mit dem Grillbesteck.
   »Ich musste mit dem auskommen, was man mir gab! Die Gendarmen hüllten sich in Schweigen. Tatsächlich hatten sie nichts in der Hand. Totale Fehlanzeige.«
   Er ließ eine Forelle auf seinen Teller fallen und setzte sich mir gegenüber:
   »Was denkst du über die Ermittlungen? Deine Meinung über die Polizei interessiert mich.«
   »Irgendetwas ist komisch. Aber ich weiß nicht genau, was.«
   Chopard schlug die rechte Faust in den linken Handteller.
   »So isses! Genau!« Er beugte sich zu mir, nachdem er sein Glas geleert hatte. »Etwas Vages, Verschwommenes. Eine Art Schuld, die über dieser ganzen Geschichte liegt.«
   »Glauben Sie, dass einer der drei Verdächtigen der Täter ist?«
   »Alle drei hängen da drin, wenn du mich fragst.«
   »Was?«
   »Das sagt mir mein Riecher. Ich habe alle diese Burschen kontaktiert. Ich habe sogar zwei befragen können. Und ich kann dir eines versichern: Die waren nicht sauber.«
   »Wollen Sie damit sagen, dass sie den Mord gemeinsam begangen haben?«
   Er verschlang einen Happen weißes Fleisch.
   »Das habe ich nicht behauptet. Im Grunde bin ich nicht einmal sicher, dass einer der drei der Täter ist.«
   »Ich kann Ihnen nicht recht folgen.«
   »Iss, bevor es kalt wird.« Er füllte wieder sein Glas und trank es in einem Zug leer. »Auf jeden fällt ein Teil der Verantwortung. Eine Art … Prozentsatz der Schuld. Sagen wir: dreißig Prozent. Die drei zusammen ergeben den idealen Mörder.«
   Ich probierte den Fisch. Er schmeckte köstlich.
   »Ich verstehe nicht.«
   »Ist dir das bei deinen Ermittlungen noch nie passiert? Die Schuld schwebt über jedem Verdächtigen, aber sie lässt sich bei keinem festmachen. Und selbst wenn du den wahren Mörder gefunden hast, fällt auf die anderen ein Schatten …«
   »Das erleb ich jeden Tag. Aber ich muss mich an die Tatsachen halten. Den verhaften, der die Waffe benutzt hat. Kommen wir auf den Mord an Manon zurück. Wenn Sie auf einen Täter tippen müssten, für wen würden Sie sich entscheiden?«
   Chopard schenkte uns nach. Er hatte seinen Teller schon geleert. Er sagte:
   »Thomas Longhini, den Halbwüchsigen.«
   »Wieso?«
   »Er war der Einzige, mit dem das Mädchen freiwillig mitgegangen wäre. Manon nahm sich vor fremden Erwachsenen in Acht.
   Und ich kann mir gut vorstellen, wie sich die beiden an jenem Abend, Hand in Hand, verdrückten, entweder durch den Notausgang oder durch den Keller.«
   »Sie schließen sich also der Theorie der Kripo an?«
   »Ein Spiel, das ein schlimmes Ende nahm? Ich bin mir nicht sicher … Aber Thomas war an der Tat beteiligt, soviel steht fest.«
   »Wenn es sich um ein klassisches Verbrechen handelt, was für ein Motiv hätte der Junge gehabt?«
   »Was weiß ich, was sich im Kopf eines Heranwachsenden abspielt!«
   »Haben Sie ihn befragt?«
   »Nein, nach seiner Freilassung sind seine Eltern von Sartuis weggezogen. Der Junge war durch den Wind.«
   »Haben ihn die Polizisten hart angefasst?«
   »Setton, der Kommissar, trug keine Samthandschuhe.«
   »Wissen Sie, wo sich Thomas heute aufhält?«
   »Nein. Ich glaube sogar, dass seine Familie einen anderen Namen angenommen hat.«
   Ich nahm einen weiteren Schluck. Mir wurde allmählich übel.
   »Wissen Sie, wo ich die beiden anderen, Moraz und Cazeviel, finden kann?«
   »Moraz ist in Locle geblieben. Auch Cazeviel wohnt noch in der Gegend. Er arbeitet in einem Jugendheim in der Nähe von Morteau.«
   Ich zog meinen Notizblock heraus und kritzelte die Angaben hinein.
   »Und die anderen? Die damaligen Ermittler? Kann man sich mit ihnen in Verbindung setzen?«
   »Nein. Setton ist Präfekt geworden, ich weiß aber nicht, wo. De Witt ist tot.«
   Ich zog eine Camel aus meiner Schachtel, um den Weingeschmack zu vertreiben.
   »Und Lamberton?«
   »Er hat einen Halstumor und liegt im Klinikum Jean-Minjoz in Besançon im Sterben.«
   Chopard schenkte mir wieder nach und hielt mir dann sein Feuerzeug hin. Mir drehte sich alles.
   »Die Schwiegereltern?«
   »Sie wohnen in der französischen Schweiz. Du kannst dir Anrufe sparen. Ich hab mir bereits die Zähne ausgebissen. Sie wollen nichts mehr von der Geschichte hören.«
   »Letzte Frage, in Bezug auf Manon: Hat man am Tatort irgendwelche satanistischen Zeichen gefunden?«
   »Kreuze, etwas in der Art?«
   »Ja.«
   Ich trank meinen Becher leer. Den Kopf zurückgebeugt, wäre ich beinahe nach hinten gefallen, wenn ich mich nicht am Tisch festgehalten hätte wie an einer Reling.
   »Niemand hat je etwas davon erzählt.« Chopard beugte sich neugierig zu mir. »Hast du eine Spur?«
   »Nein. Und der Mord an Sylvie, was ist Ihre persönliche Meinung dazu?«
   Ich schenkte uns eine weitere Runde aus.
   »Ich habe es dir schon gesagt: Es ist derselbe Täter.«
   »Aber was für ein Motiv könnte er haben?«
   »Rache, die im Abstand von vierzehn Jahren geübt wurde.«
   »Rache wofür?«
   »Das ist der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Das musst du herausfinden.«
   »Wieso hat der Täter so viele Jahre gewartet, ehe er wieder zuschlug?«
   »Es liegt an dir, die Antwort zu finden. Deshalb bist du doch hier, oder?«
   Ich machte eine unwillkürliche Bewegung und fürchtete abermals, das Gleichgewicht zu verlieren. Ich aß einen Bissen von dem Fisch, um das Gefühl der Trunkenheit einzudämmen.
   »Longhini könnte also auch der Mörder von Sylvie sein?«
   »Denk doch mal ein bisschen nach. Weshalb gibt es so große Unterschiede zwischen den beiden Morden? Weil sich der Mörder gewandelt hat. Seine kriminelle Energie hat zugenommen.
   1988 war Thomas Longhini vierzehn. Heute ist er achtundzwanzig. Für einen Mörder ist es das entscheidende Alter. Die Zeit, in der die kriminelle Energie explodiert. Beim ersten Mal war es vielleicht ein Unfall, aufgrund der sadistischen Entgleisung eines Spiels. Beim zweiten Mal war es ein Mord, mit kalter Berechnung begangen.«
   »Wo lebt er heute?«
   »Ich weiß es nicht. Und es wird nicht leicht sein, ihn aufzustöbern. Er hat einen anderen Namen angenommen und lebt in einer anderen Gegend.«
   Die Sonne war verschwunden, das Gespräch beendet. Ich stand mit wackligen Beinen auf.
   »Könnten Sie mir Ihre Artikel ausdrucken?«
   »Schon geschehen, mein Junge. Ich hab eine ganze Serie für dich hergerichtet.«
   Er sprang von seinem Stuhl auf und verschwand im Haus. Ich betrachtete den Widerschein des grauen Himmels auf den Glassteinen in der Außenwand über der Terrasse: Die mattierten Oberflächen wogten wie Wellen.
   »Hier!«
   Chopard brachte mir einen Stoß Papiere, um den eine schwarze Schleife geschlungen war. Darin steckte ein Umschlag aus Karton. Ich lehnte mich gegen die Brüstung. Mein Gehirn und meine Eingeweide schienen in Alkohol zu schwimmen.
   »Ich hab dir noch einen Satz Fotos dazugelegt, aus meinem Privatarchiv.«
   Ich bedankte mich bei ihm und blätterte die Unterlagen durch. Ein Gluckern ließ mich aufblicken:
   »Noch ein letzter Schluck zum Abschied.«
Das Herz der Hoelle
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