22. April, Vormittag

Warum Sebastian ausgerechnet heute mit dem Bus zum Institut fuhr, wusste er selbst nicht. Vermutlich reiner Zufall. Richtung Sendlinger Tor war die Anbindung mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln gleich gut. Heute also per Stadtbus.

Eine ganze Weile war er mit dem Versuch beschäftigt, seinen Vater und den Termin heute Nachmittag aus seinen Gedanken zu vertreiben. Natürlich dachte er dadurch erst recht daran. Dan Wegner fiel ihm ein, ein Harvard-Professor, der darüber forschte, wieso Menschen unweigerlich an weiße Bären dachten, wenn sie aufgefordert wurden, nicht an weiße Bären zu denken. Plötzlich dachte Sebastian an weiße Bären.

Dann setzte sich eine junge Frau auf den Platz vor ihm. Frau? Mädchen? Wann war ein Mädchen eine junge Frau? Im Nu hatte sie jedenfalls die weißen Bären vertrieben.

Zuerst konnte er sie nur von hinten sehen. Dann schaute sie aus dem Fenster und bot ihm ihr Profil. Außerdem spiegelte sich ihr Gesicht in der Scheibe. Durch das Bild jagten die Häuserfronten, an denen der Bus vorbeifuhr. Trotzdem konnte Sebastian genug erkennen, um festzustellen, dass ihm gefiel, was er sah. Hätte er spontan Charaktereigenschaften zuordnen sollen, so hätte er gesagt: offen, ehrlich und sympathisch. Natürlich war das ein Blödsinn und die Physiognomik mit Johann Caspar Lavater mehr oder weniger ausgestorben. Dem einen wuchs die Nase gerade, dem anderen krumm. Und manch einer hatte das Pech, dass er schon böse ausschaute, wenn er nur traurig war. Aber die Frau vor ihm hatte nicht nur in dieser Hinsicht Glück gehabt. Ihr langes, lockiges Haar war dunkelblond mit einem Stich Kupfer. Er musste sich zusammenreißen, um nicht hineinzugreifen und es sich durch die Finger gleiten zu lassen. Sicher würde es fließen wie warmes Wasser. Er spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, löste die Augen mit einiger Mühe von ihrem Haar und belohnte sich für die Anstrengung mit einem erneuten Blick auf ihr Spiegelbild. Zunächst konzentrierte er sich auf ihren Mund. Er war nicht groß und nicht klein, die Lippen formten einen nahezu perfekten Schmollmund. Darüber eine Nase, die gerade groß und dabei schmal genug war, um ihrem Gesicht ein Profil zu geben, das nicht allein von den Lippen dominiert wurde. Das war Harmonie, kein bloßes Nebeneinander. Ihre Augen waren groß, das betonte sie noch mit einem Lidstrich. In ihrer Ahnenreihe gab es mit Sicherheit mindestens einen Asiaten, darauf deutete der Schwung ihrer Lider und der Jochbeine. Die Brauen bildeten zwei hohe Bögen über den Augen, was ihrem Blick einen leicht staunenden Ausdruck verlieh. Die Locken hingen ihr in die Stirn und verdeckten halb das Band, das sie um den Kopf gebunden hatte.

Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch beugte Sebastian sich vor, bis er von ihrem Kopf nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Er war versucht, sie zu berühren, stellte sich vor, ihr über die glatte Wange zu streichen, den Linien ihres Gesichtes sanft mit den Fingern zu folgen.

Sie war so verdammt nah, doch wo blieb das Zauberwort – das Wort, mit dem man eine Frau ansprechen konnte, ohne plump und aufdringlich zu wirken, aber doch interessant genug, dass sie sich auf ein Gespräch einlassen würde. Warum war dieses Wort so verdammt schwer zu finden?

Er vertiefte sich in den Anblick der feinen Härchen auf ihrer Schläfe, ein zarter Flaum, der sich unter dem Ohr den Hals hinunter fortsetzte. Im Ohrläppchen steckte ein einfacher goldener Ring, der durch seine Schlichtheit ihre Schönheit betonte. Modeschmuck oder Platin und Titan hätten dagegen gewirkt wie ein Pop-Art-Rahmen um ein Bild von Tizian. Ein kleiner goldener Ohrring, wie die Zigeuner oder Piraten . . . Plötzlich bemerkte er eine kleine Veränderung ihres Bildes in der Scheibe. Sie lächelte ihn an.

Er spürte, wie ihm das Blut mit Hochdruck ins Gesicht schoss und dort sämtliche Kapillaren zu sprengen versuchte, während er rasch den Blick abwandte. Er hatte sie doch nicht angestarrt? Überhaupt saß er gar nicht hier. Er war gerade im Boden versunken. Ein Gedanke schoss ihm durchs Hirn: Vielleicht gab es ja gar kein Zauberwort. Vielleicht reichte es schon, nicht so zu tun, als existiere man nicht oder als existiere der andere nicht. Vielleicht war es einfach so, dass man den Blick im richtigen Augenblick erwidern musste.

Als er endlich wieder den Mut fand, hochzuschauen, war ihr Spiegelbild verschwunden. Dafür ging sie gerade am Bus vorbei und lächelte – in seine Richtung? Sie sah jedenfalls ungefähr in seine Richtung und . . . hob die Rechte, um sich lächelnd mit dem Zeigefinger an einen imaginären Hutrand zu tippen. Während der Bus anfuhr, sah Sebastian sich verwirrt um. Niemand sonst außer ihm schien die junge Frau registriert zu haben, die jetzt den Sendlinger-Tor-Platz überquerte. Hatte sie tatsächlich ihn gemeint? Ein verführerischer Gedanke kroch aus den Tiefen seines die Gefühle kontrollierenden limbischen Systems hervor – gefiel er ihr? Oder . . . Sendlinger-Tor-Platz?! Verdammt, hier hätte er auch rausgemusst.

Idiot, beschimpfte er sich und kämpfte sich zum Ausstieg. In seiner Fantasie malte er sich aus, wie er charmant der jungen Frau auf dem Weg zum Institut den Hof gemacht hätte. Idiot, Idiot, Idiot.

Die nächste Haltestelle war nur zweihundert Meter entfernt. Sebastian rannte die Strecke zurück, obwohl sein verstauchter Fuß noch immer verdammt wehtat. Als Sebastian am Sendlinger Tor ankam und sich umschaute, war die Frau längst verschwunden.

Typisch, dachte er. Ich verpasse über die gesamte Länge meines Lebens meine bessere Hälfte, ohne auch nur zu wissen, wie sie heißt. Tja, wie er sich eingestehen musste, hatte er sich in eine schöne Unbekannte verliebt. Und nun war sie schon wieder verschwunden. Na, Romeo, du bist kein Narr, sondern ein Trottel des Schicksals.

Seltsam, dachte er dann. Während mein Vater so gut wie tot an den Maschinen hängt, verliebe ich mich Hals über Kopf in eine Fremde, die ich nie wieder sehen werde. Gefühle lassen sich nicht bändigen, was?

Als Sebastian das Institut durch den Haupteingang betrat, wölbten sich über ihm die steinernen Säulen des Portals zu zwei Bögen wie Augenhöhlen in einem Schädel. Links und rechts wuchsen die oberen Teile der Jochbeine aus dem Boden und senkten sich dann als Stirnbein von rechts und links aufeinander zu. In der Mitte tauchte das Stirnbein nach innen und verbreiterte sich nach oben zur Decke der Eingangshalle, während sich das Nasenbein nach unten streckte und das Portal in zwei getrennte Pforten teilte.

Flankiert wurde der Eingang von einer Säule, auf der die einstmals weiße, von Abgasen zunehmend eingeschwärzte Büste von Wilder Penfield die Besucher begrüßte. Nach links erstreckte sich die Fensterfront der Bibliothek hinter gusseisernen Kreuzen, rechts schwang sich mutig die äußere Fassade des Audimax der Straße entgegen. Durch die großen Fenster konnte man die Decke des großen Hörsaals erkennen. Die Konstruktion in sechs Metern Höhe war einen Blick wert. Die Architekten hatten sich eines bewährten Prinzips bedient: Die vielen feinen und rautenartig verästelten Betonträger wirkten sehr organisch, denn sie waren dem inneren Aufbau eines Oberschenkelknochens nachempfunden. Die tragenden Stellen wurden nicht durch Pfeiler gestützt, sondern bildeten Zentren sternförmig auslaufender Hauptträger. Man hätte das Ganze für das Werk einer Spinne im Drogenrausch halten können.

Durch das Portal trat man in eine Halle, deren hohe, leicht gewölbte Decke den Eindruck verstärkte, in das Innere eines Schädels einzudringen. Dem Eingang schräg gegenüber lagen die Fahrstühle zu den einzelnen Etagen des Gebäudes, rechts saß der Pförtner in seinem Büro. Sebastian wandte sich nach links. Dort befand sich die Treppe zur Cafeteria, die sich im weiten Bogen hinaufschwang in den ersten Stock.

An der Theke der Cafeteria war es schon voll. Weiter hinten aber war noch Platz. Er stellte sich eine Schale Sie-können-uns-vertrauen-Müsli und eine Tasse Kaffee auf das schäbige Tablett. Dann balancierte er sein Frühstück durch die Schlange derer, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun Kaffee mit oder ohne Milch und/oder mit oder ohne Zucker oder ohne Kaffee und dafür mit Kakaopulver oder lieber einen Tee oder doch lieber gar nichts nehmen sollten.

Sebastian fand einen ruhigen Platz am Fenster. Um neun würde die Journalistin kommen. Er hatte noch eine gute halbe Stunde.

Sieben Minuten zu spät – Sebastian hatte gerade auf die Uhr geschaut – kam eine junge Frau herein und sah sich auffällig um. Er erkannte sie sofort wieder. Ihm wurde heiß.

»Guten Morgen. Sebastian Raabe?«

Sebastian räusperte sich und griff sich verlegen an den Hals. »Ja, guten Morgen. Sareah Anderwald, nehme ich an?«

»Genau. Darf ich?«, fragte sie und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.

Er lächelte sie an. Reiß dich zusammen. Mach dich nicht zum Affen. »Einen Kaffee? Was zum Frühstück?«, fragte er und staunte über seine plötzliche Souveränität. Na also.

»Kaffee wäre schön. Mit Milch. Sonst nichts«, antwortete sie.

»Sie heißen wirklich Sareah? Ungewöhnlicher Name, oder?« fragte er sie, bevor er aufstand.

»Das fragt jeder. Ein Schreibfehler des Standesbeamten, der meinen Eltern so gut gefiel, dass sie ihn auf der Geburtsurkunde haben stehen lassen«, erklärte sie ihm. »Wie ich heißen sollte, muss ich wahrscheinlich nicht erklären, oder?« Sie lächelte ihm hinterher, als er den Kaffee holen ging.

Während er an der Theke stand und den Kaffee zapfte, betrachtete er die Journalistin. Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen am Tisch und kramte in ihrer Tasche. Das kupferstichige Haar fiel wild über den hochgeschlagenen Kragen ihrer Lederjacke. Offensichtlich hatte sie sich beim Kämmen keine besondere Mühe gegeben. Die Lederjacke gefiel ihm, die hätte er auch sofort gekauft. Ziemlich alt, braun und für die Frau etwas zu groß. Darunter trug sie eine schwarze Bluse, dazu Jeans und an den Füßen halbhohe Stiefel. Sie wirkte jetzt älter als vorhin im Bus. Sebastian schätzte sie auf fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Als sie zu ihm herüberschaute, fühlte er sich ertappt. Aber wieder gelang ihm ein souveränes Lächeln auf dem Weg zu ihrem Platz. Sie nahm ihm die Tasse ab und bedankte sich.

»Also, wie ich schon am Telefon gesagt habe, ich arbeite für die ›Rundschau‹ und möchte gern ein Stück über die Arbeit hier am Institut schreiben. Für die Wissenschaftsseite. Und ich habe mir gedacht, ich frage jemanden, der sich hier auskennt, aber noch nicht so lange im Geschäft ist, dass er nur noch Fachchinesisch quatscht.«

Sebastian nickte.

Sie nahm ein Diktiergerät aus der Tasche.

»Stört es Sie, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«, fragte sie.

»Ich muss es mir ja nicht anhören, oder?«, fragte er zurück.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Erste Frage: Müssen wir uns siezen?«

»Nein, meinetwegen nicht.«

Aus der Nähe bemerkte Sebastian, dass ihre Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, dunkler waren als ihr Haar. Ihr Gesicht bekam dadurch einen sehr energischen Ausdruck. »Wir müssen ziemlich weit vorn anfangen, fürchte ich«, fuhr sie fort. Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Von vorn betrachtet passte ihre Nase nicht mehr so gut zum Mund und den Augenbrauen, was ihrer Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Ihr Lidstrich war etwas verwischt.

»Also los«, meinte sie, und schaltete das Diktiergerät ein, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Erzähl doch mal, um was es bei der Arbeit hier am Institut überhaupt geht.«

Wo sollte er anfangen, überlegte Sebastian. Grundkurs in Neurophysiologie? Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Ihm kam der Verdacht, dass sie vielleicht weniger auf das gespannt war, was er sagen würde, als vielmehr, wie er sich schlagen würde. Ob er überhaupt etwas Interessantes zu erzählen hatte. Aber das war vermutlich nur eine Projektion. Schließlich waren das seine Ängste. Er wollte einen Schluck Kaffee nehmen. Als er die Tasse hob, fielen Tropfen auf den Tisch, da auf seiner Untertasse Überschwemmung herrschte. Einige landeten auf dem Aufnahmegerät.

»Scheiße«, fluchte er und setzte die Tasse ab, um mit einer Serviette das Gerät zu trocknen. »Ein fantastischer Anfang für deinen Artikel: ›Scheiße‹, sagt Sebastian Raabe, Sohn des berühmten Hirnforschers Christian Raabe, während er in der Cafeteria des renommierten Instituts . . .« Sie lachte.

»Tja«, versuchte er es noch einmal. Schon besser. Das konnte sie vielleicht sogar als Schlagzeile benutzen. Tja. Toll, gleich bricht dir noch der Schweiß aus, dachte Sebastian. Hyperventilierst du nicht auch schon ein wenig? Die Journalistin beobachtete ihn, zeigte jedoch keine Reaktion.

»Also, zwei Dinge stehen bei der Forschung hier am Institut im Vordergrund«, begann Sebastian noch einmal. »Einerseits sucht man nach der Grundlage der Persönlichkeit. Nach den Strukturen und den Struktur-Unterschieden, die hinter verschiedenen Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften stehen. Der zweite Bereich behandelt Lernen, Gedächtnis, Erinnerung. Das ist der für dieses Institut wichtigere Bereich. Du hast vermutlich davon gehört, dass hier, an diesem Institut, der Durchbruch geschafft wurde: Erinnerungen von Menschen außerhalb des Körpers aufzunehmen. Das ist doch das Thema, über das wir hier sprechen wollen, oder?«

Sie nickte.

»Die Anfänge der Forschung, die später an diesem Institut betrieben wird, liegen in den fünfziger und sechziger Jahren. Damals hat in Kanada ein Chirurg Patienten am Gehirn operiert, die unter epileptischen Anfällen litten und bei denen Halluzinationen auftraten. Der Arzt hieß Wilder Penfield. Nach ihm ist auch das Institut benannt.«

»Anfälle mit Halluzinationen?«, fragte Sareah. »Wie muss ich mir das vorstellen?«

»Oh, vielleicht als eine Art Visionen. Es gibt Vermutungen, dass zum Beispiel die Visionen der Heiligen Hildegard von Bingen auf solche Epilepsieanfälle zurückgehen, oder die alttestamentarischen Prophezeiungen und die Offenbarung des Johannes. Dann hat man herausgefunden, dass dabei auch das Gedächtnis eine Rolle spielen könnte. Das war 1888, als Epilepsie-Patienten dem Amerikaner Hughling Jackson erzählten, die Visionen während ihrer Anfälle seien nichts anderes als Bilder aus ihrer Vergangenheit.«

Sie strich sich ein paar Locken aus der Stirn. Verdammt, konzentrier dich, Junge.

»Penfield und ein Kollege, der auf den schönen Namen Phanor Perot gehört hat, haben die Großhirnrinde von Epileptikern mit leichten Stromstößen stimuliert, die während der Operation freigelegt war. Das Gehirn ist schmerzunempfindlich, so dass Eingriffe unter örtlicher Betäubung stattfinden können. Die Patienten waren also bei vollem Bewusstsein, während ihnen der Schädel geöffnet wurde . . . Hey, was ist los?«

Sareah hatte gerade einen Schluck Kaffee genommen – oder es zumindest versucht. Sie hustete aus vollem Halse. Mit rotem Gesicht und tränenden Augen fragte sie dann: »Habe ich das richtig verstanden? Die Operationen am Gehirn fanden ohne Narkose statt?«

»Ja. Das ist üblich. Die Bereiche der Kopfhaut, in denen der Schädel geöffnet wird, werden mit Novocain betäubt.«

Sie schluckte. »Ich stelle mir das mal vor«, sagte sie. »Da lässt sich also jemand auf den Operationstisch legen, bekommt eine Spritze in die Kopfhaut, schaut dann zu, wie der Arzt das Skalpell zückt und schneidet. Er spürt wahrscheinlich das Ziehen, wenn die Kopfhaut weggeklappt wird, sieht, wie der Arzt die Säge nimmt, hört, wie die Säge den Schädelknochen aufsägt, und spürt vermutlich die Vibrationen. Dann, bevor sie ihm ein Stück Gehirn rausschneiden, fängt einer der Kerle auch noch an, seine Großhirnrinde unter Strom zu setzen? Freiwillig? Das ist doch der Wahnsinn.« Sie war jetzt nicht mehr rot, sondern eher etwas blass um die Nase. Und sie hatte ihn verunsichert. Er hatte Bilder von den Operationen gesehen. Aber bisher hatte er sich nie in die Patienten hineinversetzt. Auf den Bildern schienen sie immer ganz gefasst.

»Klingt ein bisschen eklig, was?«, fragte er.

»Eklig und kaum vorstellbar.«

Wollte sie damit andeuten, die Chirurgen hätten die Patienten zur Lokalanästhesie gezwungen, nachdem sie aus niederen Instinkten heraus im Namen der Forschung irgendwie die Erlaubnis erpresst hatten, sie schlachten zu dürfen?

»Es war damals – und ist auch heute noch – nicht ungefährlich, jemanden unter Vollnarkose zu setzen. Früher sind dabei viele Patienten nicht mehr aufgewacht. Und, wie gesagt, das Gehirn ist schmerzunempfindlich. Die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt wird ja auch nicht unter Vollnarkose durchgeführt, obwohl du es da ordentlich knacken hörst. Außerdem lagen die Patienten so, dass sie den Arzt nicht sehen konnten. Ein Assistent unterhielt sich mit ihnen, und sie mussten zum Beispiel Texte vorlesen. Die Reizung der Hirnrinde findet übrigens deshalb statt, weil man genau feststellen will, wo die Sprachzentren und andere wichtige Bereiche liegen, von denen man möglichst nichts wegschneiden will. Wenn die Elektroden beispielsweise auf die Sprachzentren stoßen, dann können die Patienten mit einem Male nicht mehr reden. Das läuft heute noch genauso.«

Sie schien noch immer nicht überzeugt, dass alles mit rechten Dingen zuging. Musste er jetzt als Verteidiger der Hirnchirurgie auftreten? Er sollte ihr doch nur erklären, was hier am Institut geschah. Ihre Reaktion enttäuschte ihn. Und die Vorstellung, sie könnte ihn für einen gefühllosen Klotz halten, gefiel ihm gar nicht.

»Ich kann mir schon vorstellen, dass einen diese Vorstellung befremdet. Aber die Patienten empfinden diese Operation offenbar nicht als schlimm. Und Penfield stimulierte die Großhirnrinde mit winzigen Stromimpulsen.«

Sebastian holte ein Heft aus der Jackentasche, schlug eine Seite auf und zeigte sie ihr. »Das ist ein Artikel von Penfield und Perot in der Zeitschrift ›Brain‹ aus dem Jahr 1963«, erklärte er.

Zwei Fotos waren zu sehen. Auf dem einen war der Kopf einer jungen Frau abgebildet, kahl rasiert, auf die Kopfhaut hatte jemand Linien gezeichnet. Das zweite Bild zeigte die freigelegte Großhirnrinde. Der Frau hatte man offensichtlich die halbe Schädeldecke abgehoben.

»Bei der Stimulation bestimmter Bereiche begannen die Patienten jedenfalls plötzlich zu erzählen, dass sie Ereignisse aus ihrer Vergangenheit wiedererlebten. Es waren oft Erinnerungen, die plötzlich auftauchten und die die Patienten vergessen hatten. Über diese so genannten Traumzustände schreibt Penfield: ›Es war, als würde ein vergangener Strom von Bewusstsein während dieser elektrischen Stimulation wiedergewonnen‹. Die Patienten selbst hatten nicht das Gefühl, einen Film über die Vergangenheit zu sehen. Für sie war das die Gegenwart. Sie waren zwar im Operationssaal und wussten das, aber zugleich waren sie beispielsweise zu Hause in ihrem Garten.«

Mit einer gewissen Genugtuung stellte er fest, wie konzentriert Sareah auf die Abbildungen schaute. Es schien sie wirklich zu interessieren. Während er weitersprach, fand er den Mut, für länger als zwei Sekunden in ihre Augen zu sehen. Sie waren eher braun als grün.

»Die Erinnerungen kamen vor allem dann hoch, wenn im so genannten Assoziationscortex gereizt wurde«, fuhr er fort.

»Also mussten die Erinnerungen in der Großhirnrinde sitzen. Allzeit abrufbereit.« Sie stellte keine Frage, es war eine Feststellung.

»So ungefähr. Man muss allerdings zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis unterscheiden. Bis jetzt haben wir vom Langzeitgedächtnis gesprochen. Inzwischen können wir am Institut aber auch im Hippocampus stimulieren. Das ist der Hirnteil, in dem, vereinfacht gesagt, das Kurzzeitgedächtnis sitzt. Von hier aus werden dann wichtige Erinnerungen auf die Bereiche im Großhirn übertragen, wo sie langfristig gespeichert werden.«

»Und wo taucht eine Erinnerung nun eigentlich auf?«, fragte Sareah.

»Man müsste wohl eher fragen: Wo und wie setzt sie sich zusammen? Ein Bild aus der Vergangenheit ist nicht als Einheit gespeichert, sondern beruht auf einem Komplex von Informationen. Um das zu verstehen, muss man sich klar machen, wie unsere Wahrnehmung funktioniert.«

Er merkte, dass er sich am Kinn herumzupfte. Das sah vermutlich ziemlich dämlich aus, dachte er und riss die Hand herunter. Er konzentrierte sich und sprach weiter.

»Wenn wir etwas sehen, bedeutet das, die Lichtrezeptoren in der Netzhaut unseres Auges werden gereizt. Dadurch werden Nervenzellen aktiviert, die elektrische Signale in unser Gehirn weiterleiten. Unsere ganze Wahrnehmung besteht aus Millionen Stromimpulsen im Millivoltbereich: den Cajal’schen ›Flügelschlägen der rätselhaften Schmetterlinge der Seele‹.«

»Den was?«, fragte die Journalistin.

»Den ›Schmetterlingen der Seele‹. Ein Ausdruck von Santiago Ramon y Cajal, dem Begründer der modernen Neurowissenschaften. Hat Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Nobelpreis bekommen. Ich mag den Ausdruck. Egal. Von unseren Augen werden die Nervenimpulse in unseren Hinterkopf weitergeleitet, zur so genannten Sehrinde des Gehirns, und von dort weiter zu Bereichen der Großhirnrinde, die auf ganz unterschiedliche Aufgaben spezialisiert sind. Es gibt zum Beispiel Gebiete, wo die Wellenlängen des Lichtes, also die Farbe von Objekten, identifiziert wird. Andere Hirnregionen verarbeiten horizontale oder vertikale Strukturen und lassen uns so die Form eines Gegenstandes erkennen. Und dann gibt es wieder Stellen auf der Großhirnrinde, die darauf spezialisiert sind, Bewegungen zu erkennen.«

Während er sprach, hatte Sebastian der Journalistin immer wieder forschend ins Gesicht geschaut. Noch lauschte sie aufmerksam.

»Welcher Bereich des Gehirns wozu dient, stellt man vor allem dann fest, wenn er beschädigt ist. Da gibt es beispielsweise eine Region im Schläfenlappen des Gehirns . . .«, er machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Kaffee, ». . . jedenfalls gibt es dort Zellen, die nur auf ganz bestimmte Dinge reagieren, etwa auf Gesichter. Wenn das Gehirn dort beschädigt ist, dann kann es zur so genannten Prosopagnosis kommen – der Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen.«

»Klingt seltsam. Ich sehe also jemanden und erkenne nicht, dass da ein Gesicht zwischen den Ohren sitzt?«

»Genau. Wobei diese Zellen allerdings nicht nur für das Erkennen von Gesichtern gebraucht werden. Sie dienen grundsätzlich dazu, ähnliche Objekte auseinander zu halten, die für uns eine wichtige Rolle spielen. Neben Gesichtern können das bei einem Autofan auch die verschiedenen Automobil-Marken sein oder Vogelarten bei Ornithologen. Aber bleiben wir bei Gesichtern. Ein Gesicht wird nicht einfach als Ganzes abgespeichert. Nehmen wir zum Beispiel das Gesicht deines Freundes.«

Das war nun wirklich plump und durchschaubar. In dem Augenblick, da er es sagte, war es ihm auch schon peinlich. Zum Glück wurden nur seine Ohren heiß. Sie schaute ihn an und lächelte wie Mona Lisa. Irgendwie gelang es ihm, stotterfrei weiterzusprechen. »Stell dir das so vor: Unsere Erinnerung an ein Gesicht selbst besteht nur in der Anleitung, auf welche Art das Gesicht zusammengesetzt wird. Eine Nase, zwei Augen, Mund, Ohren machen ein Gesicht. Die Informationen Nase groß, Augen klein, Ohren abstehend . . . diese Informationen werden separat gespeichert. Deshalb empfinde ich zwei Gesichter vielleicht als ähnlich, die dir sehr verschieden vorkommen. In deinem Speicher wird das Kennzeichen Ohrgröße stärker betont als in meinem, dafür spielt die Nase keine so große Rolle. Wir arbeiten mit dem gleichen System, aber wir füttern es mit etwas anderen Informationen, die wir aus der Umwelt erhalten und aus verschiedenen Gründen unterschiedlich gewichtet abspeichern.« Er hatte richtig flüssig gesprochen. Erleichtert holte er Luft.

»Ich fasse mal zusammen«, fuhr er fort. »Es werden also viele verschiedene Teile eines einzelnen Bildes getrennt in verschiedenen Hirnregionen verarbeitet, und trotzdem entsteht ein einheitliches Bild. Wie geht das vor sich?« Sebastian hatte den letzten Satz als Frage formuliert und bereute sofort den oberlehrerhaften Ton.

»Zum einen«, fuhr er mutig fort, »werden ganze Gruppen von Nervenzellen in den angesprochenen Gebieten aktiv. Zum anderen stehen die Gebiete untereinander in Kontakt, und die Nervenzellgruppen, die an der Erzeugung des Bildes beteiligt sind, feuern gleichzeitig. Die ›Schmetterlinge der Seele‹ schlagen sozusagen im Gleichtakt mit den Flügeln und fliegen in Formation.«

Sie sah ihn an. Als er ihren Blick erwiderte, sah sie ein kleines bisschen erstaunt aus.

»Es entsteht also ein netzartiges Geflecht aktiver Nervenzellen, das dieses Bild in unserem Kopf spiegelt.« Er machte eine kurze Pause. »Das, was ich hier vor mir sehe«, er blickte auf ihre Bluse, die so weit aufgeknöpft war, dass man nur knapp nicht erkennen konnte, ob sie etwas darunter trug, »führt in meinem Kopf zu einem Muster elektrischer Ströme in verschiedenen Bereichen meines Gehirns. Und wenn ich mich daran erinnere, dann taucht dieses Muster – oder zumindest eines, das dem Original sehr ähnlich ist – wieder auf. Diese Informationen laufen schließlich in einer Region hier vorn zusammen.« Er klopfte sich gegen die Stirn. »Hier sitzt das so genannte Arbeitsgedächtnis. Dieses Gebiet ist mit etlichen Bereichen der Großhirnrinde verbunden, aber auch mit anderen Teilen des Hirns, die etwa mit den Gefühlen zu tun haben. Im Arbeitsgedächtnis werden die Informationen aus der Erinnerung ähnlich verarbeitet wie aktuelle Informationen. Altes und Neues wird dort auch verglichen, angeglichen und verwendet, um beispielsweise eigene Handlungen vor dem Hintergrund von Erfahrungen und Wissen zu planen. Es kommt zu einem Aktivitätsmuster im Gehirn, das ein Inneres Bild von einem vergangenen Ereignis erzeugt.«

Sie schaute auf die Uhr. Langweilte er sie? Dann beugte sie sich ein Stück vor. Nach einem kurzen, spannenden Augenblick stellte Sebastian fest, dass sie einen BH trug. Bravo, dachte er, das hat Stil.

»Also gut, das habe ich so weit verstanden«, erklärte sie. Der Kaffee war inzwischen kalt. Sareah schlug leicht mit der flachen Hand auf den Tisch und schaltete das Aufnahmegerät aus. »Wie wär’s mit einem frischen Kaffee?«

Als er mit den Tassen zurückkam, schrieb sie etwas in einen kleinen Schnellhefter. Sie bemerkte seinen neugierigen Blick. »Nur ein paar Notizen zur Person.«

Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was sie meinte. Brennend gern hätte er gewusst, was sie da schrieb. Vielleicht: Nervöser junger Mann . . .? Oder: Leicht verständlich veranschaulicht er komplexe Zusammenhänge? Er stellte ihr den Kaffee hin, während sie den Hefter zurück in ihre Tasche schob. Sareahs Zigarettenschachtel lag noch auf dem Tisch und sandte unwiderstehliche Reize aus.

»Vielleicht doch noch eine Zigarette?« Sie hielt ihm die Packung hin und gab ihm Feuer. »Okay, wie lässt sich nun diese Erinnerung außerhalb des Körpers abspeichern, wenn das alles so kompliziert ist?« fragte sie dann und schaltete wieder ein.

»Das ist eine der Fragen, auf die man hier am Institut die Antwort gefunden hat. Sebastian merkte, dass in seiner Stimme ein gewisser Stolz mitschwang, und rief sich zur Ordnung: schließlich war das nicht sein Verdienst. »Die Informationen, die von den verschiedenen Regionen des Hirns gesendet werden, laufen durch eine Art Flaschenhals, bevor sie das Arbeitsgedächtnis erreichen: den Raab’schen Kanal«, erklärte Sebastian.

Er machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob der Name bei ihr eine Reaktion hervorrief. Aber sie schien nur darauf zu warten, dass er weitersprach.

»Dieser Flaschenhals«, fuhr er fort, »sitzt genau in der Mitte des Stirnlappens, im so genannten Sulcus principalis, und man kann mit einigen Elektroden ein vierdimensionales Bild der elektrischen Impulse aufnehmen. Ein dreidimensionales Muster über die Zeit. Wenn das Gedächtnis aktiviert wird und ein Erinnerungsfilm abläuft, dann können wir ein SP-Muster, ein Sulcus-principalis-Muster, ableiten. Und in unserem Großrechner speichern. Wir nennen das einen Memo-Scan.«

»Und wer lässt sich Elektroden in seinen Sulcus jagen?« fragte Sareah.

»Zuerst waren die Versuchspersonen vor allem Menschen mit Schädelverletzungen, meist Motorradfahrer. Dann gibt es immer wieder Patienten mit Hirnblutungen und Tumoren, die operiert werden müssen. Bei diesen Operationen wurden die ersten Versuche nebenbei gemacht – mit dem Einverständnis der Patienten natürlich. Doch die abgeleiteten Muster waren völlig chaotisch. Heute wird nur noch an Leichen gearbeitet. Wir stimulieren bei ihnen verschiedene Regionen der Großhirnrinde, von denen wir annehmen, dass sie zum Assoziationscortex gehören, und leiten gleichzeitig mit Elektroden die Aktivitätsmuster vom Sulcus principalis ab.«

»Leichen?« Die Journalistin schien erstaunt.

»Ja. In vielen Studien werden Leichen verwendet. Es gibt eine Menge Leute, die ihren Körper der Wissenschaft vermachen. Medizinstudenten können an ihnen Operationen üben, oder sie dienen dem Institut für Forschungszwecke.«

»Und wie bekommt ihr die gespeicherten Erinnerungen wieder in ein lebendes Hirn zurück?«, fragte sie.

»Dafür gibt es besondere Elektroden, die nicht mehr ins Gehirn selbst eingeführt werden müssen. Sie geben keine Stromimpulse ab, sondern bauen um den Kopf herum Magnetfelder auf. An bestimmten Stellen, die man flexibel einstellen kann, lassen sich dadurch Hirnströme gezielt stören und auslösen. Ich gehe hier nicht ins Detail, okay? Das wird ziemlich technisch.«

Sareah nickte.

»Also, die gespeicherten SP-Aktivitätsmuster werden nun über solche Magnetfelder auf den Flaschenhals eines Gedächtnis-Empfängers übertragen. Man klinkt sich zwischen die Orte der Erinnerung des Empfängers und seinem Arbeitsgedächtnis ein. Und tatsächlich kommen im Arbeitsgedächtnis elektrische Ströme an, die ungefähr das gleiche Muster bilden wie im Arbeitsgedächtnis des Toten, wenn der sich selbst zu Lebzeiten an etwas erinnert hätte. Die Bilder sind oft verschwommen. Das Gehirn ist bei jedem Menschen etwas anders aufgebaut, deshalb funktioniert nicht jede Übertragung. Insgesamt klappt es aber oft genug, um damit zu arbeiten.«

Wieder schlug Sareah mit der flachen Hand auf den Tisch. Diese Angewohnheit irritierte Sebastian ein wenig. Vielleicht war ja auch genau das die Absicht?

»Also«, sagte sie. »Was genau treibt ihr denn nun eigentlich? Bisher hört man von euer Arbeit in der Öffentlichkeit nur wenig.«

»Das liegt aber nicht daran, dass wir uns verstecken«, erwiderte Sebastian. »Das Interesse der Öffentlichkeit ist einfach nicht besonders groß. Die Hirnforschung war immer eine Angelegenheit, die fast nur Hirnforscher beschäftigt hat und vielleicht noch eine Hand voll Psychologen und Philosophen auf der Suche nach dem Geist in der Maschine. Und das hat sich bis heute kaum geändert.«

Er sah ihr jetzt direkt in die Augen und bemühte sich um einen eindringlichen Blick. »Du hattest ja von Penfield bisher auch noch nichts gehört. Kennst du dieses Männlein mit dicken Lippen und großer Zunge, das manchmal gezeigt wird, wenn es darum geht, wie unterschiedlich sensibel unsere Körperteile sind?«

Sareah nickte.

»Es stellt dar, wie stark unsere Körperteile im Gehirn repräsentiert werden. Je empfindlicher ein Körperteil, desto größer der Hirnbereich, der dafür zur Verfügung steht. Dieser Homunkulus geht auf Penfield zurück.«

Sareah nickte nachdenklich. »Und was ist nun der Sinn dieser ganzen Gedächtnis-Speicherung? Wozu dient das, was ihr hier macht?«

»Zuallererst ist es natürlich Grundlagenforschung. Wir beschäftigen uns mit den Fragen, wie das menschliche Gehirn funktioniert und was den menschlichen Geist ausmacht.«

»Der Geist in der Maschine und so.«

Er grinste und sprach weiter: »Anhand der Wiedergabequalität lässt sich zum Beispiel feststellen, wie genau wir das Gedächtnis aktivieren können. Aber wir könnten auch etwas über Ereignisse im Leben von Menschen herausfinden, die für die Gesellschaft von Bedeutung sind. Wir hätten vielleicht nachweisen können, ob Lee Harvey Oswald der Kennedy-Mörder war oder ob die Kubaner dahinter gesteckt haben. Wenn wir Erinnerungen aus dem Hippocampus holen können, dann ist es auch möglich, aus dem Gehirn von Mordopfern Informationen über den Täter zu gewinnen. Natürlich nur, wenn das Opfer selbst etwas gesehen hat und die Informationen die Zeit hatten, im Hippocampus gespeichert zu werden. Aber es dauert lange, bis man unter all den verworrenen Erinnerungen, die man ja zufällig abspeichert, die richtige gefunden hat. Und selbst dann gibt sie oft genug nichts her. Deshalb kann die Polizei mit unserer Methode nur wenig anfangen. Dreimal hat das Institut bisher mit der Polizei zusammengearbeitet, und nur in einem Fall war es nützlich.«

»Und was ist mit Spionage, militärischen Geheimnissen und so weiter? So nach dem Motto, wenn der Spion nicht redet, dann untersuchen wir sein Gehirn?«

Er lachte. Die Sorge konnte er ihr schnell vertreiben.

»Es gibt sicher bessere Methoden, um Menschen ihre Geheimnisse zu ›entlocken‹. Nicht, dass ich mich damit auskenne. Aber es gibt ein echtes Problem. Wir können zwar bei lebenden Menschen die Erinnerungen mithilfe von Elektroden auslösen, wie Penfield es schon gemacht hat. Aber bei lebenden Menschen gelingt es nicht, die Erinnerungen auf dem Computer zu speichern. Da läuft im Gehirn ja nicht nur der Erinnerungsfilm ab, sondern gleichzeitig werden im Arbeitsgedächtnis die Erinnerungen mit aktuellen Informationen abgestimmt und so weiter. Arbeitsgedächtnis und Flaschenhals liegen zu dicht beieinander. Die Aktivitäten, die wir bei lebenden Menschen ableiten, ergeben immer ein völliges Chaos. Erinnerungsfilme zu speichern gelingt bislang nur bei Toten. Und ich vermute, dem Geheimdienst ist ein lebender Spion lieber als ein toter. Da können sie ihre bewährten Methoden anwenden.«

»Und was ist mit Gehirnwäsche, indem man Menschen mit falschen Erinnerungen ausstattet? Indem man diese vierdimensionalen Muster künstlich herstellt?«

»Interessante Idee. Aber das scheitert schlicht daran, dass diese Muster zu kompliziert sind. Wenn ich jemandem die Erinnerung an ein rotes Auto einpflanzen wollte, dann müsste ich ja das Muster für ein rotes Auto herausfinden, das in sein Gehirn passt. Auf einem Computerbildschirm dargestellt, sieht ein solches Muster ungefähr so aus, als würde man in ein Klo schauen, in dem jemand Millionen von Glühwürmchen herunterspült. Nein, ich glaube, für diese Spionagegeschichten taugt die Technik nicht. Wir sind höchstens für die Polizei interessant, wenn überhaupt. Wir sind auf der richtigen Seite.«

»Kommt darauf an, auf welcher Seite die Polizei ist«, sagte sie und klang dabei sehr ernst. Was meinte sie denn damit, fragte sich Sebastian. Hatte sie Probleme mit der Polizei? Na ja, ging ihn ja nichts an.

Mit einem Knacken schaltete sich das Aufnahmegerät ab. Sareah nahm das Band heraus und legte ein neues ein. Sebastian nutzte die Pause, um eine weitere Zigarette bei ihr zu schnorren. Schweigend rauchten sie eine Weile. Dann schaltete die Journalistin den Rekorder wieder ein.

»Und was hältst du von Ideen wie in dem Film ›Strange Days‹, wo Träume und Erinnerungen wie Drogen gehandelt werden?«

»Die Technik, die man braucht, um an Erinnerungen heranzukommen und sie jemandem wieder zugänglich zu machen, ist so kompliziert, dass so etwas kaum vorstellbar ist. Bisher klappt das nur in Hollywood.«

»Okay, vielen Dank. Im Augenblick fällt mir nichts mehr ein, das ich dich fragen müsste«, erklärte Sareah. »Aber es kann natürlich sein, dass ich beim Bearbeiten noch Fragen habe. Kann ich dich anrufen?«

Er gab ihr seine Telefonnummern und E-Mail-Adresse. Immerhin, dachte er. Das ist doch ein Fuß in der Tür.

»Wie kommt man eigentlich dazu, hier zu studieren?«, fragte Sareah Anderwald. »Gibt es Schlüsselerlebnisse, motivierende Biologielehrer? Wie bist du auf die Idee gekommen?«

Sebastian freute sich, dass das Interview wider Erwarten doch noch nicht vorüber war. Aber er wunderte sich. Hielt sie ihn zum Narren, oder konnte sie sich wirklich nicht denken, wieso er auf diesen Weg geraten war?

»Bei mir war es beides«, erklärte er, »Schlüsselerlebnis und motivierender Biologielehrer. Sozusagen in einer Person. Das liegt doch auf der Hand, oder?«

Sie schaute ihn fragend an.

»Meinen Namen kennst du ja«, sagte Sebastian. »Hast du dich mit dem Institut beschäftigt? Weißt du, wer der Direktor ist, zum Beispiel?« Hoffentlich klang das jetzt nicht arrogant, dachte er.

Sie legte die Hand über die Augen und lachte. »Natürlich. Dein Vater.«

Er nickte. »Ich hatte diesen ›motivierenden Lehrer‹ mein Leben lang um mich.« Ohne selbst zu wissen, wieso, fügte er hinzu: »In dieser Beziehung motivierend jedenfalls.« Wieso mache ich so eine Andeutung, fragte er sich. Schließlich war sie ja keine Briefkastentante. »Ich hatte sozusagen ein chronisches Schlüsselerlebnis«, fuhr er fort.

Sareah Anderwald wurde ernst. »Dein Vater liegt im Sterben, nicht wahr? Das tut mir Leid.«

Sie klang aufrichtig. Ob es gespielt war? Dann bekam sie es jedenfalls gut hin.

»Ich kann mir denken, wie es dir geht. Mein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben, und ich habe danach erst gemerkt, wie wichtig er für mich war. Nicht etwa, weil er so sehr für mich da gewesen war oder weil wir uns so gut verstanden hatten. Aber da war eben jemand, der . . . ich weiß auch nicht.«

Sebastian spürte, dass sie es ernst meinte. Wieso war er immer so misstrauisch? Insgeheim bat er sie um Entschuldigung.

»Ist schon okay. Ich komme damit klar. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr verstanden und kaum noch miteinander geredet. Und ich glaube, ich habe es noch gar nicht wirklich begriffen.« Er strich sich nachdenklich über die unrasierte Wange. »Irre ist allerdings, wie das Ganze passiert ist. Bisher ist darüber nicht allzu viel bekannt geworden – interessiert dich das?«

Er fand es plötzlich nicht mehr abwegig, ihr davon zu erzählen. Es war irgendwie in Ordnung. Vielleicht wegen der Art, wie sie von ihrem eigenen Vater gesprochen hatte.

»Aber das ist jetzt wirklich off the records, ja?«, bat er sie. »Ich habe keine Lust, morgen davon in der Zeitung zu lesen.«

»Versprochen.«

Sie hörte gebannt zu, während es plötzlich nur so aus ihm heraussprudelte. Danach schwiegen sie eine ganze Weile.

Sareah war es schließlich, die das Wort ergriff. »Seltsam, das Ganze. Viele Selbstmörder verschaffen sich auf die skurrilste Art und Weise eine letzte große Schau, als ob sie der Welt sagen wollten: Hier bin ich, nehmt mich wenigstens jetzt wahr. Aber bei deinem Vater steckt doch irgendetwas anderes dahinter. Der brauchte doch sicherlich nicht diese Art von Aufmerksamkeit? Welchen Reim macht sich die Polizei eigentlich auf die Geschichte?«

»Sie gehen von einem Selbstmord aus. Er soll sich betrunken und umgebracht haben.«

»Weißt du, was? Irgendwas ist doch da faul an der Sache, das spüre ich. Hältst du mich auf dem Laufenden?« Sie fingerte eine Visitenkarte aus ihrer Brieftasche. Während Sebastian sie in seinem Geldbeutel verstaute, versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Dann kam also nicht nur ihm die Sache seltsam vor?

Sie schaute auf die Uhr. »Ich müsste eigentlich los.«

»Eigentlich?« Gab es eine Chance, ihre Anwesenheit zu verlängern? Sollte er sie überreden, noch einen Kaffee mit ihm zu trinken, mit ihm essen zu gehen, sich seine Leere-Marmeladenglas-Sammlung zu Hause anzusehen, den Rest des Lebens mit ihm zu teilen?

»Nein, nicht eigentlich, sondern tatsächlich«, erklärte sie. »Ich muss gleich noch jemanden am Flughafen abholen, den ich lange nicht gesehen habe.«

Keine Chance, dachte Sebastian. Schade. Vielleicht sollte ich mich einfach in einen Sack einnähen und von der Brücke in die Isar stürzen.

Sie stand auf, schaltete das Aufnahmegerät aus und steckte es in die Tasche.

»Ja, dann . . .«

»Ich bedanke mich für Ihr Interesse im Namen des Instituts.« Sebastian griff lächelnd nach ihrer Hand und hielt sie fest.

Sie lachte. Die Linien um ihre Mundwinkel vertieften sich dabei. Sogar ihr Lachen wirkte energisch.

»Jedenfalls danke ich für dein Interesse an der Geschichte mit meinem Vater«, sagte Sebastian mit trockenem Mund. »So oder so.«

Jetzt lächelte sie. Sie hatte ihn verstanden. »So!«

Ihre Hand war kühl, und ihr Händedruck wirkte, als sei sie mit drei großen Brüdern aufgewachsen. Sebastian hätte diese Hand gern an den Mund geführt und geküsst, mit ihren Fingern gespielt . . .

Sareah rauschte davon. Er sah ihr nach und hoffte vergeblich, dass sie sich noch einmal umdrehen würde.

Blödmann, schimpfte er sich selbst. Hatte er wenigstens fachlich halbwegs geglänzt? Hatte er ihr etwas von der Faszination vermitteln können, die für ihn von dem Institut ausging? Dazu musste man wohl erst einmal grundsätzlich gefesselt sein von diesem seltsamen Ding, dem Gehirn, und seinen Fähigkeiten, seinen . . . ja, Geheimnissen.

Tausend Dinge fielen ihm plötzlich ein, die er ihr gern erzählt hätte. Über seine Arbeit am Institut, sein Studium – und auch ganz Persönliches. Woher kam dieses große Bedürfnis, mit dieser Fremden zu reden? Er hatte doch seine Freunde? Vermisste er die Frauen so sehr? Oder eher: eine Frau? Herrgott, schalt Sebastian sich selbst, du bist verknallt, Sebastian. Bis über beide Ohren. Das kommt vor, wenn man die vierzehn hinter sich gelassen hat, schon vergessen? Pfeif auf den ganzen Laienpsychologiekram. Es ist ganz natürlich, dass du . . . den Wunsch verspürst, ihre Karte aus dem Geldbeutel zu holen und ihre Nummer zu wählen? Sie konnte noch nicht einmal das Gebäude verlassen haben. Wenn mich jetzt jemand so grinsen sieht, dann hält er mich vermutlich für einen Irren, dachte er. Und irgendwie hätte er Recht, vor allem angesichts der Tatsache, dass ich mich ausgerechnet an dem Tag verliebe, an dem mein Vater sterben wird.