Nachwort von Christof Koch

Mit ›Furor‹ hat Markus C. Schulte von Drach einen Wissenschafts- und Politthriller im Stil Michael Crichtons geschaffen, der sich mit einigen der negativen Folgen unserer ständig wachsenden Möglichkeiten, das menschliche Gehirn zu manipulieren, beschäftigt. Man darf diesen gut konstruierten Roman jedoch keinesfalls mit Science fiction verwechseln, verfasst von einem Wissenschafts-Freak für andere Wissenschafts-Freaks. Die in dem Buch angesprochenen Themen sind sehr real und erfordern eine ernsthafte und nachhaltige Auseinandersetzung in der breiten Öffentlichkeit. Denn jeder von uns wird mit den Konsequenzen dieser schon bald realisierten Techniken leben müssen.

Tatsächlich erleben wir gerade die Entstehung der so genannten Neuro-Ethik, einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit den sozialen, juristischen und ethischen Konsequenzen der modernen Neurowissenschaften beschäftigt. Doch warum die ganze Aufregung? Wieso diese Hektik? Ganz einfach: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Nervensystem von Tieren und Menschen haben inzwischen eine Reife erlangt, die es uns erlaubt, unser Wissen praktisch und therapeutisch umzusetzen.

Die Bandbreite der Anwendung ist enorm: Sie reicht von profanen, nüchternen Methoden bis hin zu bizarren und bewusstseinsverändernden Techniken. Für den interessierten Leser hier ein paar Beispiele der Themen, mit denen sich die Ethiker gerade jetzt auseinandersetzen müssen – und die aufzeigen, welche Relevanz ›Furor‹ in der Tat hat.

Ein Bereich umfasst die sogenannten bildgebenden Verfahren (Brain Imaging): Mit Methoden wie der Kernspintomographie lassen sich anatomische und neuronale Anzeichen von Krankheiten wie Schizophrenie, Autismus oder Depressionen identifizieren. Doch wie verlässlich sind diese Hinweise? Und wenn eine Depression charakterisiert ist durch neuronale Aktivitäten in bestimmten Hirnregionen – oder das Fehlen dieser Aktivitäten –, gilt dann auch das Gegenteil? Neigt also jeder Mensch mit einem entsprechenden Profil der Hirnaktivität gleichermaßen zu Depressionen oder ist er gar schon depressiv? Mit anderen Worten: Ermöglicht bereits die Diagnose eines solchen Profils dem scharfsinnigen Arzt, die Neigung eines Menschen zu Depressionen für die Zukunft vorauszusagen? Oder lassen sich mit dieser Methode sogar Aussagen treffen über die Fähigkeit eines Menschen, seinen Ärger oder seine sexuellen Triebe zu kontrollieren? Könnten – und sollten – bildgebende Verfahren angewandt werden, um zukünftige schulische Leistungsfähigkeit zu beurteilen oder Bewerber von Krankenversicherungen zu checken? Kann auf ihrer Grundlage die Entscheidung gefällt werden, Gefangene lebenslänglich einzusperren, wenn sie möglicherweise eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen (z. B. Triebtäter)? Oder kann man mit ihrer Hilfe einen Selbstmordattentäter identifizieren, der gerade an Bord eines Flugzeugs geht? Die meisten dieser Fragen sind nicht wirklich neu, sie wurden bereits im Zusammenhang mit dem so genannten genetischen Fingerabdruck gestellt.

Ein weiteres problematisches Gebiet stellt die fortschreitende Entwicklung von Substanzen dar, die sehr gezielt auf bestimmte Systeme von Hirnbotenstoffen wirken.

Ein Beispiel dafür ist das Anti-Depressivum Fluctin (Prozac), von dem mehrere Tonnen jährlich allein in den USA konsumiert werden. Wo aber verläuft die Grenze zwischen dem legitimen Einsatz bei einem Patienten, der unter den lähmenden Folgen einer Depression leidet, und der missbräuchlichen Anwendung, um ihn einfach glücklich zu machen? (Man erinnere sich an Soma, die Droge, die in Aldous Huxleys ›Brave New World‹ die Menschen von allen existenziellen Ängsten befreit.) Ist der weitverbreitete Gebrauch von Ritalin wirklich gerechtfertigt, mit dem man versucht, unruhige Jungen von einem vermuteten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHD) zu heilen? Man denke an Vigil (Provigil), eine Tablette, die Menschen mit Narkolepsie und anderen Schlafstörungen hilft, ihren Schlaf zu regulieren. Diese Tabletten werden auch von Yuppies eingenommen, die eine durchfeierte Nacht hinter sich und einen arbeitsreichen Tag vor sich haben, oder von Soldaten hinter den feindlichen Linien, die über Tage in ständiger Alarmbereitschaft und einsatzbereit sein müssen.

Natürlich werden psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Haschisch oder Heroin seit Menschengedenken konsumiert: zur Entspannung, um zu vergessen, um zu träumen oder um Selbstvertrauen aufzubauen. Neu ist jedoch das Designen von immer zielgerichteteren, effizienteren, raffinierteren Drogen, die weniger unangenehme Nebenwirkungen haben – etwa Sucht oder Kater – und auf eine sehr spezifische Weise wirken. ›Furor‹ beschreibt die katastrophalen Folgen einer Droge, die Solidaritätsgefühle innerhalb einer Gruppe von Soldaten verstärken und gleichzeitig Misstrauen und Paranoia gegenüber allen anderen hervorrufen soll. Auch wenn es ein solches Mittel derzeit noch nicht gibt: Es ist im Bereich des Möglichen. Ob diese Droge aus rein praktischer Sicht tatsächlich erstrebenswert wäre, etwa um Armeen zu kontrollieren, ist eine andere Frage.

Große Hoffnung hatten Geheimdienste und Agenten weltweit auf sogenannte Wahrheitsdrogen gesetzt – allerdings vergeblich. Sie funktionieren nicht. Sodium Amytal, das sogenannte »Wahrheits-Serum«, hat sich bei Versuchen, Informationen aus unwilligen Personen zu holen, als unzuverlässig erwiesen. Unter dem Einfluss von Sodium-Amytal fängt der Befragte zwar an zu plaudern, doch was ausgeplaudert wird, ist meist ausgemachter Unsinn oder erfunden. Man verrät schließlich unter Narkose im Operationssaal dem Chirurgen auch nicht die Nummer seines Schweizer Bankkontos oder seine Liebesaffären.

Doch statt aus jemandem die Wahrheit herauszuzwingen, lässt sich ein Gehirn durchaus der Lügen überführen. Es ist möglich, dass bildgebende Verfahren zeigen könnten, ob eine bestimmte Hirnregion aktiv ist, wenn eine Person bewusst lügt. Man könnte sich dies als Lügendetektor vorstellen, der jedoch verlässlicher funktioniert als die klassischen Geräte, die die Hautfeuchtigkeit, den Blutdruck oder die Herzschläge überwachen, und so prüfen, ob man sich aufgrund einer Lüge aufregt. Aber auch Hirnbilder könnten hier möglicherweise versagen, wenn Gewohnheitslügner oder Soziopathen befragt werden, die sich beim Lügen nicht aufregen.

Und was ist mit noch weitergehenden Technologien? Wissenschaftlerteams in den USA leisten bereits jetzt bahnbrechende Arbeiten mit Neuro-Prothesen, die im Schädel in die Hirnsubstanz implantiert werden, um gelähmten Patienten zu ermöglichen, einen Rollstuhl oder einen Roboter allein über die Gedanken zu kontrollieren. Mit experimentellen Untersuchungen an Affen wurden bereits Hirnsignale identifiziert, die vom sensomotorischen zum motorischen Großhirnbereich gehen und für spezifische Bewegungen der Augen oder Glieder verantwortlich sind. Mit Hilfe einer Anordnung von Elektroden, die die elektrische Aktivität von Nervenzellen abhorchen, lässt sich zum Beispiel bestimmen, ob der Affe seine Hand hebt oder senkt, ob er sie nach links oder rechts bewegt. Dem Tier kann nun beigebracht werden, einen Cursor auf einem Bildschirm zu bewegen, indem es bloß an die Bewegung seiner Hand denkt.

Auch den nächsten Schritt hat eine neu gegründete US-Firma, Cyberkinetics, inzwischen vollzogen: Im Rahmen einer klinischen Pilotstudie mit Patienten, die ihre Hände aufgrund einer Verletzung der Wirbelsäule, eines Schlaganfalls oder Muskeldystrophie nicht mehr benutzen können, hat sie ein elektronisches Gerät in die Hirnrinde einer Versuchsperson eingesetzt. Das Cyberkinetics-System soll Nervensignale lesen, mit denen Muskeln kontrolliert werden. Zu diesem Zeitpunkt versteht die Neurowissenschaft allerdings die stärker zentral kodierten Gedächtnis-Signale noch nicht, die für das Aufrufen von detaillierten Erinnerungen wie in dem Film ›Paychek – Die Abrechnung‹, oder eben für Christian Raabes Memo-Scanner in ›Furor‹ notwendig sind.

Andere Geräte wurden entworfen, um Signale in die Hirnrinde zu senden, die die fehlenden Informationen zerstörter Augen oder Ohren ersetzen sollen. Wird die Sehrinde, der visuelle Cortex, über eine dort eingepflanzte Gruppe von Elektroden gereizt, so werden Phosphene wahrgenommen. Diese leicht erkennbaren Lichtblitze bieten für Patienten, die ihr Augenlicht etwa aufgrund einer Krebserkrankung oder anderer trauriger Umstände verloren haben, ein gewisses Maß an Information. Die optische Qualität dieser Signale ist zwar nur gering, etwa so, als sähe man die Welt über einen Schwarz-Weiß-Fernsehschirm mit einer Auflösung von 10 mal 10 Pixel. Für einen vollständig erblindeten Menschen aber ist es ein echter Segen.

Die Technologie der Neuroprothetik steckt noch in den Kinderschuhen. Wenn man jedoch bedenkt, mit welcher atemberaubenden Geschwindigkeit elektronische Schaltkreise schrumpfen und das Wissen um Moleküle und Neuronen wächst, so stellt man fest, dass es kein grundsätzliches wissenschaftliches Prinzip gibt, das waghalsige Medizintechniker daran hindern würde, letztlich auch lebensechte Bilder und Töne von höchster Qualität direkt in die Hirnrinde zu speisen, oder die feinen, sich ständig verändernden Signale im sogenannten Broca-Sprachzentrum abzulesen und in eine künstliche Stimme zu übersetzen, was zum Beispiel Patienten helfen würde, die nach einem Schlaganfall die Sprache verloren haben.

Aber warum sollte man hier aufhören? Warum sollte man diese Verfahren auf die Behandlung verletzter Patienten beschränken und nur ersetzen, was sie verloren haben? Warum sollte man nicht die Sinne erweitern und gesunden Menschen vollständig neue Fähigkeiten verleihen?

Während es schwierig ist, etwas Konkretes für die Zukunft vorherzusehen, so lässt sich aber mit Bestimmtheit sagen, dass sichere und verlässliche Hirn-Maschinen-Kopplungen (Interfaces) innerhalb weniger Jahrzehnte Realität werden. Diese Geräte könnten die Form von Schädelkappen haben, die elektromagnetische Strahlung in winzige Bereiche der darunter liegenden Hirnrinde senden, um gleichzeitig Nervenzellen zu stimulieren und ihre bio-elektrische Aktivität abzutasten. Ein wahrscheinlicheres Szenario stellt eine Art organo-elektrisches Gerät dar, das eine dauerhafte Verbindung zwischen einem konventionellen Computer innerhalb des Schädels und eigenen Hirn-Neuronen bildet, eine Verbindung, die wächst, während sich das Gehirn im Laufe des Lebens verändert. Mit einem passenden Sofware-Interface könnte dies eine nahtlose Erweiterung des eigenen Gehirns darstellen: Man denkt an etwas Abstraktes oder an ein zurückliegendes Ereignis, und der implantierte Chip findet die dazugehörenden Informationen sofort wieder. Nervensysteme sind so veränderbar und plastisch, dass sich die Methode nach einer kurzen Zeit der Anpassung völlig natürlich anfühlen würde. Tatsächlich würde man sich bald wundern, wie man vorher ohne ein solcherart künstlich erweitertes Gehirn leben konnte.

Allerdings müssen, damit selbst die primitivsten Anwendungen von Neuroprothesen erfolgreich sein können, noch beachtliche Hürden überwunden werden. Diese reichen von Abstoßungsreaktionen des Immunsystems, der Entstehung von Hitze und der langfristigen Stabilität der Verbindung zwischen Hirn und Maschine auf der technischen Seite bis zu dem dringend notwendigen Verständnis des Codes, der von den Hirnzellen genutzt wird, um sensorische, motorische und Erinnerungs-Informationen zu entschlüsseln und zu kommunizieren, auf der wissenschaftlichen Seite.

Wie ›Furor‹ ganz deutlich macht, wirft unsere zunehmende Fähigkeit, Gehirne zu verstehen und zu manipulieren, grundlegende ethische Fragen auf. Wer kontrolliert diese Technologie? Und mit welchen Motiven? Und wo sind die Grenzen – wenn es überhaupt welche gibt? Während die meisten Menschen wenig Probleme in Verfahren sehen dürften, die einem Behinderten dabei helfen, sich zu bewegen oder einem Menschen mit Depressionen ein aktives Leben zu ermöglichen, so verursacht der Gedanke, diese Technik im großen Rahmen mit dem Ziel anzuwenden, die sinnlichen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu verstärken, gemischte Reaktionen.

Manche Menschen glauben an die unendliche Formbarkeit des Individuums, die schier grenzenlosen Möglichkeiten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Körper und den Geist zu verbessern mit Hilfe von harter Arbeit, Training, Ausdauer, und durch den Einsatz von Chemikalien und Chirurgie (vom Working-out und der Einnahme von Vitaminpräparaten bis zu Schönheitsmitteln und Hormonen). Andere argumentieren auf der Basis religiöser Überzeugungen oder der Verantwortung für soziale Gerechtigkeit dafür, diesen rutschigen Weg nicht hinabzugehen – den Weg, der zum künstlich erweiterten oder perfektionierten Menschen führt.

Doch es gibt die durch die Neurowissenschaften ermöglichten Technologien nun einmal, und sie werden sich über die Jahre weiter entwickeln. Somit ist die eigentliche Frage nicht, ob wir sie nutzen sollten. Die Frage ist vielmehr, wie und unter welchen Umständen wir sie nutzen sollten. Angesichts der Bedeutung für die Medizin, die Gesellschaft und die langfristige Evolution der Gattung Mensch ist dies eine Debatte, an der sich jeder beteiligen sollte.

Christof Koch,

Pasadena, Juli 2004

(Aus dem Englischen übersetzt von

Markus C. Schulte von Drach)

Christof Koch, Jahrgang 1956, gilt international als einer der renommiertesten Bewusstseinsforscher. Koch ist Professor für Informationsverarbeitung und neuronale Systeme am California Institute of Technology (CalTech), Pasadena. Zuvor arbeitete er am Max-Planck-Institut für Bio-Kybernetik in Tübingen und am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge.