27. April, Nachmittag
Als er die Telefonzelle verließ, hörte er einen Hubschrauber ganz in der Nähe. Der Helikopter stand hoch über der Liebfrauenkirche in der Luft. Als Sebastian nach oben schaute, stolperte er beinahe über einen alten Mann, der quer auf dem Boden vor der Zelle lag und schnarchte. Als Sebastian sich umdrehte, sah er eine große Gruppe Penner und Punks. Das war keine Demonstration. Die Leute hatten sich wahrscheinlich hier eingefunden, weil man sie woanders verjagt hatte. Lange würden sie auch nicht auf dem Marienplatz bleiben, dachte Sebastian. Er konnte in einiger Entfernung die weißen Helme der Bereitschaftspolizisten leuchten sehen. Er bückte sich und zog den Alten auf die Füße.
»Hören Sie, es wäre besser, wenn Sie hier verschwinden. Da vorn kommen die Freunde und Helfer.«
Er zeigte in Richtung Kaufingerstraße. In der Fußgängerzone wichen die Passanten der Phalanx der Polizisten hastig aus. Der Alte kniff die Augen zusammen und starrte hinüber. Dann sah er verwundert in Sebastians Gesicht und verschwand.
Sebastian wollte gerade in Richtung U-Bahn verschwinden, als auch unter dem Torbogen des Alten Rathauses weiße Helme auftauchten. Die Punks wichen zurück. Alle Straßen, die auf den Marienplatz mündeten, waren plötzlich durch Einsatzkräfte blockiert. Ein bedrohliches Trommeln erfüllte die Luft – die Polizisten schlugen mit ihren Schlagstöcken rhythmisch auf ihre Schilder.
Die Passanten drängten sich in Hauseingänge und Geschäfte. Sebastian fand sich mit einigen anderen gegen die Panzerglasscheibe eines Schmuckgeschäftes gedrückt. Einer der Punks wurde von zwei Polizisten gepackt und fortgezogen. Sebastian kämpfte sich durch die Menschenmasse. Er wollte sehen, was auf dem Marienplatz geschah. Es war das erste Mal in eine solche Polizeiaktion geraten. In der Zeitung war immer von »innerstädtischen Säuberungen« die Rede, wenn die Einsatzkräfte Punks und Penner aus den Fußgängerzonen vertrieben. Dass das so gewaltsam vonstatten ging, damit hatte er nicht gerechnet. Die Punks lagen neben- und übereinander auf dem Pflaster und versuchten, den Schlagstöcken zu entgehen. Vielen von ihnen lief Blut von den Augenbrauen, aus Nasenlöchern und Mündern. Sebastian sah, wie ein Polizist den Schlagstock in seinen Stiefel steckte und vor dem Fischbrunnen auf ein junges Mädchen einzutreten begann.
Er spürte, wie ihn heißer Zorn überkam. Scheißbullen. Diese Gewalt war doch völlig sinnlos. Dieses Bullenpack war nicht besser als die Schweine, die es auch auf ihn abgesehen hatten. Plötzlich sah er Rot und stürzte sich auf den Polizisten, riss ihm den Knüppel aus dem Stiefel und stieß zu. Doch der Getroffene reagierte kaum. Seine Schutzweste hatte den Angriff abgewehrt. Sebastian sah aus dem Augenwinkel einen Schlagstock auf sich zukommen und wich aus. Der Knüppel sauste knapp über ihn hinweg und knallte dem stämmigen Kerl, der das Mädchen zusammengetreten hatte, gegen den Helm. Der Kopfschutz flog zur Seite und der Getroffene taumelte gegen den Brunnenrand. Sebastian war überrascht, als er das Gesicht des Polizisten sah. Mit dem getönten Helmvisier wirkten die Bullen wie Roboter. Jetzt sah er einen jungen Kerl, vielleicht achtzehn, und sein Kopf wirkte viel zu klein, viel zu zart für diese martialische Kampfausrüstung. Er trug einen dünnen blonden Schnurrbart – der verzweifelte Versuch eines Jugendlichen, seinem weichen Gesicht ein wenig Männlichkeit zu verpassen. Kinder, die Krieg spielen, dachte er. Endlich begriff er, dass es allerhöchste Zeit war zu verschwinden. Er rappelte sich auf und rannte los. Er hätte sich nicht einmischen sollen. Verdammt, er hatte weiß Gott genug Probleme. Ohne sich umzusehen, überquerte er den Platz und rannte in Richtung Viktualienmarkt. Hinter sich glaubte er die Absätze schwerer Stiefel auf das Pflaster schlagen zu hören. In der Hoffnung, seine Verfolger zwischen den Verkaufsständen abzuhängen, lief er quer über den Markt, bog dann ins Rosental ab und rannte durch den Färbergraben, bis er wieder in die Fußgängerzone gelangte. Völlig außer Atem drängte er sich im Zickzack durch die mit Tüten und Taschen bepackten Passanten auf der Neuhauser Straße Richtung Karlsplatz. Vielleicht hatten ihn die allgegenwärtigen Überwachungskameras aufgenommen? Scheiß drauf! Er hatte etwas getan. Etwas Sinnloses und Dummes – aber wenigstens etwas, das ihm kurzfristig ein Ventil verschafft hatte. Er hatte Lust, aus vollem Halse seine Befriedigung herauszuschreien.
Als er den Karlsplatz erreicht hatte, griff er im Laufen nach einem Laternenmast und schwang sich an ihm herum. Es war niemand hinter ihm her.
Mit einem irren Grinsen auf dem Gesicht betrat er das McDonald’s am Karlsplatz, und erschreckte ein halbes Dutzend Sechsjährige, die dort Geburtstag feierten.
Nach einigen Minuten verließ Sebastian den Imbiss und verschwand in den Katakomben der S- und U-Bahnen. Er lief eine lange, steile Rolltreppe hinunter, stieg in irgendeine Linie ein, um dann im letzten Augenblick durch die Tür wieder hinauszuspringen. Dann nahm er eine U-Bahn in die andere Richtung, als sich die Türen schon zu schließen begannen. Er verließ sie eine Station später, rannte zur Treppe, kehrte gleich wieder um und sprang in dieselbe U-Bahn wieder hinein. Nachdem er dieses Spiel eine Weile betrieben hatte, fand er, es sei genug. Er nahm die nächste Verbindung Richtung Rosenheimer Platz.
Er war eine Viertelstunde zu früh. Von seinem Platz in der Ecke des Restaurants aus beobachtete er den Eingang. Nur zwei Personen betraten den Raum nach ihm: Ein eleganter älterer Herr im Anzug, der ihm wohl kaum nachgerannt sein konnte, und ein junger Mann, der den Kellner zu kennen schien.
Fünf Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt trat Sareah ein. Sie nahm Sebastian in den Arm und begrüßte ihn mit einem langen Kuss.
»Sind wir allein?«, fragte sie. Er nickte. Plötzlich stand der ältere Mann im Anzug an ihrem Tisch, und Sareah begrüßte ihn. Sebastian erhob sich. Das also war Sareahs geheimnisvoller Bekannter.
»Christof Altmann«, stellte Sareah vor. Sebastian schüttelte ihm die Hand.
»Christof Altmann? Der Christof Altmann?«, fragte er überrascht.
Der Mann lächelte, wobei sich sein Gesicht in Tausende von Falten und Fältchen aufzulösen schien. »Kommt darauf an, welchen Altmann Sie meinen, nicht wahr?«
»Ich hatte an den Psychologen gedacht«, sagte Sebastian lachend.
»Dann steht wahrscheinlich der Richtige vor Ihnen. Allerdings habe ich mich immer eher als Neurologen gesehen.« Altmann lupfte seine Hose über den Knien und setzte sich. Dann fuhr er sich mit den Händen über sein graues Haar und versuchte vergeblich, es zu einer Frisur zu ordnen.
Sebastian hatte schon einiges über diesen Wissenschaftler gehört: eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Persönlichkeitsforschung. Hatte einige Zeit einen Lehrstuhl an der Harvard University in Cambridge, USA, inne gehabt und war dort Nachbar von Daniel Wegner gewesen. Sebastian glaubte sich an einen Artikel zu erinnern, den der Forscher zusammen mit Wegner und Daniel Dennett von der Tufts University in ›Science‹ veröffentlicht hatte. Allerdings hatte Altmann irgendwann begonnen, sich für Politik zu interessieren, und die Zahl seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen nahm stetig ab. Die Fotos, die seine Veröffentlichungen begleiteten, zeigten stets einen erheblich jüngeren Mann.
»Schön, wenn du Professor Altmann kennst. Du weißt wahrscheinlich, dass er einige Zeit für das Gesundheitsministerium gearbeitet hat. Zwischenzeitlich war er auch Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung.« Sareahs Wangen glühten.
»Inzwischen habe ich mich allerdings mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt, bemühe mich, ein Steven Jay Gould für die Hirnforschung zu werden, und lasse mich rufen, wenn ich gebraucht werde.« Altmann zog das Jackett aus und lockerte die Hosenträger, die darunter zum Vorschein kamen. Das Hemd, das er trug, war zwar nicht neu, aber von zeitloser Eleganz. Altmann nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Ich bin einmal Ihrem Vater begegnet. Das ist schon eine ganze Weile her. Ein hervorragender Wissenschaftler.« Er blickte Sebastian nachdenklich an. »Es tut mir sehr Leid, was ihm zugestoßen ist.«
»Sebastian, du kannst Professor Altmann vollkommen vertrauen. Erzähl ihm alles. Und dann erzählt dir Herr Altmann ebenfalls eine Geschichte.« Sie blickte zu Altmann hinüber. »Aber erst mal bestell ich uns was, ja?«
An der Theke diskutierte Sareah eine Weile mit dem Koch, offenbar stritten sie sich leise. Als sie sich wieder zu ihnen setzte, erklärte sie: »Der Koch hier würzt die Peking-Ente falsch. Er ist in Deutschland geboren und weiß von chinesischer Küche so viel wie ich vom Aufbau des menschlichen Gehirns.« Sie lächelte. Von der Theke hatte sie drei Gläser chinesischen Pflaumenwein mitgebracht und nippte an ihrem Getränk. Sebastian starrte gebannt in das Aquarium neben sich und spürte, wie Altmann ihn musterte. Der große Glaskasten, in dem bunte Kampffische schwammen, teilte den Raum in zwei Hälften. Die Beleuchtung des Aquariums und die roten Lampions an der Decke tauchten den Raum in gedämpftes Licht.
»Sebastian, wo bist du denn?« Sareah holte ihn mit einem Kuss aus seinen Gedanken. Er nahm einen Schluck von seinem Pflaumenwein. Dann begann er zu erzählen.
Altmann unterbrach ihn kein einziges Mal. Die Peking-Ente wurde gebracht, und sie aßen schweigend. Danach fuhr Sebastian fort. Als er von Peru berichtete, huschte ein Schatten über Altmanns Gesicht. »Wann war das?«, fragte er.
»Laut Tagebuch 1981.«
Christof Altmann nickte. »Da waren sie noch ganz schön dreist.«
Sebastian sah ihn fragend an, doch Altmann wollte erst Sebastians Geschichte zu Ende hören. Danach saßen sie eine ganze Weile schweigend am Tisch.
Sareah winkte den Kellner herbei und bestellte Tee. Sie sah Altmann sorgenvoll an. »Was meinen Sie?«
Altmann schüttelte den Kopf. Dann richtete er sich auf.
»Es ist so lange her. Aber aufgehört hat es nie.«
»Nein«, antwortete Sareah. »Und deshalb muss man sie stoppen.«
Altmann nickte. »Also, Sebastian. Ich darf Sie Sebastian nennen? Es gibt da etwas, das Sie wissen müssen.« Er seufzte und blickte sich um. Der Kellner kam und brachte grünen Tee. Sebastian warf ein Stück Kandiszucker hinein und hörte, wie er in der heißen Flüssigkeit knackte.
»Haben Sie jemals von einem Projekt namens MKULTRA gehört?«, fragte Altmann.
»Klingt wie Area 51 oder Majestic 12«, fand Sebastian. »Irgendwas aus den X-Akten.«
Christof Altmann lachte leise. »Anders als diese mysteriösen X-Akten des FBI gibt es diese Unterlagen der Regierungsbehörde CIA, die mit dem sehr realen Projekt MKULTRA zu tun haben, wirklich. Seit den siebziger Jahren veröffentlicht, der US-Senat hat sich damit beschäftigt. Wir reden hier also von der Realität.« Er rührte in seiner Teetasse. Dann sah er Sebastian in die Augen. »Sie können alles, was ich Ihnen erzähle, nachlesen. In der ›New York Times‹ zum Beispiel oder in einem Buch von John Marks.«
Sebastian nickte. Er spürte, dass er dem Alten vertrauen konnte. Altmann war kein Spinner.
»Die Geschichte von MKULTRA beginnt 1950. Damals kämpften UN-Truppen unter dem Kommando der USA in Korea, und man hörte bei der CIA davon, dass die Chinesen, die die Nordkoreaner unterstützten, ihre Gefangenen einer Gehirnwäsche unterzogen. Das hat die CIA natürlich interessiert. Die Behörde startete damals ein Programm namens BLUEBIRD, das sich ebenfalls mit Gehirnwäsche beschäftigte. Dann fingen sie an, neben Elektroschocks auch Drogen wie LSD zu testen. Das war Project ARTECHOKE. Und 1953 wurde dann Project MKULTRA ins Leben gerufen. Und das fasste nun eine ganze Reihe von Versuchen zusammen, unter anderem solche, mit denen die Behörde herausfinden wollte, wie man das Verhalten von Menschen gezielt manipulieren kann: Man begann Menschen so zu verwirren, dass sie sich durch auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit diskreditierten. Man versuchte herauszufinden, ob es mithilfe von Schallwellen möglich wäre, Gehirnerschütterungen zu erzeugen, die zu Gedächtnisverlusten führten, ohne dass nachweisbare Spuren zurückblieben.« Altmann hatte sehr leise gesprochen, so dass Sebastian sich über den Tisch gebeugt hatte, um ihn gut zu hören. Sareah drehte sich eine Zigarette. Sie schien das alles schon einmal gehört zu haben.
»Es sieht so aus, als hätten sich der Leiter von MKULTRA, Sidney Gottlieb, und der damalige CIA-Direktor Richard Helms selbst solchen Tests unterzogen«, fuhr Altmann fort und lachte bitter. »Zumindest konnten sie sich bei einer Befragung durch den US-Senat 1974 kaum noch an das Projekt erinnern. Ein Jahr zuvor hatten sie die Unterlagen zu dem Programm fast vollständig vernichtet, so dass man dem Geheimdienst nichts mehr nachweisen konnte. Und dann kamen die Medien ins Spiel, und ein Journalisten-Traum wurde Wirklichkeit.« Er schaute zu Sareah hinüber, die sich ihre Selbstgedrehte in den Mundwinkel gesteckt hatte und ein paar Tabakkrümel vom Tisch fegte.
Sareah verstand Altmanns Blick als Aufforderung und nahm die Zigarette wieder aus dem Mund: »1977 forderte ein Journalist, John Marks, im Rahmen des so genannten Freedom of Information Act, die Herausgabe aller CIA-Dokumente, die mit den Versuchen, das Verhalten von Menschen zu manipulieren, zu tun hatten. Und es geschah ein Wunder. Einige Kisten mit Unterlagen zur Finanzierung von MKULTRA-Teilprojekten wurden in einer CIA-Abteilung entdeckt, wo sie fälschlicherweise archiviert worden waren. Deshalb hatte man sie 1973 übersehen. Die CIA gab die Dokumente tatsächlich frei – wenn auch stark zensiert. Und jetzt halt dich fest: Es stellte sich heraus, dass etwa 180 Wissenschaftler von mindestens 44 Universitäten und Schulen in den USA an den CIA-Experimenten beteiligt waren. Dazu kommen noch eine Reihe anderer Institutionen, zum Beispiel Pharmaunternehmen. Außerdem wurde in etlichen Kliniken und mindestens drei Gefängnissen für die Behörde geforscht. In mindestens einer Klinik wurde sogar ein ganzer Krankenhausflügel mit CIA-Geldern hochgezogen. Viele der beteiligten Fachleute wussten allerdings gar nicht, dass sie für die CIA arbeiteten und dass ihre Arbeit vom Geheimdienst finanziert wurde.«
Sareah blickte Sebastian in die Augen und zog die Brauen hoch. »Verstehst du? Viele von denen wurden selbst manipuliert. Sie bekamen Geld und durften dafür auf einem Gebiet forschen, das sie grundsätzlich interessierte. Aber die Stoßrichtung hat der Geheimdienst mitbestimmt, der hat die Studien schließlich finanziert.«
»Aber das alles ist doch 40 Jahre her. Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Sebastian.
Christof Altmann nickte. »Ja. Es sieht aus, als wäre das alles schon lange vorbei. Der Generalinspektor der CIA hatte die heimlichen Tests an Menschen sogar bereits 1963 als unethisch kritisiert, und die Versuche wurden 1964 eingestellt. Angeblich. Denn in der Behörde ging man damals nachweislich auch davon aus, dass solche Versuche wichtig wären, in der Öffentlichkeit aber nicht bekannt werden dürften. Die Untersuchung des Generalinspektors wurde dann auch erst 1974 bekannt. Wer weiß, wie man wirklich damit umgegangen ist. Und die Unterlagen, die 1977 gefunden wurden, decken lediglich die Jahre 1953 bis 1964 ab. Ich – und viele andere – vermuten, dass die Behörde nicht im Traum daran gedacht hat, von ihren Zielen abzulassen: Menschen mithilfe von Drogen zu manipulieren.«
»Schon gar nicht, wenn sie davon ausgegangen sind, dass die Russen wahrscheinlich keine ethischen Bedenken hatten, solche Forschung zu betreiben«, warf Sareah ein.
»So langsam beginne ich zu begreifen.« Sebastian war sehr nachdenklich. »Sie meinen, dass auch mein Vater an einer solchen Forschungsreihe gearbeitet hat? Er und Dietz und die anderen, als sie 1981 in Südamerika waren? Aber wie passen denn deutsche Forscher in diese Geschichte?«
»Die Projekte der CIA haben nicht nur in den USA stattgefunden«, erklärte Christof Altmann. »Es gibt viele Hinweise darauf, dass Versuche im Rahmen von ARTECHOKE und MKULTRA auch im Ausland stattfanden. Zum Beispiel unter Ärzten aus Konzentrationslagern, die im Dritten Reich bereits einschlägige Erfahrungen gemacht hatten, aber auch anderen, renommierten, Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland.«
Sebastian fiel Sareahs Gedanke wieder ein, dass sein Vater möglicherweise mit der Einrichtung des Wilder-Penfield-Instituts bestochen worden war. Ja, das machte Sinn. Alles schien plötzlich möglich. Dietz, Steadman, Raabe und Wallroth, die Versuche in Südamerika, die Einmischung der IS/STA . . . Aber steckte hinter all dem tatsächlich eine Organisation wie die CIA? Es klang so unglaublich, so fantastisch. So irre. Aber da saß ganz real dieser renommierte Wissenschaftler, ehemaliger Mitarbeiter im Gesundheitsministerium, und erzählte ihm diese Horrorgeschichten. Und war er nicht inzwischen selbst Teil einer Horrorgeschichte? War irgendetwas von dem, was Altmann erzählt hatte, fantastischer als das, was er inzwischen selbst herausgefunden hatte?
»Und, wenn das alles so ist, wie Sie . . . wie wir vermuten, was . . . was soll ich dann . . . machen?«
Sareah und Christian Altmann sahen sich an. Es war der Wissenschaftler, der zuerst wieder das Wort ergriff. »Vielleicht gibt es zwischen dem, was an Ihrem Institut passiert, und einer anderen Sache, die zurzeit untersucht wird, Zusammenhänge.«
Eine Gruppe von jungen Leuten betrat das Lokal und installierte sich lärmend an einem Tisch in der Nähe der Eingangstür. Altmann und Sareah bestellten noch Tee. Sebastian war mehr nach einem zweiten Pflaumenwein. Nachdem sie einige Minuten geschwiegen hatten, fuhr Altmann fort.
»Sie haben sicher in den Nachrichten gehört, dass es den Verdacht gibt, Angehörige der deutschen Streitkräfte hätten vor einiger Zeit im Sudan Zivilisten misshandelt und getötet? Und dass ein Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages sich damit beschäftigt?«
Sebastian nickte. Natürlich hatte er davon gehört, das ging ja seit Wochen durch die Medien.
»Ich bin einer der Gutachter in diesem Ausschuss. Alles, was ich Ihnen darüber erzähle, ist natürlich streng vertraulich.« Er blickte zu Sareah hinüber. »Sie sind die Erste, die etwas erfährt, wenn es so weit ist.« An Sebstian gewandt fuhr er fort: »Was man aber mit ziemlicher Sicherheit schon jetzt sagen kann, ist, dass die Geschichte, die Sie mir über Südamerika erzählt haben, deutliche Parallelen zu dem aufweist, was im Sudan passiert ist. Und zu vielen anderen Vorfällen der letzten 50 Jahre in allen Teilen der Welt.«
Altmann dachte eine Weile nach. Sebastian bat Sareah um den Tabak. Mit zitternden Fingern drehte er sich einen krummen Glimmstengel und ließ sich von ihr Feuer geben.
»So, wie ich es sehe«, fuhr Altmann fort, »besteht hier wahrscheinlich ein Zusammenhang, den wir beweisen müssen. Und dazu brauchen wir Unterstützung durch Stellen mit weit reichenden Kompetenzen.« Wieder sah Altmann Sebastian direkt an. »Und die können wir möglicherweise tatsächlich bekommen, wenn man die Sache am KSK-Massaker im Sudan aufhängt.« Er seufzte. »Allerdings werden wir auch eine Menge Glück brauchen. Ich werde morgen im Laufe des Tages klären, ob wir das Institut Ihres Vaters durchleuchten dürfen.« Der Wissenschaftler schaute Sebastian ernst an. »Es klingt vielleicht paranoid, aber es ist möglich, dass diese IS/STA-Leute nicht nur mit dem Bundesnachrichtendienst in Verbindung stehen, sondern auch mit dem MAD, mit dem BKA, vielleicht auch mit diversen Landeskriminalämtern und örtlichen Polizeibehörden. Wir müssen deshalb wirklich vorsichtig sein.«
Altmann versprach, sich am nächsten Tag bei Sareah zu melden. Dann verabschiedete er sich. Sareah und Sebastian blieben noch eine Weile sitzen.
»Sebastian. Du kannst Altmann wirklich vertrauen. Ich kenne ihn jetzt schon ein paar Jahre, so lange, wie ich an dieser Geschichte dran bin. Er will dir helfen.«
Sebastian sah sie an. Wenn das alles stimmte, hatte er vielleicht wirklich Verbündete. Hoffnung stieg in ihm auf. Verdammt, war er nicht der Held in dieser Geschichte? Ja, dachte er bitter, ein toller Held. Ein Held, der wirklich überhaupt keine Ahnung hat. Er schlug die Augen nieder. Sareah streichelte seine Wange.
»Glaub mir, ich bin auch ziemlich nervös. Aber auf Altmann ist wirklich Verlass.«
»Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte Sebastian plötzlich.
»Aus meiner Zeit in der Wissenschaftsredaktion der ›Rundschau‹. Ich habe ihn schon öfter interviewt – allerdings nicht zum Thema IS/STA, darüber spricht er nicht in der Öffentlichkeit. Aber irgendwann hat er mal was rausgelassen, und seitdem bin ich dran an dieser spannenden Sache.«
»›Spannende Sache‹ nennst du das? Meine Güte, ich stecke da in einer Riesenscheiße!«
»Entschuldige, Sebastian. Das weiß ich ja. Und ich habe genausoviel Angst wie du.«
Sebastian schlang seine Arme um sie. »Entschuldige. Und versprich mir, dass wir uns morgen sehen.« Sareah nickte und gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Nasenspitze.
Sebastian nahm die Straßenbahn nach Hause.
In seinem Kopf herrschte perfektes Durcheinander. Es dauerte eine Weile, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Schließlich überlegte er sich, wie er herausfinden könnte, was seine Gegenspieler wohl als Nächstes planten. Sicher vermuteten sie inzwischen, dass er die Daten seines Vaters gefunden hatte, mit deren Hilfe sich die Erinnerungen lebender Menschen aufzeichnen ließen. Sie hatten sich das Tagebuch geholt, aber darin war ja nichts zu finden, was ihnen weiterhelfen konnte. Wieso hatten sie es eigentlich erst so spät geholt? Vermutlich hatten sie nicht damit gerechnet, dass es so schwierig sein würde, an die Daten zu kommen. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher gewesen. Sie konnten sonst alles erreichen und im Zweifel alles ausbügeln und vertuschen, was schief ging, nicht wahr? Vielleicht waren sie einfach zu arrogant, um sich vorstellen zu können, wie viel er inzwischen über sie wusste. Aber andererseits . . . Wieder kroch die Angst in ihm hoch, dass jetzt gerade irgendwo jemand die Entscheidung traf, seinem Leben besser ein Ende zu setzen.
Sebastian war sich plötzlich ganz sicher: Er würde die technischen Daten zerstören. Zumindest würde es der IS/STA oder der CIA – oder wer immer hinter Christian Raabe hergewesen war – nicht mehr gelingen, an dessen Wissen zu gelangen. Und dann wäre der Tod seines Vaters vielleicht nicht ganz vergeblich gewesen.
Morgen, dachte er, morgen werde ich das tun. Und vielleicht . . . vielleicht würde Professor Altmann morgen schon gute Nachrichten für ihn haben. Zumindest hatte der Alte ihm ein klein wenig Hoffnung gegeben.