25. April, früher Nachmittag
Sebastian hatte die Instituts-Bibliothek ganz für sich. Er setzte sich an einen der Rechner mit Internetzugang und loggte sich ein.
Das Erste, was er sich auf den Bildschirm holte, war ein Lexikon, danach einen Weltatlas, um herauszufinden, in welchem südamerikanischen Land sein Vater sich aufgehalten hatte. Als er Informationen über San Mateo abfragte, lieferte das Lexikon lediglich einen Hinweis auf eine Stadt an der Bay von San Francisco, in Kalifornien, mit 120 000 Einwohnern. Auf der Landkarte Südamerikas fand er dann gleich zwei Städte dieses Namens, eine in Venezuela, östlich von Caracas, die zweite in Peru, östlich von Iquitos, am Amazonas. Beide lagen nicht in unmittelbarer Nähe der Berge. Die konnte er getrost vergessen. Laut Computer gab es in den Anden demnach kein San Mateo. Das bedeutete, entweder war das San Mateo, auf welches sich sein Vater bezog, keine Stadt, sondern nur ein kleines Dorf, oder es war nicht mehr dort. Oder beides. Oder das war alles Unsinn, und Wallroth hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, sie seien damals nicht in Südamerika, sondern in Spanien gewesen.
Sebastian rief eine der Internet-Suchmaschinen
auf und gab nacheinander die Begriffe San
Mateo, General Bartolo
und die Namen der deutschen
Wissenschaftler sowie Steadman
ein.
Aber er erhielt nur einen Wust von Seitenverweisen auf irgendwelche
Homepages von Bartolos in Spanien, USA und Lateinamerika, das
Gleiche passierte bei den deutschen Namen. Und der Begriff
Mateo
rief Tausende von
Weinhandlungen auf den Plan. Nachdem er sich mit drei verschiedenen
Suchmaschinen im Online-Labyrinth verrannt hatte, gab er auf. Das
brachte nichts. Es war wohl doch besser, er bat Sareah um Zugang zu
einem Pressearchiv.
Er verließ das Institut und stellte sich in eine der Telefonzellen auf dem Platz. Sareahs Stimme meldete sich, und er wurde zum Sprechen nach dem Pfeifton aufgefordert. Er wollte gerade eine Nachricht hinterlassen, als Sareah sich meldete.
»Ich bin zu Hause, du kannst normal reden.«
Wieso tat sie so, als sei sie der Anrufbeantworter? Deshalb hatte der Signalton so seltsam geklungen. Sie hatte einfach gepfiffen.
»Von wo rufst du an?«
»Telefonzelle«, antwortete er.
»Würde mich übrigens nicht wundern, wenn dir jemand im Nacken sitzt.«
Erschrocken sah Sebastian sich um. Auf die Idee war er noch gar nicht gekommen. Das war ja auch ziemlich paranoid, oder nicht? Aber wenn sie meinte.
Der Platz vor der Telefonzelle war leer. Wer wäre auch so blöd, sich unter freiem Himmel dem Regen preiszugeben. Auf der anderen Straßenseite hasteten Leute von einem Vordach zum nächsten. Niemand sah zu ihm herüber. Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung hinter den Glastüren des türkischen Gemüseladens schräg gegenüber. Aber als er hinschaute, konnte er nichts erkennen.
»Ich glaube nicht.«
»Achte aber mal darauf.«
»Sareah, ich brauche deine Hilfe«, erklärte er. »Ich habe eine Spur aufgenommen, sozusagen. Es ist da vor einigen Jahren etwas passiert, bei dem die Hauptakteure von heute schon eine Rolle gespielt haben. Es geht um eine Sache, bei der eine Menge Menschen getötet wurden, und ich vermute, mein Vater, ein anderer Wissenschaftler hier aus dem Institut und ein Dietz – vielleicht unser Dietz – waren daran beteiligt. Ich müsste dringend an ein Pressearchiv mit südamerikanischen Zeitungen. Kannst du mir da weiterhelfen?«
»Kein Problem, ich bin zwar morgen nicht in der Redaktion, aber frag doch bei der ›Rundschau‹ nach meinem Kollegen Streithammer. Der Name passt zu ihm, er ist aber okay. Geh zum ›Rundschau‹-Gebäude, meld dich an der Pforte und lass dir Streithammer geben, Auslands-Ressort. Wenn du ihm sagst, dass ich dich schicke, lässt er dich rein. Über ihn kriegst du Zugang zu einem der größten Zeitungsarchive der Welt. Wenn du irgendwo fündig werden willst, dann dort.«
Als Sebastian die Telefonzelle verließ, rannte er direkt in einen Mann hinein. Da sie es eilig hatten, tauschten sie nur eine Entschuldigung aus und hasteten weiter. Irgendwie kam Sebastian der Typ bekannt vor. Er drehte sich noch einmal um. Aber der Kerl war schon verschwunden.
Das Verlagsgebäude der Zeitung lag in der Stadtmitte, in einer der Seitenstraßen der Fußgängerzone. Etliche Teile des Komplexes, den Sebastian nicht vollständig überblicken konnte, erstreckten sich offensichtlich tief in ein ganzes Häuserviertel hinein. Wahrscheinlich hatte der Verlag nicht nur ein eigenes Gebäude neu errichten lassen, sondern nach und nach auch angrenzende ältere Häuser in Beschlag genommen und die Wohnungen in Büros verwandelt. Das Hauptgebäude war ein verschachtelter stumpfer Turm mit viel Aluminium und großen, von chromblanken Trägern durchbrochenen, getönten Glasfronten. Durch die Eingangstür kam Sebastian in eine kleine Halle, deren hintere Wand ebenfalls aus Glas bestand und den Blick in einen Innenhof freigab. Einige Lastwagen wurden dort gerade mit dem Inhalt riesiger Altpapier-Container gefüllt.
Zur Linken sah er Aufzüge, zur Rechten eine Loge, in der eine ältere Frau in Uniform stand und ihn scharf beobachtete. Der Raum selbst war durch eine Absperrung mit einem Drehkreuz geteilt. Sebastian wandte sich zu der Loge. Die Frau stand dort neben einem offensichtlich kaum benutzten Sessel. Ob sie sich nicht mehr setzen konnte? Man sah förmlich den Kalk von ihren Knochen rieseln. Gerade als Sebastian sie ansprechen wollte, begann sie, Papiere an eine riesige schwarze Filzwand zu pinnen. Als er sie grüßte, sah sie sich nicht um.
»Entschuldigen Sie. Ich hätte gern Herrn Streithammer gesprochen. Würden Sie ihn . . .«
»Worum geht es denn?«, fragte die Frau barsch, noch immer ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme passte nicht zu ihrem Aussehen. Sie wirkte jung, frisch, kräftig.
»Das würde ich ihm gern am Telefon selbst sagen«, antwortete Sebastian. Jetzt fixierte sie ihn mit giftgrünen Augen, die so jung waren wie ihre Stimme.
»Ein bisschen Geheimniskrämerei? Geht bestimmt um eine furchtbar wichtige Sache, was? Verstehe.«
Sebastian war sich da nicht so sicher. Immerhin erbarmte sie sich und wählte eine Nummer.
»Hopp. Besuch für Sie«, sagte sie dann und reichte, ohne auf eine Antwort zu warten, Sebastian den Hörer. Als er ihn in der Hand hielt, drehte sie sich wieder weg und beschäftigte sich weiter mit den Zetteln auf der Pinnwand.
Der Typ, den er sprechen wollte, hieß doch nicht Hopp? Als er den Hörer ans Ohr drückte, sprach wer immer es auch war noch immer mit der Pförtnerin, beziehungsweise wünschte ihr die Pest an den Hals. Sebastian versuchte ihn höflich zu unterbrechen.
»Entschuldigung. Ich wollte eigentlich mit Herrn Streithammer sprechen.«
»Am Apparat. Was gibt es denn?«
»Mein Name ist Sebastian Raabe. Sareah Anderwald hat mich hergeschickt. Sie meinte, Sie könnten mir helfen. Ich müsste dringend an das Pressearchiv.«
»Ach, Sareah? Gut. Ich hole Sie in fünf Minuten am Eingang ab, muss nur noch schnell etwas fertig schreiben.«
Bingo!, dachte Sebastian, aber er hatte sich zu früh gefreut. Bis Streithammer schließlich kam, verging eine gute Viertelstunde. Wenn jemand an einem Rechner sitzt, dann dauert es nie nur noch fünf Minuten, dachte Sebastian. Vorher stürzt der Computer meist noch ab, man muss wichtige Daten retten, den technischen Service kommen lassen, weil man das Handbuch nicht versteht. Oder es ist keine CD mehr vorhanden, auf die Sicherungskopien gespeichert werden könnten. Also muss man los und erst im Lager neue CDs besorgen. Egal.
Schließlich ging die Fahrstuhltür auf, und ein leicht übergewichtiger Mann trat in die Eingangshalle. Er hatte sein graues Hemd nur locker in die Hose gesteckt und kaschierte so verschämt und unzureichend den Schwimmreifen um die Hüfte. Seine Frisur begann erst sehr weit hinten über der hohen Stirn, und die blonden Haare fielen in wenigen, aber gepflegten Strähnen bis auf den Hemdkragen. Sebastian schätzte ihn auf Mitte dreißig. Als Streithammer ihm gegenüber auf der anderen Seite der Absperrung stand, taxierte ihn der Redakteur mit rot geränderten Augen unter buschigen Brauen. Nach einer Sekunde reichte er Sebastian die Hand und stellte sich vor. Die Pförtnerin drückte auf einen Knopf, nickte Sebastian zu und gab ihm einen Besucherausweis.
»Woran arbeitet sie denn?«, fragte Streithammer und lotste Sebastian in Richtung Aufzug.
Ob er dachte, Sebastian würde für sie recherchieren? Na, egal. Sollte er ruhig in dem Glauben bleiben. Er antwortete ausweichend.
»Hirnforschung.«
»Hirnforschung? Ach du Scheiße.« Streithammer zog irritiert die Mundwinkel herunter und die Augenbrauen hoch. Durch die tiefen Falten, die sich dabei links und rechts von seinen dicken Lippen bildeten, wirkte sein Gesicht wie die Fünf auf einem Würfel, die Nase als Punkt in der Mitte.
»Geht mich ja auch nichts an. Gehen wir.«
Er verabschiedete sich mit einem Winken von der uniformierten Dame. Als der Fahrstuhl kam, ließ Streithammer Sebastian mit einer großzügigen Geste den Vortritt. »Absturztest«, sagte er grinsend, als er ihm nach zwei Sekunden folgte. »Ich traue den Dingern einfach nicht.«
Sebastian konnte in diesem Moment nicht allzu sehr darüber lachen.
»Hat unser Wachhund Sie belästigt?«, fragte Streithammer. Zuerst verstand Sebastian nicht. Dann begriff er, dass der Redakteur die Pförtnerin meinte.
»Nein, nein. Ich habe mich aber gewundert, dass so eine alte Dame hier beschäftigt ist.«
»Tja, die alte Dame ist etwa 24. Sie leidet an Vergreisung. Eine seltene Krankheit. Manche sterben, bevor sie 20 sind.« Als Sebastian den Redakteur von der Seite betrachtete, sah er, dass der weder grinste noch sonst eine Gefühlsregung zeigte. Es war eine sachliche Feststellung gewesen, kein Witz.
Im dritten Stock stiegen sie aus und marschierten durch einen schmalen Gang, dessen Wände ab Brusthöhe aus Milchglasscheiben bestanden. Links und rechts wechselten sich Türen ab, durch die Sebastian einen Blick auf größere Räume erhaschte, in denen Leute an Computern arbeiteten oder sich über große Tische beugten und Papiere und Bilder umherschoben. Schließlich öffnete sich der Gang in einen Raum mit Teppichboden. Schreibtische standen hier seitlich an den Wänden, auf jedem mindestens ein Telefon und ein Computerbildschirm, ansonsten Stapel von Zeitungen und Journalen, Zettel, Stifte. An den Wänden hingen Bilder, Fotos, Kalender. Große Papierkörbe, jeder mindestens halb gefüllt, standen herum. Es herrschte ein unglaublicher Lärm. Stimmengewirr, Telefonklingeln, zwei Faxgeräte ratterten vor sich hin. Ein Mann in blauem Kittel rempelte Sebastian an und eilte, ohne sich zu entschuldigen, weiter, dicke Mappen unter beide Arme geklemmt. Weiter hinten im Raum sah Sebastian, wie ein junger Mann wutentbrannt die Tastatur seines PCs malträtierte.
Streithammer ging zu einem der Schreibtische und zog ein Notizbuch aus einem Papierstapel. Er notierte sich etwas auf einem Zettel, den er in seine Hemdtasche steckte. Dann wechselte er noch zwei Worte mit seinem Schreibtisch-Nachbarn.
»Wie kann man bei diesem Krach eigentlich arbeiten?«, fragte Sebastian ihn, als Streithammer schließlich nach seinem Arm griff und ihn zu einem PC hinten im Raum führte.
»Krach?« Streithammer legte eine Hand hinter sein Ohr. »Junge, das sind die Geräusche, die entstehen, wenn man Regierungen stürzen lässt, Politiker zu Menschen oder Monstern macht. Lausch der mächtigen Musik . . .«
Der Redakteur wies auf den verwaisten Rechner. »Den kannst du benutzen.« Er tippte einige Befehle in die dazugehörige Tastatur. Dann deutete er auf den Bildschirm vor seiner Nase. »Das ist unser Archiv. Versuch mal, ob du hier weiterkommst.« Streithammer blieb jetzt offenbar beim Du. Er machte den Stuhl für Sebastian frei. »Wir haben hier alles ab den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im Speicher; was älter ist, steckt in Aktenordnern. Das Scannen dauert eben auch seine Zeit, und die aktuellen Sachen haben Vorrang.«
»Kein Problem«, antwortete Sebastian. »Ich muss nicht so weit zurück.« Er setzte sich.
»Ich nehme an, hier sind auch spanisch- und portugiesischsprachige Zeitungen gespeichert?«
»Klar, Junge, alles, was du willst, ist hier gespeichert. Allerdings sind die Bilder aus dem ›Playboy‹ ziemlich grob gerastert.«
Sebastian beschloss, die Bemerkung zu ignorieren. Der Bildschirm zeigte die klassische Maske einer Suchmaschine. Der Redakteur begann, ihm das Programm zu erklären.
»Du gibst hier die Stichworte ein, die du hast. Je mehr, desto besser. Wenn du zum Beispiel Amerika eingibst, listet der Computer erst gar keine Artikel auf, sondern Uncle Sam erscheint und zeigt dir einen Vogel, weil vermutlich so um die drei Trilliarden Artikel mit dem Stichwort Amerika allein im Titel existieren. Hier kannst du den Zeitrahmen eingeben, in dem ein gesuchter Artikel erschienen ist.« Streithammer tippte mit dem Zeigefinger auf die jeweiligen Stellen auf dem Bildschirm, sein Fingernagel klackte gegen die Scheibe. »Am besten fährst du mit ganz genauen Angaben. Etwa: STELLUNGNAHME DER ROYAL SOCIETY OF ECONOMY, LONDON, ZUM IMPORTRÜCKGANG DELIRIÖSER BURMESISCHER EICHKUCHKÄTZCHEN AB DEM 11.11.1888 IM BRITISH EMPIRE. Da kommen dann vermutlich nicht mehr als fünf oder so. Artikel meine ich, nicht Eichkuchkätzchen. Klar?« Streithammer sah Sebastian an und wartete auf einen Kommentar oder eine Frage. Sebastian hatte weder noch.
»Also gut, ich muss arbeiten.« Der Redakteur ging zu seinem Platz zurück und begann, in den Papieren auf seinem Schreibtisch zu wühlen.
»Danke, ich komme schon klar«, rief Sebastian ihm hinterher und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er holte seine Notizen aus der Jacke, kramte seine paar Spanisch-Brocken zusammen und tippte dann seine Suchbegriffe in das dafür vorgesehene Feld:
San Mateo, General
Bartolo, Terroristen, IS/ STA, Dietz, Steadman, Wallroth, Koch,
Berthold, Raabe, Katastrophe.
Dann stellte er die Suchmaschine so ein, dass sie möglichst viele Begriffe zusammen finden sollte, egal in welchem Zusammenhang, aber mindestens zwei gleichzeitig.
Beginnen
sollte der Rechner seine Suche ab dem Tag, an dem sein Vater im
Tagebuch die Katastrophe eingetragen hatte, als Zeitrahmen gab er
die zwei darauffolgenden Wochen an. Dann startete er die Recherche.
Die einzelnen Begriffe blitzten immer wieder auf, vermutlich jedes
Mal, wenn ein Treffer gelandet worden war. Die rückwärts laufende
Zahl am unteren Rand des Bildschirms schien die Anzahl der infrage
kommenden Artikel zu sein. Nach etwa einer Minute stand dann dort
eine 0
. Enttäuscht wollte Sebastian
von vorn anfangen, als er in der rechten Ecke den Hinweis
›1 von 2
‹ sah.
Mit der Scroll-Taste blätterte er weiter und
fand mehrere Wiederholungen seiner Begriffsreihe. In der ersten
Reihe waren die Wörter San Mateo, General
Bartolo
und Terroristen
gelb
unterlegt, in der zweiten Reihe dagegen die Worte Koch
und Berthold
. Dann folgten mehrere, in denen
Dietz
und IS/STA
markiert waren. Das hieß, es gab
mindestens zwei interessante Artikel. Einmal einen, in dem
San Mateo
, der General
und die Terroristen
vorkamen, und einen zweiten über die
Wissenschaftler Koch
und
Berthold
, die Kollegen seines
Vaters. Aber es gab keinen einzigen, in dem alle Stichwörter
zusammen auftauchten. Hinter den Wort-Reihen stand die Quelle, für
die beiden Artikel war sie identisch: ›La República‹. Peru also.
Der erste Artikel war zwei Tage nach der Tagebucheintragung
erschienen, der zweite weitere drei Tage später. Die Zeitung
erschien, wie er erwartet hatte, in spanischer Sprache. Für die
Artikel, in denen Dietz vorkam, gab das Suchprogramm deutsche
Zeitungen als Quelle an. Das interessierte Sebastian erst mal
nicht. Er rief den ersten Artikel auf. Es folgte die Abbildung der
Originalseite der Zeitung. Der Artikel war nicht lang, nur eine
Meldung. Er füllte den Bildschirm kaum zur Hälfte aus. Sebastian
gab dem Programm, mit dem die Suchmaschine arbeitete, einen Druckbefehl. Das Gleiche
machte er mit dem zweiten Text. Dann ging er zu Streithammer
hinüber.
»Entschuldigung. Zu welchem Drucker schickt der Rechner denn die Ausdrucke hier?«, fragte er den Redakteur, der ihn ungeduldig anstarrte und dann in ein kleines Zimmerchen schickte, in dem ein Gerät permanent einen Strom von Papier ausspuckte. Sebastian fand seine Ausdrucke und ging noch mal zu Streithammer, der ihn bereits mit hochgezogenen Augenbrauen erwartete.
»Tut mir wirklich Leid. Aber ich habe noch eine Frage. Gibt es hier jemanden, der Spanisch kann?«
Streithammer stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor, nahm Sebastian die Ausdrucke aus der Hand und legte sie neben die Tastatur. Er zündete sich eine Zigarette an, steckte sie in den Mundwinkel und tippte dann, ohne auf den Bildschirm zu schauen, drauflos, ein Auge auf die Zettel gerichtet, ein Auge geschlossen wegen des Rauches, der von der Zigarette aufstieg. Nach wenigen Minuten war der Redakteur mit seiner Arbeit fertig und gab den Druckbefehl.
»War’s das jetzt?«, fragte er.
»Ich würde nur gern noch kurz eine weitere Information abfragen«, antwortete Sebastian und ging, um sich die Ausdrucke mit den übersetzten ›República‹-Texten zu holen.
Zurück an dem freien Rechner las er gespannt Streithammers Übersetzung.
LEUCHTENDER PFAD LÖSCHT DORF AUS
Huancayo (li). Vor zwei Tagen löschten Terroristen vom Leuchtenden Pfad zum wiederholten Male eine Gemeinde in der Provinz Huancavelica aus. Wie aus Regierungskreisen verlautete, war der Anschlag auf das Dorf San Mateo in der Nähe von Castrovirreyna vermutlich eine Reaktion auf die Entsendung eines Provinzlehrers in die betroffene Gemeinde. Auch eine in der Nähe befindliche Einheit der Armee konnte nicht verhindern, dass alle Einwohner des Dorfes getötet wurden. Es ist dies nun schon der dritte Angriff auf eine friedliche Gemeinde in der Provinz in diesem Jahr. Wie General Bartolo, für die Region zuständiger Militärverwalter, mitteilte, werden seine Truppen nun verstärkt im Quellgebiet des Río Mantaro patrouillieren, wo das gegenwärtige Hauptquartier der Guerilleros vermutet wird. Einen Lehrer einzusetzen, um die Lage der Indios zu verbessern, so stellte Bartolo fest, ist für diese blutigen Steinzeitkommunisten natürlich eine Provokation. Der General versprach für die nächsten Tage eine »gnadenlose Kommunistenhatz«, da seine Truppen durch die bei San Mateo erlittenen Verluste einen »gesunden Hass« entwickelt hätten.
Das war ja eine ganze Menge an Informationen. Der Tag der Katastrophe, von der sein Vater geschrieben hatte, war der Tag, an dem ein Dorf namens San Mateo ausgelöscht worden war. Beide Vorgänge waren also mit Sicherheit identisch, auch der Name des Dorfes stimmte. Der für die Region zuständige General war dem Namen nach derjenige, der den Wissenschaftlern Soldaten für ihren Versuch zur Verfügung gestellt hatte, und in dem Artikel war die Rede von einer in der Nähe des Dorfes befindlichen Einheit von Regierungssoldaten. Sebastian fiel es nicht schwer, den Zusammenhang zwischen Tagebuch und Zeitungsartikel herzustellen. Er hatte in der Erinnerung seines Vaters genau das Gemetzel miterlebt, von dem die ›República‹ berichtete. Aber nicht Terroristen hatten eine friedliche Gemeinde ausgelöscht, sondern Regierungstruppen unter dem Einfluss einer Chemikalie, die eigentlich als Mittel zur Unterdrückung von Stress gedacht war. Die vielleicht etwas mit Neurotransmittern und Coca zu tun hatte. Es passte alles zusammen. Der Leuchtende Pfad . . . das waren doch Guerilleros in Peru? Lange Zeit schien die Organisation zerschlagen, aber seit einigen Jahren war sie wieder aktiv. Also hatte sein Vater in Peru gearbeitet, zusammen mit Wallroth und den beiden anderen Forschern. Im Auftrag der deutschen und der peruanischen Regierung. Sebastian wandte sich dem zweiten Text zu.
DEUTSCHE WISSENSCHAFTLER TÖDLICH VERUNGLÜCKT
Huancayo (li). Bei einem Unglück auf der Carretera 24 von Castrovirreyna nach Pisco fanden gestern zwei ausländische Wissenschaftler den Tod. Der Wagen der beiden Forscher kam aus noch ungeklärter Ursache von der Straße ab und stürzte in den Rio Pisco. Der Unfall ereignete sich elf Kilometer vor Tipracot. Die beiden deutschen Wissenschaftler Jo Berthold und Matthias Koch konnten nur noch tot geborgen werden. Nach Informationen aus dem Wissenschaftsministerium arbeiteten beide an einem Gemeinschaftsprojekt der peruanischen und deutschen Regierung zur Entwicklung neuer Medikamente auf Basis der Cocapflanze. Das Vorhaben, in das man große Hoffnung gesetzt hatte, sollte den ökonomischen Fluss einer der größten Ressourcen des Landes, des Coca-Anbaus, von der Drogenproduktion weg in legale und humanitäre Kanäle umleiten. Ohne die Mitarbeit dieser beiden angesehenen Wissenschaftler ist nun das gesamte Projekt infrage gestellt. Die Polizei schließt deshalb nicht aus, dass hinter dem Vorfall ein Anschlag der Drogenkartelle steckt. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, so hätten die Attentäter mit diesem perfiden Angriff ihr Ziel erreicht. Zurzeit ruhen sämtliche Arbeiten am Projekt, und es ist fraglich, ob sie wieder aufgenommen werden können.
Deshalb also das Kreuz hinter den Namen Koch und Berthold im Tagebuch, dachte Sebastian. Was hatte sein Vater noch geschrieben? »Jo hat versucht, sich umzubringen, Matthias ist nicht mehr ansprechbar«. Zwei Wissenschaftler, die bei einem Massaker dabei waren. Und vielleicht nicht hätten schweigen wollen oder können? Vielleicht waren sie einfach aus dem Weg geschafft worden, da sie die Wahrheit ans Licht hätten bringen können? Sie waren ein Risikofaktor gewesen, genauso wie sein Vater. Und . . . was war mit ihm selbst? Und seinen Freunden? Konnte er Dietz und seinen Leuten gefährlich werden, und wenn ja, hatten die bereits eine Ahnung? Aber diese Leute wussten ja nichts vom Tagebuch und von dem Brief, und auch von den Erinnerungen seines Vaters wussten sie nichts. Wusste Dietz von Sareah? Was zum Teufel wusste Dietz überhaupt? Wer war dieser Mann? In den Artikeln tauchte sein Name nicht auf. Im Brief seines Vaters wurde er als »Agent der Regierung« bezeichnet. Der Bundesregierung? Sareah zufolge war Dietz jetzt Chef dieser IS/STA. Vielleicht war er damals Agent ebendieser Abteilung gewesen, die zu diesem Zeitpunkt noch anders hieß?
Sebastian klickte auf den ersten Artikel, in dem Dietz’ Name aufgetaucht war. Es war lediglich eine kleine Meldung, in der davon berichtet wurde, dass in Frankfurt eine kleine Terrorzelle ausgehoben worden war. Ein Mark Dietz wurde als Leiter der Aktion des Bundeskriminalamtes erwähnt. Die Aktion hatte zehn Tage nach dem Massaker in den Anden stattgefunden.
Okay, das war noch immer keine hundertprozentige Garantie dafür, dass der genannte Dietz identisch war mit diesem fetten Kommissar. Aber die Wahrscheinlichkeit erschien Sebastian hoch genug. Er stand auf und verabschiedete sich von Streithammer, der, einen Bleistift zwischen den Zähnen, einen Text las und dabei vor sich hinmurmelte.
»Grüß Sareah von mir und sag ihr, ich hätte ’ne Maß bei ihr gut«, rief er Sebastian hinterher. Dann beugte er sich wieder über die Papiere und ließ seinen Besucher allein den Weg hinaus finden.