25. April, Mittag
Als Sebastian das Haus verließ, hatte es aufgehört zu regnen. Nur der Asphalt glänzte feucht, wo ihn die Autoreifen noch nicht trockengerieben hatten. In seiner Jackentasche steckten die CDs und der Brief seines Vaters an seine Mutter. Ob es eine gute Idee war, diese Schätze bei sich zu tragen, wusste er nicht. Aber sie in der Wohnung zu lassen, erschien ihm auch nicht mehr sicher.
Zwanzig Minuten später war er am Institut. Bevor er das Treppenhaus betrat, um ins Zentrum zu steigen, sah er sich um. Niemand folgte ihm. Er kam sich sehr seltsam vor. Dann fiel ihm wieder die Pistole ein, die er bei seinem Vater gefunden hatte. Auch der musste Angst gehabt haben. Wozu sonst die Pistole? Genützt hatte sie ihm nicht.
Sebastian öffnete die Tür zum Treppenhaus und beeilte sich, sie hinter sich wieder zu schließen. Wer ihn jetzt nicht gesehen hatte, konnte auch nicht ahnen, wohin er ging. Niemand benutzte die Treppen zum Zentrum. Und wer sollte schon wissen, dass er es tat – außer Blumenthau.
Im Zentrum lieh er sich, der Form halber, wieder Filme aus, die er zufällig aus dem Regal zog. In einer der Kabinen holte er dann die CDs seines Vaters aus der Tasche. Jetzt, da er wusste, was auf den CDs war, fühlte er sich gehemmt. Eigentlich kein Wunder, dachte er, immerhin war er gerade dabei, die Erinnerung eines Toten anzusehen, den er gut gekannt hatte. Vielleicht würde er sogar etwas über sich selbst erfahren – sich selbst sehen, als Bild, zusammengesetzt aus den Impulsmustern der Großhirnrinde seines Vaters?
Was auch immer auf den CDs zu sehen sein würde, er wollte jetzt alles sehen.
Er legte eine CD ein. Prompt kam eine Meldung des Computers, dass es sich bei den Daten nicht um einen Film handelte. Er hatte aus Versehen die CD eingelegt, auf der die technischen Dateien abgespeichert waren. Diese Daten . . . Es musste Aufzeichnungen, technische Unterlagen über die Versuche geben, die sein Vater durchgeführt hatte. Das, was diese Leute auf dem Rechner seines Vaters gesucht hatten – und was er hatte zerstören sollen –, war vermutlich nicht in erster Linie die Erinnerung seines Vaters selbst, überlegte Sebastian. Es ging vermutlich eher um die Veränderungen und Neuerungen an den Aufnahmegeräten, mit denen es seinem Vater gelungen war, die Erinnerungen eines lebenden Menschen aufzunehmen. Diese Daten vermutete er auf dieser CD, und die würden sie haben wollen.
Sebastian musste die CD an einen sicheren Ort bringen, wo niemand sie finden würde. Oder sollte er sie wirklich besser auf dem schnellsten Wege zerstören? Aber darüber wollte er sich später den Kopf zerbrechen.
Sebastian entfernte die Technik-CD wieder aus dem Laufwerk und legte eine andere ein. Als er den Helm aufgesetzt hatte und sein Kopf in der Wand versenkt und fixiert war, dachte er, wie es wohl sein würde, wenn die Elektroden tatsächlich bis ins Gehirn dringen würden. Ob sein Vater das getan hatte? Die Kopfhaut betäubt und . . .? Oder ging es inzwischen sogar schon von außen?
Er startete den Film und die Welt wurde wieder gelb.
Es dauerte nicht lange, und er konnte etwas erkennen. Nach etlichen Bildern, die er nicht zuordnen konnte, tauchten ein paar Erinnerungen auf an Dinge, die er tatsächlich kannte. Offensichtlich schienen dieselben Sachen dem Gehirn des Vaters wie des Sohnes erinnerungswürdig. Eine Szene aber musste aus der frühen Phase der Beziehung seiner Eltern stammen, denn seine Mutter kam darin vor, die Kulisse bildete jedoch eine Wüste. An diese Reise konnte sich Sebastian nicht erinnern. Eine andere, besonders scharfe Szene zeigte die Gründungsfeierlichkeiten am Institut. Er erschrak beinahe, als er das Gesicht Wallroths entdeckte, der sich köstlich zu amüsieren schien. Dann sah er ein Kleinkind, das tapsig auf ihn zulief, mit stolzem und zugleich ängstlichem Gesicht. Die ersten Schritte, wie auf Video aufgenommen. Den Burschen kannte er von Fotos. Klein-Sebastian!
Die Bilder waren extrem klar. Würde er jetzt eine Überidentifikation erleiden, dann wäre das seinem Vater bestimmt nur recht gewesen. Je mehr er sich mit ihm identifizierte, desto mehr würde er ihm ähneln. Und das war bestimmt immer ein Wunsch seines Vaters gewesen.
Es folgten eine Reihe von weniger interessanten Sequenzen. Das Ganze war ein wenig wie das Stöbern in alten Familienalben. Sebastian fand es ganz witzig – aber sensationell war es nicht.
Er wechselte die CD.
Ein Geruch nach frisch umgegrabener Muttererde stieg in seine Nase. Erdbeeren? Aus dem gelben Dunst schälte sich die Rückseite eines Sofas heraus, das mitten in einem Raum stand und über dessen Lehne ein Wandbehang ausgebreitet war. Das Bild von dem südamerikanischen Timu, welches auch jetzt noch in der Wohnung seines Vaters hing. Jemand saß auf dem Sofa und nähte. Seine Mutter. Es roch nach Feuer. Aus den Augenwinkeln sah er einen Kamin.
Plötzlich war er in einen roten Nebel gehüllt, durchzogen von weißen Schlieren. Es war, als würde er unter Wasser schwimmen, in der Blutspur eines harpunierten Wals. Zuerst war es still. Dann hörte er etwas. Ein Murmeln, leise, dann lauter. Dann, ganz unvermittelt, schrie jemand. Eine Frau. Und ein Kind. Nein, mehrere Menschen schrien. Der rote Nebel war plötzlich von ihren Schreien erfüllt.
Dann hörte er ein Krachen, wie von splitterndem Holz. Ein Feuer prasselte und übertönte das Schreien. Wieder ein Krachen. Eine Explosion. Was war das, an das sich sein Vater da erinnerte? Ein Unfall? Eine Katastrophe?
Wumm. Ein Zischen, dann wieder eine Explosion.
Direkt neben seinem Ohr weinte ein Kind.
Er hörte jemanden rufen, ohne zu verstehen. Es folgte ein hysterisches Lachen. Immer mehr weiße Schlieren zogen durch den Nebel, der sich langsam in ein dunkles Rosa verwandelte.
Wieder rief jemand etwas, das durch den Lärm übertönt wurde. Plötzlich knallte es, und das Weinen verstummte. Wieder hörte er ein Prasseln, der Nebel wurde zerfetzt von flackerndem Rot, Schwarz und Gelb.
Ein Blitz fuhr durch den Nebel und teilte ihn für den Bruchteil einer Sekunde. Er glaubte, einen Baum gesehen zu haben. Eine Palme, durch deren rissige Blätter schwarze Rauchschwaden zogen. No no no schrie eine Stimme und übertönte alle anderen Geräusche. Sie überschlug sich, wurde zu einem infernalischen Kreischen – und verstummte.
Es rauschte, als ob er sich die Hände mit aller Kraft auf die Ohrmuscheln drücken würde. Die schwarzen Wolken, die um ihn herumfegten, verfärbten sich langsam, der Hintergrund wurde grün, immer noch durchsetzt von hektisch flackernden gelben und roten Flecken. Halt drauf, halt drauf, hörte er jemanden schreien. Die Stimme war tief und irgendwie heiter, fröhlich. Es passte nicht zu der Szene. Eine Struktur zeichnete sich ab. Senkrechte Linien, die oben in ein zackiges Muster ausliefen. Pfähle, schmale Holzpfähle. Es schien eine Art Pferch zu sein. Im Hintergrund immer noch Grün, Rot, Gelb, ein wahnsinniges, rotierendes Leuchten, das nach oben in Schwarz zerfloss.
Etwas jaulte wie ein läufiger Kater. Wieder ein Wummern, einmal, zweimal, dreimal, jedesmal gefolgt von einem Zischen und einer Explosion. Er hörte ein trockenes, rhythmisches Tackern, in kurzen Intervallen. Durch die prasselnden Farben sah er jetzt den Zaun, der den Pferch umschloss, deutlicher. Um die Pfähle wuchs kniehohes Gras. Das Gelb und Rot im Hintergrund – das war das Feuer. Ein niedriges, brennendes Haus, in der Mitte ein rotes Loch. Und da stand wieder die Palme. Ihre Blätter verglühten vor einem rauchenden Himmel.
Glücksgefühle jagten durch seinen Körper.
Im roten Loch des Hauses erschien undeutlich die Silhouette eines Menschen. Während durch das Prasseln wieder das Tacktacktack zu hören war, fiel sie zurück in das Loch und verschwand. Wieder war eine Explosion zu hören. Sein Blick rotierte jetzt nur noch an den Rändern. Jetzt konnte er Farben und Gegenstände besser zuordnen. Hinter dem Zaun tauchten weitere Umrisse von Menschen auf. Mindestens drei . . . so klein, auf den Boden geduckt, schwarz im Grün des Grases. Kinder. Dann wieder der gelbe Blitz, diesmal direkt vor ihm. Immer wieder schien eine gelbe Flammenzunge aus seinem Bauch herauszuschlagen. Sie zeigte direkt auf die Silhouetten im Gras. Vor ihr sprühten die Zaunpfähle braune Späne in die Luft. Etwas schlug gegen seine Arme und seinen Magen, exakt im Rhythmus der Flamme. Der Rückstoß seiner Waffe. Die kleinen Menschen zuckten und zappelten. Wieder schrie jemand, verzweifelt. Der Boden bebte . . . nach jedem Wummern, nach jeder Explosion glaubte er jetzt die Vibrationen durch die Fußsohlen zu spüren. Das Schwarz im Gras tanzte auf der Stelle. Eine Hütte, ein Türrahmen, ein Mensch. Fremd. Indianisch. Mit einem Poncho bekleidet. Feuerstöße zucken, taumeln, rote Fetzen spritzen auseinander. Dann kein Blitz mehr, kein Schlagen mehr, kein Tanzen mehr. Nur noch das prasselnde Gelb und Rot. Und wieder das fröhliche Lachen. Von den Rändern her jetzt wieder das rote Wasser. Immer mehr Wasser flutet auf ihn zu, schlägt über ihm zusammen, wirbelt um ihn herum, überdeckt das Grün, Gelb, Schwarz, überdeckt das Glücksgefühl. Dann Leere . . . rote Leere. Und unvermittelt schlägt es über ihm zusammen, erfüllt ihn, umhüllt ihn, so dass er sich zusammenkrümmt:
Scham! Scham! Scham! Scham!
Sebastian stoppte das Band. Von seiner Stirn rann der Schweiß, kalter Schweiß. Sein ganzer Körper hatte sich verspannt. Vor seinen Augen verschwammen die Konturen der Kabine weiter in Rot, kleine Funken schienen um sein Gesichtsfeld zu kreisen. Schocksyndrom, dachte er, während er in den Unterarmen ein taubes Kribbeln spürte. Immerhin konnte er noch denken. Was war das gerade bloß gewesen?
Er war Zeuge der schrecklichsten Szene gewesen, die er je erlebt hatte – direkt aus dem Gedächtnis seines Vaters. War das vielleicht die verzerrte Erinnerung an einen Kriegsfilm? Hatte sein Vater ein Unglück miterlebt?
Nein! Das war kein Unfall gewesen, keine Katastrophe, kein Flugzeugabsturz. Die gelben Flammen waren das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs gewesen. Und die schwarzen Silhouetten Menschen, die sich hinter einen Zaun duckten. Er war gerade Zeuge geworden, wie zahlreiche Menschen umgebracht worden waren.
Der Mensch, aus dessen Erinnerung diese Bilder stammten, hatte mit einer Maschinenpistole auf Kinder geschossen. Wie kam das in die Erinnerung seines Vaters? Sollte sein Vater . . . Nein. Nein, nein, nein!
War es die Erinnerung eines anderen, die sein Vater sich angesehen hatte und an die er sich erinnerte? Nein, nicht in so klaren Bildern. Niemals.
Es gab keinen Zweifel. Sein Vater hatte Kinder ermordet. Ein Kindermörder. Gott im Himmel, wenn es dich gibt, mach, dass das alles nicht wahr ist. Lass mich endlich aufwachen! Auszeit!, schrie es in seinem Kopf, Auszeit!
Ruhig, Junge, ruhig, ermahnte er sich. Ganz ruhig.
Langsam löste er die verkrampften, schmerzenden Finger vom schweißnassen Joystick. Er zitterte am ganzen Leib. Tief durchatmen, sagte er sich. Versuch einen klaren Kopf zu kriegen.
Große Fehler! Vielleicht hatte er eben gesehen, was sein Vater ›große Fehler‹ genannt hatte, die andere Menschen das Leben gekostet hatten. Den Tod dieser Menschen hätte sein Vater doch mit Sicherheit als Fehler betrachtet. Es schien zu passen. Aber was war wirklich passiert? Wie war es dazu gekommen? Wieso hatte sein Vater . . .?
Während Sebastian sich aufsetzte, wurde ihm wieder schwindelig. Er blieb eine ganze Weile sitzen und versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Dann beschloss er, seine Gedanken zu ordnen und sich so zurück in die Bahn zu zwingen.
Was konnte ihm helfen zu verstehen, was passiert war? Etwas Furchtbares . . . Ihm fiel der Brief seines Vaters an seine Mutter ein. War dies die Katastrophe gewesen? Einer der Menschen in der Erinnerung seines Vaters, eines der Opfer, hatte einen Poncho getragen. Sein Vater hatte diese Bilder aus Südamerika mit nach Haus gebracht!
Er zog den Brief aus seiner Jackentasche und faltete ihn mit flatternden Händen auseinander. Es war um eine Arbeit im Auftrag einer Regierung gegangen, zusammen mit irgendwelchem Militär. Das Ganze hatte in den Anden stattgefunden.
Sammel die Informationen, befahl sich Sebastian. Mach dir eine Liste.
In dem Brief stand der Name eines Generals und das Wort San Mateo. Und es gab Steadmans Formulierung: »Koinzidenz-Katastrophe«. Terroristen, denen man den Vorfall in die Schuhe schieben wollte. Dietz und die IS/STA – richtig! Hier hatte er zum ersten Mal davon gehört! Dietz’ zweimaliges Auftreten, erst im Innenministerium, dann im Brief seines Vaters, war sicher kein Zufall. Vielleicht waren es die losen Enden desselben Fadens? Vielleicht war das Stück, das damals begonnen worden war, noch nicht zu Ende? Aber was war das für ein Stück? Er musste mehr über das erfahren, was damals passiert war.
Sebastian kam eine Idee. Er musste die Presse sichten. Den Zeitpunkt des Vorfalls kannte er ja aus dem Tagebuch.
Also ins Internet. Oder, besser noch, Sareah verschaffte ihm Zugang zu einem Pressearchiv. Auf jeden Fall würde Sareah besser wissen, wie er an Informationen herankommen konnte, um aufzuklären, was damals in den Anden geschehen war.