Nachwort des Autors
Die Wissenschaft dringt immer tiefer in den Kosmos unseres Gehirns ein. Hirnforscher entschlüsseln immer präziser die Funktionen der Netzwerke aus über einer Milliarde Nervenzellen, die unser Denkorgan bilden. Wir wissen inzwischen, welche Regionen unseres Gehirns aktiv sind, wenn wir sehen, hören, Worte zu Sätzen verknüpfen, wenn wir Angst haben oder uns freuen, und wir wissen, dass unsere Persönlichkeit geprägt ist vom Zustand unseres Stirnhirns und dass es im Gehirn eines Amerikaners eine einzelne Nervenzelle gibt, die auf Bill Clinton – und nur auf Bill Clinton – reagiert.
Die großartigen Erkenntnisse der letzten Jahre zeichnen ein immer schärferes Bild von unserem Denken und unserem Ich. Darüber hinaus bietet die Hirnforschung immer mehr Möglichkeiten, Krankheiten wie Depressionen, Schizophrenie und in Zukunft vielleicht auch Parkinson oder die Alzheimer-Krankheit zu behandeln.
Doch was Friedrich Dürrenmatt für die Physik formuliert hat – dass der Inhalt der Physik die Physiker angeht, die Auswirkung aber alle Menschen –, gilt auch für die Hirnforschung.
Die Physiker haben dem Menschen die Macht gegeben, den Atomkern zu manipulieren, und damit die Möglichkeit, unseren Planeten zu zerstören. Die Hirnforschung ist dabei, in den Kern unseres Bewusstseins vorzudringen – und könnte dem Menschen damit eventuell die Macht geben, diesen Kern zu manipulieren und zu zerstören.
Als ich während des Studiums auf die Experimente des kanadischen Hirnchirurgen Wilder Penfield an der McGill University in Montreal stieß, machte ich mir über all das noch keine Gedanken. Penfield hatte in den 50er und 60er Jahren gezeigt, dass unsere Erinnerungen in Verknüpfungen von Nervenzellen gespeichert sind, über die ein elektrischer Strom fließt. Ich stellte mir nun die Frage, ob es dann nicht möglich sein müsste, den Inhalt unseres Gedächtnisses auf einen Computer zu übertragen, auf ein Speichermedium, das nach dem gleichen Prinzip funktioniert. Nachdem ich mich mit den Strukturen unseres Denkorgans auseinander gesetzt hatte, war klar, dass unsere Hirnfunktionen dafür zu komplex sind. Außer: es gäbe einen Raab’schen Kanal. Es war demnach nötig, einen Christian Raabe zu erfinden und ihn seine Entdeckung machen zu lassen. Für seine Technik würden sich dann natürlich die Geheimdienste dieser Welt interessieren – wie sie sich auch für Telepathie, Telekinese und anderen Unsinn interessiert haben. Die Geschichte begann sich zu entwickeln. Doch bei den Recherchen für dieses Buch stellte ich fest, dass das, was ich mir ausdachte, viel näher an der Realität war, als ich es mir hatte träumen lassen: Es gibt tatsächlich Hirnfunktionen, auf die Wissenschaftler und Politiker in der Vergangenheit Einfluss zu nehmen versuchten – unter anderem mit dem Ziel, Menschen in kampfbereite Roboter zu verwandeln.
Einer der ältesten bekannten und zugleich erfolgreichsten Versuche fand Ende des 11. Jahrhunderts statt. Um das Jahr 1090 entwickelte der Perser Hasan-i Sabbah, Kopf einer ismaelitischen Sekte, eine perfekte Methode, mit der er und seine Nachfolger ihre politischen Gegner ausschalteten. Sabbah ließ junge Männer auf seine Festung Alamut verschleppen, setzte sie unter Drogen (Haschisch) und ließ sie rauschende Feste feiern. Zurück in der kalten Realität, wurde ihnen von Sabbah erklärt, sie hätten einen Blick auf das Paradies werfen dürfen, das nach ihrem Tode auf sie wartete. Süchtig nach den erlebten Genüssen, waren die jungen Männer mehr als bereit, für den Alten vom Berg zu sterben. Die Sekte brachte so die berühmtesten Selbstmordattentäter der Weltgeschichte hervor: die Assassinen (von Haschaschîn, die Haschischraucher). Führende muslimische Persönlichkeiten starben ebenso wie christliche Kreuzritter inmitten ihrer Leibwächter unter den Messern der Fedajin.
Fast 900 Jahre später, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, begannen Angehörige des US-Verteidigungsministeriums DOD und des Auslandsgeheimdienstes CIA mit Versuchen, die das gleiche Ziel hatten wie die Methoden des Alten vom Berg. Sie führten Experimente an US-Bürgern durch, im Rahmen derer unter anderem herausgefunden werden sollte, unter welchem Einfluß sich ein Mensch in eine Kampfmaschine ohne eigenen Willen verwandeln ließ.
Die amerikanische Öffentlichkeit ahnte davon nichts. Selbst die Regierung – oder zumindest weite Teile davon – wurde offenbar nicht informiert.
Erst 1974, als während der Watergate-Affäre auch die CIA ins Visier der Ermittler geriet, veröffentlichte die ›New York Times‹ einen Artikel, in dem der Geheimdienst beschuldigt wurde, während der 60er Jahre wissenschaftliche Experimente an US-Bürgern durchgeführt zu haben. Präsident Gerald Ford setzte eine Kommission unter seinem Vizepräsidenten Nelson A. Rockefeller ein, die den Vorwürfen nachgehen sollte. Auch der Kongress ließ die Anschuldigungen von einem Komitee unter Senator Frank Church untersuchen. 1975 und 1976 bestätigten die Gremien, dass die CIA und das Verteidigungsministerium tatsächlich Drogen-Experimente an Menschen durchgeführt hatten – ohne deren Einverständnis. Erstmals fielen in der Öffentlichkeit die Begriffe MKULTRA, BLUE-BIRD und ARTECHOKE.
Doch die Untersuchungen blieben oberflächlich. Denn: CIA-Direktor Richard Helms und der für das Projekt verantwortliche Chef der Abteilung Technische Dienste, Sidney Gottlieb, hatten bereits 1973 alle MKULTRA betreffenden Unterlagen zerstören lassen. Bei den Anhörungen wenige Jahre später konnte niemand gefunden werden, der sich an Details der Projekte erinnerte. Den Ermittlern stand wenig mehr zur Verfügung als ein interner CIA-Bericht, in dem die Versuche 1963 kritisiert und in dessen Folge sie angeblich 1964 gestoppt worden waren.
Unbefriedigt von den Ergebnissen der Untersuchungen, verlangte der amerikanische Journalist John Marks im Rahmen des so genannten Freedom of Information Act die Herausgabe aller CIA-Dokumente, die mit Humanexperimenten zu tun hatten. Es war eine Formalität, auf die er nicht viel Hoffnung setzte, doch bei der CIA suchte man tatsächlich noch einmal intensiv – und wurde fündig. 1977 wurden Marks einige Kisten voller Papiere zum MKULTRA-Projekt zugänglich gemacht, die der Zerstörung zufällig entgangen waren. Noch im gleichen Jahr beschäftigte sich ein Kongress-Komitee unter den US-Senatoren Daniel Inouye und Edward Kennedy mit den Dokumenten.
Aus den Unterlagen ging hervor, dass das Projekt seinen Ursprung in einem Programm mit dem Namen BLUEBIRD hatte, in dem die CIA ab 1950 herauszufinden versuchte, wie man aus feindlichen Agenten Informationen gewinnen und die Gehirnwäsche eigener Agenten verhindern konnte. Die Agency war aufgeschreckt worden von Hinweisen auf ähnliche Techniken, die die Chinesen und Russen zu verwenden schienen. Es folgte das Programm ARTECHOKE, in dem die Versuche weiterentwickelt wurden. 1953 startete die Agentur schließlich MKULTRA, mit dem die Finanzierung und Durchführung von Humanexperimenten im großen Rahmen organisiert wurden.
Die Papiere belegten, dass das MKULTRA-Programm mindestens 149 Unterprogramme umfasste. Die einzelnen Projekte wurden an Universitäten, in Krankenhäusern, Gefängnissen und privaten Unternehmen durchgeführt. Es ging nicht mehr nur um Befragungstechniken und Gehirnwäsche, sondern auch um die gezielte Manipulation von Menschen. Eines der Ziele war es herauszufinden, wie man Personen dazu bringen konnte, ohne eigenen Willen zu töten.
Die Teilnehmer der Experimente wussten häufig nicht, worum es bei diesen Versuchen ging – nicht einmal, dass sie überhaupt Versuchspersonen waren. Auch vielen beteiligten Wissenschaftlern war nicht bewusst, dass ihre Projekte von der CIA finanziert wurden. Aus den Dokumenten ging ebenfalls hervor, dass es im Rahmen eines als MKDELTA bezeichneten Programms auch zu Versuchen außerhalb der USA kam.
Die Öffentlichkeit war empört, als die Geheimdienstaktivitäten bekannt wurden – doch alle Personen, die an den angeblich längst beendeten Projekten beteiligt gewesen waren, waren nicht mehr im Dienst. Die Aufarbeitung der Affäre war schwierig, und es dauerte weitere 17 Jahre, bis schließlich das Committee on Veterans’ Affairs unter dem Vorsitz von Senator John D. Rockefeller IV. abschließend feststellte, dass es Tausende von US-Bürgern waren, die an den Versuchen des DOD und der CIA teilgenommen hatten. 1994 legte der Senator einen Bericht vor, demzufolge »das Verteidigungsministerium in Zusammenarbeit mit der CIA in den 1950er und 1960er Jahren Tausenden von ›freiwilligen‹ Soldaten Halluzinogene verabreichte«. »Diese Armeeangehörigen«, so Rockefeller weiter, »nahmen an Versuchen mit Medikamenten teil, die zur Bewusstseinskontrolle oder Verhaltensveränderung führen sollten – oft ohne ihr Wissen oder ihre Einwilligung.«
Darüber hinaus »führte das Verteidigungsministerium zahlreiche break-man-Tests durch, bei denen Soldaten chemischen Waffen ausgesetzt wurden, um festzustellen, bei welcher Belastung es zu Verlusten kommen würde – d. h. wann ein Mann die Belastung nicht mehr aushielt (break a man)«.
Rockefeller berichtete darüber hinaus, dass »vom Verteidigungsministerium oder in seinem Auftrag noch immer jedes Jahr Tausende von Experimenten an Menschen durchgeführt werden«. Diese Experimente dienten zwar unter anderem dazu, Informationen über Krankheiten zu erlangen. Doch der Weg zu diesem Ziel erschien ihm äußerst bedenklich: Offiziere, so fand Rockefeller heraus, hatten ihren Untergebenen unter Drohungen befohlen, »freiwillig« an Studien teilzunehmen: »Zum Beispiel erklärten etliche Golfkriegsveteranen bei einer Befragung durch Komitee-Mitglieder, ihnen sei befohlen worden, während der Operation Desert Shield 1990 experimentelle Impfstoffe zu nehmen – oder ins Gefängnis zu gehen.«
Sind die Versuche, Menschen mithilfe von Drogen zu manipulieren, heute vorbei? Wer weiß. Es waren sicher nicht nur Militärs, Nachrichtendienstler und Wissenschaftler in den USA, die solche Experimente durchführten – ähnliche Versuche dürfte es in einer Reihe weiterer Staaten gegeben haben. Wahrscheinlich gab es Humanexperimente mit Wahrheitsdrogen auch in der Sowjetunion und in China. Wenn also die Versuche mit und der Einsatz von bewusstseinsverändernden Mitteln in den USA beendet wurden – für die übrige Welt gibt es dafür keine Garantie. Auch die Vereinigten Staaten sind heute kaum eine andere Demokratie, und die US-Regierung fühlt sich den Menschenrechten heute vermutlich nicht stärker verpflichtet als während der 50er und 60er Jahre. Die Bedrohung durch den Kalten Krieg, mit der die CIA die Versuche zu rechtfertigen versuchte, ist vorüber – doch heute gibt es eine neue Gefahr: Der Westen befindet sich im Kampf gegen den Terror und die Assassinen des fundamentalistischen Islam. Können wir sicher sein, dass es heute keinen Richard Helms, keinen Sidney Gottlieb mehr gibt, die ohne Wissen der Öffentlichkeit oder sogar ohne Wissen ihrer Regierung bereit sind, die fundamentalen Menschenrechte zu opfern, in der Überzeugung, es diente der Nationalen Sicherheit? Dr. Gottlieb verteidigte die MKULTRA-Experimente 1977 mit den Worten: »So hart dies im Rückblick aussehen mag, wir empfanden es als vernünftig, bei einer Sache, die das Überleben der Nation zu betreffen schien, auf diese Weise zu handeln und ein solches Risiko einzugehen.«
Hat sich die Haltung der Verantwortlichen in der Zwischenzeit geändert? Ich habe meine Zweifel.
Markus C. Schulte von Drach
München, Juli 2004