24. April, Nachmittag

Wieder Gelb. Wieso immer Gelb?

Diesmal hatte er die CD Nr. II eingelegt, ohne einen automatischen Abbruch zu programmieren. Aus dem eintönigen Bild wurde eine . . . Bratpfanne? Was für eine blöde Erinnerung. Eine Bratpfanne mit einem Spiegelei. Na toll. Die Pfanne kippte von dem undeutlichen Herd, und Sebastian spürte ein Zucken dort, wo Tropfen des heißen Öls seinen Fuß verbrühten. Der Schmerz war in der Erinnerung nur noch ein dumpfes, unangenehmes Gefühl. In der Wirklichkeit musste er ziemlich schlimm gewesen sein. Sebastian konnte sich nämlich daran erinnern, dass er barfuß gekocht hatte. Augenblick. Natürlich konnte nicht er sich erinnern, sondern der Mensch, dessen Film er sich hier ansah. Na gut, dieses Erlebnis war es wohl doch wert gewesen, sich daran zu erinnern. Zum Glück spürte man einen Schmerz nicht noch einmal, wenn man sich an ihn erinnerte. Man wusste zwar, etwas hatte sehr wehgetan, aber richtig vorstellen konnte man sich das nicht mehr. Sonst würde sicher niemand ein zweites Mal zum Zahnarzt gehen.

Ein dunkler Gang. Er ging einen dunklen Gang entlang, in einem Rohbau, und er mündete ins Nichts. Eisenträger ragten kahl aus den unverputzten Wänden. Dort, wo der Gang endete, hörte auch das Gebäude auf. Vermutlich sollte hier vom Boden bis zur Decke ein Fenster installiert werden. Er beugte sich vorsichtig vornüber. Sein Blick wanderte gute dreißig Meter senkrecht an der Außenwand des Gebäudes hinunter, als er sich aus der Öffnung hinausbeugte. Sebastian spürte, wie sich aus der Erinnerung ein Schwindelgefühl in ihm ausbreitete. Dazu kam, dass ihn durch das Bild auch selbst ein leichter Schwindel erfasst hatte. Ihm wurde also sozusagen doppelt schwindelig. Aber dann wurde dieses Gefühl von dem seltsamen Verlangen verdrängt, sich vornüberkippen zu lassen. Es war dieses Drängen, das einen manchmal überkommt, wenn man irgendwo in sehr großer Höhe steht, auf einem Turm oder Balkon, und hinunterschaut. Ob dieses Gefühl nun von ihm selbst stammte oder ob er es aus den fremden Erinnerungen übernahm, war ihm momentan nicht klar. Er war jedenfalls froh, dass er nicht wirklich in Gefahr war, sich fallen zu lassen. Scheiße, vielleicht waren dies ja die Erinnerungen eines Selbstmörders, der sich jetzt gleich von diesem Gebäude stürzen würde. Fallen, fallen, immer tiefer, während der Wind in seinen Ohren pfiff. Die Erde würde rasend schnell und immer schneller auf ihn zustürzen, immer mehr von seinem Blickfeld einnehmen, der Horizont würde immer weniger Himmel zeigen. Die Details der Gegenstände dort unten, Autos, Menschen, würden sich immer klarer aus dem Dunst schälen, Hüte, entsetzt zu ihm aufschauende Gesichter.

Dann ein dumpfer Schlag, wenn sich sein Körper brutal mit dem Erdboden vereinigt und sein Geist frei wird.

Die beängstigende und zugleich faszinierende Erwartung erfüllte sich nicht. Der Blick wanderte wieder hinauf, schwang sich über die Stadt. Die Aussicht kam Sebastian bekannt vor. Natürlich, schließlich lebte er in München, seit er denken konnte. Aber dies war nicht seine Erinnerung. Also hatte der Mensch, von dem sie stammte, sich zumindest vorübergehend in München aufgehalten. Oder brachte er da gerade etwas durcheinander?

Mit einem Mal breitete sich eine wohlige Wärme in ihm aus, gepaart mit einem Gefühl der Erregung. Eine Art Spannung erfüllte ihn, und er spürte einen warmen Atemhauch auf seinem Gesicht. Über ihm tauchte etwas auf, jemand. Er sah von unten auf den Hals und das Kinn eines Menschen. Eine Frau. Sie musste über ihn gebeugt sein, den Kopf in den Nacken gelegt. Nein, sie lag auf ihm. Er meinte, ihr Gewicht auf seinem Unterleib zu spüren. Die Erregung bekam einen eindeutigen Charakter. Es sah aus, als würde der Kopf der Frau von einer unsichtbaren Kraft nach hinten gezogen. Ihr Rücken bog sich so weit durch, dass er, obwohl sie ihr Becken noch immer flach auf das seine drückte, jetzt kaum noch etwas von ihrem Gesicht sehen konnte. Die Kuppeln ihrer herausgedrückten Brüste nahmen fast sein gesamtes Gesichtsfeld ein, ihre Brustwarzen ragten wie die Spitzen kleiner Finger in die Luft. Nach einigen ewigen Sekunden beugte sie sich wieder nach vorn, und er sah ihr glückliches Gesicht. Es traf ihn wie ein Stromschlag. Mit einem Ruck stoppte er das Band.

Er hatte mit seiner eigenen Mutter geschlafen.

»Du hast was?«

»Ich habe Erinnerungen meines Vaters gesehen, die er aufgezeichnet haben muss, als er noch gelebt hat«, wiederholte Sebastian. Seine Freunde schauten ihn fassungslos an.

»Und du bist ganz sicher, dass es Aufnahmen von deinem Vater waren?«, fragte Mato. Hobbes schwieg. Er musste das, was sie gerade gehört hatten, noch verarbeiten.

»Dann hat er es tatsächlich geschafft, Erinnerungen eines lebenden Menschen zu speichern«, brach es schließlich aus Sebastian hervor. »Und er hat niemandem etwas gesagt. Die Schallmauer durchbrochen. Ohne einen Ton.«

»Wieso hat er denn niemandem etwas gesagt? Ein Riesendurchbruch. Und er will nichts weiter, als dass sein Sohn, ohne dass der weiß, worum es eigentlich geht, alles wieder zerstört?« Mato schüttelte fassungslos den Kopf.

Hobbes wirkte ärgerlich, als er ihm antwortete. »Mann, denk doch mal nach, was das für Konsequenzen haben könnte. Bisher war alles, was mit Erinnerungsfilmen zu tun hatte, doch immer noch Grundlagenforschung.«

»Bis auf diese Mordfälle«, warf Mato ein.

»Ja, aber dabei kam nichts heraus, und die Filme hätten sowieso nur als Indiz gegolten. Und jetzt, Mann! Eingriffe bei Lebenden! Das bedeutet, es ist möglich, Leute zur Preisgabe ihres Gedächtnisses zu zwingen. So lange, bis man die Information hat, die man sucht. Schnapp dir jemanden, nimm ihm seine Erinnerung, bring ihn um oder lass ihn wieder laufen. Vielleicht geht das auch noch, ohne dass man merkt, was da mit einem angestellt wird? Das ist doch etwas anderes, als jemanden erst töten zu müssen, bevor man suchen kann.«

Mato schüttelte den Kopf. »Du übertreibst. Das klingt ja echt nach Groschenroman.«

Aber Hobbes blieb dabei. »So ähnlich wird Sebastians Vater wohl auch gedacht haben, oder? Weshalb sonst der Wunsch, alles zu vernichten?«

Sie schauten Sebastian an. Der starrte schweigend auf die Tischplatte. In der Cafeteria war es um diese Zeit eher ruhig. Nach dem Schock im Zentrum war Sebastian durchs Institut gewankt wie ein Geist. Als Mato ihn angetippt und mit in die Cafeteria genommen hatte, schien er ziemlich verwirrt. Nach einer Tasse Kaffee hatte Sebastian sich halbwegs gefangen und alles erzählt. Mato und Hobbes waren danach für eine ganze Weile verstummt.

Sebastian durchbrach schließlich als Erster das Schweigen: »Irgendjemand wusste, dass er an etwas Wichtigem gearbeitet hat. Und dann hat er ihn getötet, um an die Ergebnisse zu kommen.«

»Aber wer könnte so etwas tun? Und warum hat dein Vater das Ergebnis seiner Arbeit zerstören wollen, wenn sie so wichtig war?«, fragte Mato.

»Na, das ist doch klar«, erklärte Hobbes. »Er konnte gar nicht anders. Er wollte einfach wissen, ob es möglich ist. Und als er es wusste, war es ihm genug. Schluss.«

»Vielleicht hat er ja auch gehofft, dabei noch andere Dinge zu finden. Ungefährliche Dinge, nützliche Dinge, was weiß ich«, meinte Mato.

Sebastian dachte nach. Sein Vater war ein Besessener gewesen. Er wollte immer schon wissen, wie die Rückseite des Spiegels aussah. Um jeden Preis. Doch irgendetwas musste ihn in jener Nacht gestört haben. Irgendetwas hatte ihn dazu gebracht, dass er plötzlich seine Ergebnisse zerstören wollte. War er zur Besinnung gekommen? Doch bevor er seine Daten löschen konnte, war er umgebracht worden.

War es so gewesen?

Sebastian würde das wahrscheinlich nie erfahren. Aber er musste wissen, wer für den Tod seines Vaters verantwortlich war.

Christian Raabe hatte in seiner Nachricht von mehreren großen Fehlern gesprochen. Der eine war vermutlich seine letzte Forschungsarbeit. Was aber waren die anderen Fehler?

»Was willst du jetzt tun?«, fragte Mato.

Sebastian war sich nicht sicher. Er zuckte die Schultern.

»Na, rauskriegen, wer seinen Vater auf dem Gewissen hat.« Hobbes versuchte einen lockeren Ton.

»Sag mal, ist euch eigentlich klar, worum es hier geht?«, fragte Sebastian ungehalten. »Wir machen doch hier keine Butterfahrt!«

»Ach, du meinst: keine Heizdecken am Ende?« Hobbes grinste.

Sebastian war nicht nach Blödeln zumute. Das hier war kein Vorabend-Krimi. »Vielleicht sollten wir die Sache besser der Polizei übergeben.« Sebastian blickte fragend in die Runde.

»Und du glaubst, dass die paar Hinweise, die wir liefern könnten, die Polizei motiviert, der Sache nachzugehen?« Hobbes schüttelte den Kopf. »Für die ist das ein glatter Selbstmord. Nein, da müssen wir erst mal selber ran. Und dann können wir immer noch zur Polizei gehen.«

Mato nickte.

»Mir fällt da gerade etwas ein«, meinte Hobbes. »Erinnert ihr euch an diese Sache mit der Ärztin im Klinikum? Was hatte der Sanitäter da noch mal festgestellt: Etwas hätte sich verändert bei deinem Vater?«

»Ja, und?«

»Vielleicht sollten wir den mal ausfindig machen. Und vielleicht wäre es auch interessant, mal einen Blick in die Krankenblätter deines Vaters zu werfen. Ich habe da so eine vage Idee.«

Sie verließen die Cafeteria und verabredeten sich abends wieder im Last Experience. Sebastian rief bei Sareah an und hoffte fast, sie nicht zu erwischen. Er wollte gern mit ihr sprechen. Andererseits war er in diesem Augenblick nicht in der richtigen Verfassung für einen Flirt mit der Frau seiner Träume. Er hatte Glück. Ihre Mailbox forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Erleichtert sagte er, wo er am Abend zu finden sein würde.