Wie üblich


Die ersten Fernsehberichte gingen genauso an ihr vorbei wie die ewig gleichen Beiträge über Bürgerkriege, Bomben und Brutalität im Nahen Osten – Lybien, Iran, Irak; alles war zu einer arabischen, blutigen Masse verwaschen. Die moralisch überlegene Betroffenheit und der investigativjournalistische Ernst hatten sie erst gelangweilt, dann plötzlich beleidigt. Mit kindlichem Trotz hatte sie also vor drei Wochen die Stecker gezogen. Sie war sich so mächtig vorgekommen. Währenddessen hatte sie sich geschworen, alles noch am selben Tag zu verkaufen. Schnell hatte sie jedoch auch bemerkt, dass sich dieses Vorhaben ohne eBay eher umbequem umsetzen ließ. Jetzt standen die Geräte also, angestaubt und keines Blickes mehr gewürdigt, wie Spielzeuge im Zimmer einer verwöhnten Kapitalistenbratze , an exakt den Plätzen, wo sie schon immer gestanden hatten. Wenigstens war sie stur genug gewesen, ihren selbstverordneten Medienblackout bis jetzt durchzuhalten.

Wie üblich stand sie auf, als graue Sonnenstrahlen durch das Dachfenster und ihre geschlossenen Lider schienen. Grummeln, pinkeln, waschen. Kaffee, Kippe, Zeichentisch. Im Arbeitszimmer roch es leicht nach teurem Papier und etwas weniger leicht nach Hamsterkacke. Dexter lag wie üblich faul und fett direkt vor seinem angenagten Haus aus grünem und rotem Plastik. Nicht einmal seine Ohren bewegten sich, als sie die Käfigtüre öffnete, um eine Keramikschale voll mit Futter auf das Einstreu direkt vor seine Nase zu stellen. Sie wollte den handflächengroßen Nager hinter den Ohren kraulen, doch er duckte sich unwillig unter ihrer Hand hinweg und verschwand in einem seiner Tunnel. Sie schnaubte.

Sie ließ sich auf den überteuerten ergonomischen Stuhl vor ihrem Zeichentisch fallen. Sofort überkam sie derselbe Mix aus Gefühlen wie jeden Morgen: Ein gehetztes Kribbeln und der Wille, sich einfach wieder ins Bett zu legen. In nicht einmal zwei Tagen war Deadline für die Illustrationen zu einem Thema, dass ihr wieder einmal ganz gehörig am Arsch vorbeiging. Es war immer das Gleiche: Sie zeichnete ziellos vor sich hin, krampfte meist einen Tag nach Abgabetermin ein paar Illustrationen heraus – mit denen sie nicht im geringsten zufrieden war – und schickte hochauflösende Scans davon unmittelbar danach an wenauchimmer, der sie dafür bezahlte. Das ging jetzt auch nicht mehr, das mailen. Immerhin gab es noch die Post.

Wie so viele Male zuvor wirkte es plötzlich sogar verlockend, die Fenster zu putzen anstatt zu arbeiten. Sie stand auf und wanderte einige Minuten ziellos durch die Wohnung. Als sie das dritte Mal eine Runde durch die Küche drehte, öffnete sie die Kühlschranktür. Leere. Was sie allerdings wunderte: Das Licht ging nicht an. Sie streckte die Hand aus und ließ sie eine Weile lang im weißen Kasten verharren. War schon wieder die Lastschrift an die Stadtwerke zurückgekommen, weil ihr Konto nicht gedeckt war? Die Gewohnheit verlangte von ihr, per Online-Banking den Kontostand abzufragen, doch sie ermahnte sich selbst und schloss die Kühlschranktüre. Dann hatte sie jetzt eben einen unpraktisch klobigen Schrank, der nicht mehr kühlte. Was sollte es. Es war ja nicht so, als wäre sie nicht schon einmal in derselben Situation gewesen. 

Trotzdem änderte es nichts daran, dass sie einkaufen musste; ein bisschen Bargeld war ja noch da. Dosen, Kaffee, Kippen, das übliche eben; Packungsfraß, der idealerweise nicht gekocht werden musste. Ohne Strom könnte alles andere auch schwierig werden, dachte sie und grinste, obwohl ihr eigentlich überhaupt nicht nach grinsen zumute war. 

Auf dem Weg zum ALDI um die Ecke kam ihr niemand und nichts entgegen. Ihr passte das ganz gut, denn sie hatte heute wieder einen ihrer besonders asozialen Tage. Sie verwendete den Begriff asozial so, wie sie ihn verstand: Nicht zu sozialer Interaktion fähig. Es beleidigte sie, dass die Junkies und Berufsalkoholiker am Brunnen in der Innenstadt als Asoziale bezeichnet wurden. Ihrer Meinung nach waren sie nicht asozial, sondern schlicht Gespenster, zu müde für Menschen mit einem anderen Lebensstil und lebten so prinzipiell die gleiche Haltung, die ihnen entgegengebracht wurde. 

Als sie durch die bereits offenen Glastüren in den Laden trat, wunderte sie sich etwas. Ein schwerer, süß-saurer Geruch drückte sie zurück. Überall auf den beige-gelb gefleckten Zweckfliesen verteilt lagen aufgerissene Tüten mit Brot und Brötchen, zertretene Tomaten, schon mit grauem Pelz bewachsen, und geplatzte Wasserflaschen und Milchpackungen, deren Inhalt dreckig-weiße Pfützen gebildet hatte. Einige tote Fliegen dümpelten darin wie gekenterte Segelboote, die Flügel gespreizt, schwarz, mit einem weißen Muster auf dem Körper, das sie an ein Schachbrett erinnerte. Träge trotteten noch lebende Insekten neben den Seen aus Flüssigkeiten und Überresten entlang, ohne sich um ihre toten Artangehörigen zu kümmern. 

Teilweise waren ganze Regale umgeworfen. Was sie allerdings noch mehr verwirrte als dieses Chaos war die Tatsache, dass auch hier niemand war. Auf dem Parkplatz standen zwar zehn oder fünfzehn Autos, aber der Laden war leer. Sie runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. Aber es half ja alles nichts, sie brauchte Essen. Sie zog den Kragen ihres T-Shirts über Mund und Nase, um dem Geruch zu entkommen und nicht versehentlich eine der vielen Fliegen einzuatmen, die von ihrer Gegenwart aufgescheucht worden waren. Mit hochgezogenen Schultern stakste sie auf Zehenspitzen durch den stinkenden Brei im Eingangsbereich.

Je weiter sie nach hinten in das Geschäft vordrang, umso weniger zerstört sah es aus. Sofern es sich noch bewerten ließ, hatte auch bei den Konserven ein Kampf stattgefunden; einige zerbeulte Dosen lagen neben den Europaletten. Doch außer dieser Ausschussware war nichts mehr da, bloß höhnisch leere Flächen aus Pappe. Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als mitzunehmen, was zurückgelassen worden war. Sie kauerte sich hin. Passierte Tomaten. Nichts als passierte Tomaten. Sie hasste passierte Tomaten. Trotzdem immer noch weitaus besser als nichts. Nachdem sie die Dosen in ihren Rucksack gestopft hatte, suchte sie weiter nach Verwertbarem.

Immer wieder musste sie einsame Einkaufswagen beiseite schieben und durch Pfützen von Nahrungsüberresten steigen. Ihre Schuhe waren mittlerweile von blassroten Spritzern überzogen. Plötzlich traf sie eitriger Gestank wie ein unerwarteter Schlag in den Magen. Die Quelle machte sie grob in Richtung der Kühltheke aus. Sie war sich sicher, dreckig-weißes Zucken und eine Decke von schwarzem Flirren dort gesehen zu haben, wo eigentlich die Wurst sein sollte. Brennende Hitze stieg ihr im Hals hoch. Sie schloss kurz die Augen, schluckte schwer, ignorierte, was sich nicht ignorieren ließ, und ging dann, als müsste sie sich selbst von der Panik abhalten, mit kontrolliert weiten Schritten in Richtung Kasse. Unterwegs griff sie einige der wenigen eingeschweißten Lebensmittel, die noch im Laden verblieben waren, ohne darauf zu achten, was es war. 

Sie hatte aus ihren vorherigen Fehlern gelernt und hielt die Luft an und hob einen Arm vor ihr Gesicht, als sie am ebenfalls von Fliegen übervölkerten Teil des Ladens vorbeieilte, wo einmal das Obst gelegen hatte. Unter ihren Schuhsohlen spürte sie etwa reiskorngroße Unebenheiten, die auf ihr Gewicht nach einer endlosen halben Sekunde nachgaben, als hätten sie alles versucht, um sie zu tragen, um letztendlich doch kläglich zu scheitern. Bissig kämpfte sie gegen den Drang zu kotzen. Sie vermied, nach unten zu sehen, und starrte stur auf Scheibe nach draußen, die ein immer noch völlig leb- und bewegungsloses Bild zeigte. Als sie endlich an dem schwarzen Gummiband angekommen war, hielt sie kurz inne, um einen 20€-Schein auf die Edelstahlfläche direkt an der Kasse zu legen; dann verließ sie fast rennend das Geschäft. 

Sie lief, bis sie sich sicher war, dass ALDI hinter ihr lag. Erst jetzt bemerkte sie, wie merkwürdig es gewesen war, einfach Geld an der Kasse zu lassen. Ohne, dass sie ihr Handeln allzu witzig fand, brach ein atemloses, gepresstes Lachen aus ihr heraus. Sie lachte und lachte, minutenlang, bis sie nicht mehr konnte und sich selbst unheimlich fand.

Sie entschloss sie sich, einen Spaziergang zu machen. Sie musste nachdenken; außerdem ließ sich so die Arbeit noch ein wenig aufschieben. Trotz ihrer bescheidenen Errungenschaften, die sie aus dem zerstörten Laden gerettet hatte, fühlte sie sich klarer und selbstsicherer als vorher. Sie wusste nicht warum, aber sie genoss das Gefühl. 

Das Innenhafenbecken lag wie ein massiver, schwarzer Spiegel in einem grauen Rahmen vor ihr. Baukräne ragten aus dem Boden wie zu schnell gewachsene Bäume mit verkrüppelten Ästen, unfertige Gebäude versuchten, sich unter ihnen in den Himmel zu recken wie dürre Büsche im Winter. Es wehte ein salziger, leicht modriger Wind. Nichts sah anders aus als an den Abenden, an denen die Unruhe sie zu einem langen Lauf aus der Wohnung getrieben hatte. Die Leere war das Einzige, was darauf hindeutete, dass irgendetwas nicht mehr stimmte. Auf unklare Art war sie erleichtert. Vielleicht, weil manche Dinge sich nie wirklich änderten. Vielleicht, weil sie kurz vergessen konnte, weiter nachzudenken. 

Warum waren die Straßen so leer? Warum war ihr bisher niemand entgegengekommen? Warum hing ihr der Gedanke an die Unmengen von Insekten im Laden so nach? Warum-

Etwa 500 Meter entfernt sah sie Möwen im Himmel kreisen. Erleichterung hüllte sie warm ein wie eine Decke. Ihr Schritt beschleunigte sich, sie ließ die Vögel nicht aus den Augen. Als sie die Querstraße zum Philosophenweg überquerte, konnte sie erkennen, dass sie ihre ruhigen Bahnen über dem weißen Baugerippe direkt gegenüber von der Synagoge zogen. Automatisiert, fast ohne Kontrolle über ihre Schritte, stapfte sie aufgeregt auf das Betonpodest mitten in den Grünflächen zu. Ihr Puls pochte in den Schläfen, als sie die Metalltreppen hocheilte.

Sie wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte. Ein Körper. Der Hose und Frisur nach zu urteilen war es ein Mann gewesen. Platt und regungslos lag er da, die Arme nach hinten ausgestreckt, das Gesicht nach unten, sodass sie nur den Hinterkopf erkennen konnte. Sein Körper sah merkwürdig aufgeblasen aus. Eine Brise wehte ihr denselben schweren, süßlichen Duft in die Nase wie gerade nahe der Kühltheke; sie kämpfte die Assoziation herunter. Auf dem Toten tummelten sich Möwen. Der Anblick erinnerte sie an die kleinen weißen Putzervögel, die Krokodilen so frech zwischen den Zähnen herumflatterten, ohne dass ihnen etwas passierte. Die Möwen bemerkten ihre Anwesenheit nicht einmal, mit freudiger Erregung zogen sie dicke Fetzen vom bloßen Rücken der Leiche, ihre Schnäbel so effektiv wie ein elektrisches Messer, das Fleisch von einem Dönerspieß trennt.

Stumpf und regungslos beobachtete sie die Vögel eine Weile lang. Plötzlich musste sie grinsen; ein breites, verzerrtes Grinsen. Das war einer dieser Momente, in denen man absolut und unter keinen Umständen lachen durfte, wie die Schweigeminute einer Beerdigung, doch sie konnte sich einfach nicht helfen. Angewidert, eher von ihrem Verhalten als vom Anblick, der sie zu ihrer eigenen Überraschung nicht einmal milde verwundert oder gar erschreckt hatte, drehte sie sich um und eilte schneller davon als sie gekommen war.

Drückende Kopfschmerzen überkamen sie. Fragen über Fragen. Neue Eindrücke. Sorgen. Grundlose Erleichterung. Schlicht: Sie war völlig überfordert. Planlos und ohne großartig über ihr Ziel nachzudenken, ging sie mit langen Schritten wie jemand, der den Bus unbedingt bekommen will, durch die Nachbarschaft, durch die gespenstisch leeren Häuserschluchten und zwischen den dürren Pflanzen auf ihren Grünflächen mitten im Asphalt hindurch. Bloß laufen, nicht denken. 

Doch auf einmal wurde ihre Überforderung von einer schmerzhaften Klarheit weggeweht und sie verlangsamte ihren Stechschritt, in einem ewigen Bremsvorgang, als hätte sie Angst davor, anzuhalten. Dann stand sie endlich und verstand: Ohne, dass sie überhaupt etwas bemerkt hatte, waren alle gestorben – und sie wusste nichts.