Sie wusste nicht, wie lang genau sie schon im Bett lag und es war ihr auch egal. Dass es Tage waren, war klar, doch was spielte es schon für eine Rolle. Mit Mühe konnte sie sich dazu aufraffen, zur Toilette zu gehen. Ihr war klar, dass sie stank; vor einigen Tagen noch war sie ein wenig überrascht gewesen, wie übelriechend es unter ihren Armen war. Es war ihr egal geworden.
Irgendwann hatte es ihr gereicht, durch ihr Dachfenster der Sonne beim auf- und untergehen zuzusehen. Der Höhepunkt ihrer endlosen Tage war der Moment während des Sonnenaufgangs, in dem das Licht den Raum aus dem grobkörnigen Grau zog und in ein mildes Gelb färbte. Das war auch der einzige Moment, in dem sie lächelte.
Der Rest des Tages war immer gleich: Sie verließ so wenig wie möglich ihr Bett und versteckte sich fast trotzig vor der Sonne am Himmel, aß einmal am Tag von den wenigen Vorräten, die sie noch hatte, wenn überhaupt, und das grundsätzlich erst in der Dämmerung. Einmal, vorgestern, um genau zu sein – sie war fast stolz auf sich, als sie darüber nachdachte –, hatte sie einen ganzen Tag lang im Bett ausgeharrt, ohne ein einziges Mal auch nur den nackten Fuß auf das kalte Laminat zu setzen.
Überhaupt war ihr immer kalt, ohne dass sie genau wusste warum. Sie zog die Decke meist bis zur Nase und manchmal über ihren Kopf, bis sie kaum mehr Luft bekam. Objektiv gesehen war es warm in ihrer Wohnung – der Frühling ging so schnell, wie er es hier meistens tat, in den Sommer über und stechend blauer Himmel wurde begleitet von heißen Mittagsstunden –, aber ihr war kalt. Also blieb sie liegen.
Auf dem Nachttisch stand das Bild des schießenden Mannes, das sie gern immer wieder betrachtete. Ihr gefiel ihre eigene Linienführung auf dieser Zeichnung sehr und dafür hasste sie sich, denn Selbstzufriedenheit ist Stagnation, dachte sie jedesmal. Und sie stagnierte.
Neben ihr, wie der schlechteste Liebhaber überhaupt, lag eine Zeichnung des Hauses gegenüber, blau-schraffiert mit großen, glänzenden Flächen aus Kugelschreibertinte, wie sie es geplant hatte, doch das Bild war nicht fertig. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, daran weiterzuarbeiten. Vielleicht wollte sie auch nicht.
Sie konnte schlecht schlafen und redete sich selbst jeden Morgen ein, dass sie ihre Müdigkeit nach ihrer unbefriedigenden Nacht mit einem Tag im Bett kontern müsse. Bisher funktionierte diese Taktik relativ gut. Wie Dexter da so tot im Käfigeingang gelegen hatte, dieses Bild verfolgte sie. Er hatte da gelegen als hätte er hinaus gewollt, noch einmal etwas weniger faul sein als sonst. Vielleicht war es aber auch nur ein Zufall gewesen – doch aufhören, über die möglichen Implikaturen der Position ihres toten Hamsters nachzudenken, schaffte sie einfach nicht. Wenn sie dann nachts einmal kurz wegdämmerte, schreckte sie schnell wieder hoch, immer, wenn ihre Gedanken zurück zu diesem Bild kamen. Ihr Hirn wollte sie einfach nicht in Ruhe lassen.
Also resignierte sie jeden Tag aufs Neue. Sie traf die Entscheidung, nichts zu tun, absolut bewusst. Mit jedem unwilligen Umdrehen, nachdem sich ihr Schlafzimmer verfärbt hatte, war sie grimmig entschlossen, einen weiteren Tag zu warten. Zu warten, bis sie wieder Lust auf das hatte, was nun ihr Leben war.
Als es gerade Mittag geworden war – sie musste sich nicht umdrehen oder die Augen öffnen, ihr reichte das Brennen der hochstehenden Sonne auf ihrem Hinterkopf –, versuchte sie wieder einmal, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Dexter nun tot war. Sie näherte sich diesem Gedanken wie man die Bruchstelle eines Knochens ertastet.
Wenn der kleine, fellige Fettsack sie wieder einmal genervt hatte – wenn er gekackt hatte und das ganze Zimmer plötzlich stank wie ein Gulli im Sommer, während sie gereizt gewesen war von einer kreativen Hürde, für die sie jedes bisschen Kraft und Anlauf brauchte, das sie aufbringen konnte –, hatte sie oft das Wissen darum beiseite geschoben, dass er ihr fehlen würde, wenn er einmal sterben würde. Ihr war bewusst gewesen, dass er nicht mehr der Jüngste war und doch hatte sie ihn verflucht und herumgefuchtelt und an manchen Tagen zusammengeknülltes Papier gegen die Gitterstäbe geworfen (wovon Dexter sich meist nicht hatte von seinen Tätigkeiten abbringen lassen). Ein wenig hatte sie sich jedesmal danach verachtet und schlecht gefühlt und schuldig und armselig und klein und übermäßig barsch, doch manchmal hatte er sie einfach in den Wahnsinn getrieben.
Erst danach fiel ihr auf, wie sehr sein leicht süßlicher Geruch und seine manchmal grundlos aufgeregte Umtriebigkeit ihr fehlten. Wenn sie wieder einmal nicht hatte zeichnen können, hatte sie ihn gern dabei beobachtet, wie er plötzlich herumrannte, als müsse er etwas Dringendes in möglichst kurzer Zeit erledigen.
Der Käfig stand immer noch in ihrem Arbeitszimmer; bisher hatte sie sich einfach nicht dazu aufraffen können, ihn zu entsorgen – entsorgen bedeutete in dem Fall einfach, ihn vor das Haus auf den Gehweg zu stellen. Interessierte doch sowieso niemanden, sie schon gar nicht. Doch der Gedanke, Dexters Zuhause da draußen einfach stehen zu lassen, trieb ihr beinahe noch mehr Kälte in die Glieder als das Wissen um seinen Tod. Vielleicht musste sie sich deswegen den ganzen Tag zudecken, dachte sie dann.
Das letzte Mal war sie draußen gewesen, um ihn zu begraben. Überhaupt war sie immer wegen ihm nach draußen gegangen. Erst wollte auf der Wiese an der Moltkestraße ein Grab ausheben, doch dann erinnerte sie sich an all die Hunde, die mit ihren stumpf und stumm danebenstehenden Besitzern vor dem Ende auf das spärlich wachsende Gras geschissen hatten. Also hatte sie einen anderen Platz gesucht; den kleinen Tierkadaver immer dabei in ihren Handflächen an ihre Brust gepresst, als müsse sie ihn noch wärmen.
Letztendlich buddelte sie eine Vertiefung in die lockere Erde des Grünflächenquadrats, das ihrer Wohnung am nächsten war, direkt neben der dürren Birke, deren Äste bis vor ihr Arbeitszimmer im Dachgeschoss ragten. Nachdem sie den Nager mit derselbe Erde bedeckt hatte, eilte sie noch einmal nach oben, um ein Gummiband zu holen, dann wieder nach unten, um dort zwei schmale, nicht besonders gerade Äste von dem Baum abzubrechen und ein kleines Kreuz zu improvisieren. Sie wusste nicht, warum sie das tat; viel hatte sie sich aus Glauben oder Religion oder Gott oder all dem nie gemacht, doch es ergab in diesem Moment einfach irgendwie Sinn, Dexters Grab als Dexters Grab deutlich zu machen. Zumal sie es einfacher wiederfinden würde, wenn sie ihn besuchen wollte, hatte sie sich gesagt, obwohl sie doch genau wusste, wo sie ihn vergraben hatte.
Besucht hatte sie ihn bisher nicht. Sie wusste genau, dass es nur zehn oder fünfzehn Schritte von der schlecht schließenden, dreckig gelb gestrichenen Haustür mit dem Milchglas waren, und sie wusste, obwohl sie seitdem nicht mehr unten gewesen war, dass sie sein Grab von dort aus sehen können würde, doch besucht hatte sie ihn bisher nicht.
Sie würde es nachholen. Aber nicht heute.
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