Todsünde


Wie so oft in den letzten Tagen saß er wieder auf dem Altar, über sich der eiserne Kerzenhalter, der ihn immer schon an ein Wagenrad erinnert hatte, und blickte über die Holzbänke hinweg in die hohen, oben spitz zulaufenden Fenster, durch die milde und gelb das Tageslicht schien. Es muffte dumpf nach Weihrauch und alten Polstern – ein Geruch, der ein Teil dieses Gebäudes war, als würde er in den steinernen Wänden wohnen. Er murmelte geistesabwesend das Agnus Dei vor sich hin.

Agnus Dei 

Er strich sich noch einmal erschöpft durch das Gesicht. Die schwielige raue weiße Haut an seinen Fingern und Handflächen erinnerte ihn wieder daran, dass sein Beruf körperlicher war, als er es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Seine Berufung, hätte er früher korrigiert. Wie moralisch überlegen er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal das damals noch braune Gewand mit den weißen Ärmeln angezogen und sich verstohlen eine Stunde oder zwei im Spiegel betrachtet hatte. Er war gerade einmal 19 Jahre alt gewesen. Seine Klassenkameraden eiferten dem Geld nach, folgten Beziehungen, Vergnügungssucht, intellektuellen Irrlichtern, doch er hatte sich für Besitzlosigkeit und Gott entschieden. Er hatte nie den Sinn darin gesehen, nach Geld oder Ruhm zu streben; beides war so flüchtig und schnell wieder verloren. Glauben hatte er für ein edleres Ziel gehalten – etwas, das sein Leben bereichern würde, das wertvoller und zeitloser war als Besitz und Anerkennung; ein metaphysischer Schatz, auf den er an jedem Ort zu jeder Zeit zugreifen konnte. Mit der selbstgerechten Zufriedenheit eines gerade der Kindheit entwachsenen Teenagers hatte er auf seine Mitmenschen herabgesehen. Selbst bei den Brüdern und beim Pater war er sich sicher gewesen, dass ihre Gründe für das Mönchdasein nicht so rein und klar waren wie seine, dass sie immer noch auf der Suche waren, wo er schon längst angekommen war. Er war sich sicher, dass die Erlösung direkt vor seinem Gesicht schwebte wie Macbeths Dolch. Hochmut war eine Todsünde. Das hatte er nun davon.

Qui tollis peccata mundi, miserere nobis.

Immer wieder hatte er sich anfangs rechtfertigen müssen – nicht nur vor seinen Freunden, die sich schnell als bloße Weggefährten entpuppt hatten, die zufällig für gewisse Zeit in die gleiche Richtung gehen mussten (undurchsichtig sind die Wege des Herrn), sondern auch vor seiner Familie, dem Pater, den anderen Mönchen, einfach jedem, der glaubte, seine Lebensentscheidungen für ihn treffen zu können, anstatt einfach zu glauben, dass er wusste, was er tat. Zum Glauben waren sie doch da. 

Vermutlich hatten sie seine Abfälligkeit gespürt, vermutlich hatte er auch überdeutlich gezeigt, dass er sich für besser hielt. Das wusste er jetzt und es tat ihm leid. Aber was sollte er jetzt noch dagegen tun. Eine unerträglich arrogante Nervensäge war er gewesen. Es ärgerte ihn. Mittlerweile war er besser als das; diesmal wirklich, nicht nur aus reinem Profilierungsdrang. Er war gewachsen. Doch war niemand da, dem er das zeigen konnte.

Doch seine Initiationsphase ging vorüber, die Brüder ignorierten schnell das, was sie jugendlichen Ungestüm und langsam eintretende Reife hielten; er lernte, seine gefühlte Überlegenheit besser zu tarnen. Schnell fügte er sich in das meditativ gleichförmige Klosterleben ein, und doch hatte er kontinuierlich das Gefühl, etwas abseits vom sozialen Miteinander mit den Brüdern zu stehen. Zwar hatte er sich immer wieder gern eingeredet, dass er keine Menschen um sich herum brauchte, dass er ein Individualist unter Männern war, für die Individualismus keine Rolle mehr spielte, doch mittlerweile wusste er es besser. Die Brüder waren vermutlich sogar ein wenig erleichtert gewesen, als er angeboten hatte, nicht mitzukommen, um den Menschen da draußen beizustehen, während die Welt unterging.

Agnus Dei

Einige waren sich sicher gewesen, dass all das Sterben und die Plagen und der Untergang der Zivilisation lediglich eine weitere Krankheit der Zivilisation waren – andere Brüder hingegen wiegelten immer wieder ab und wiesen darauf hin, wie Menschen während allen großen Kriegen der Geschichte geglaubt hatten, die Apokalypse sei gekommen. Es sei noch nicht an der Zeit, man sollte nur in Ihn vertrauen. 

Das gleiche meinten auch diejenigen, die glaubten, es sei an der Zeit: In Ihn vertrauen. Aus Amerika hörte man von beinahe glücklichen Menschen, von rapture – verzückter, entrückter Erwartung der Erlösung. Naive Kinder. Der Pater konnte seine Begeisterung über diese Situation kaum im Zaum halten; vermutlich hatte ihn die jahrelange Langeweile aus Beten und Arbeiten zermürbt und das unerklärliche Massensterben war für ihn eine willkommene Abwechslung gewesen, über das man sich freuen durfte, war es doch immerhin von ganz Oben initiiert und abgesegnet. Anders war jedenfalls kaum ersichtlich, was am Ende der Welt aufregend sein sollte.

 Qui tollis peccata mundi, miserere nobis.

Er stand auf. Der Sinn, den er seinem Leben zu geben geglaubt hatte, hatte sich mit jeder Stunde aufgelöst, in der er sich zunehmend sicherer wurde, dass es außer ihm auf der Welt niemanden mehr gab. Er wusste nicht, woher er die Gewissheit nahm – bloß, dass sie stimmen musste. Dieses Mal nicht aus Übermut, sondern aus Erfahrung. Vielleicht war es die Stille, vielleicht der trügerische Frieden. 

Er war durch die Nachbarschaft gewandert, hatte an Häusertüren geklopft, durch Fenster gelugt, Autos und Geschäfte durchsucht, war sogar in Wohnungen eingestiegen und fand doch nichts außer Leere. Es war, als hätten die Menschen sich aufgelöst, als habe das Leben einfach aufgehört zu existieren. Als habe Er da oben eine Taste auf seiner allmächtigen Fernbedienung gedrückt, um den großen Weltfilm für eine Pinkelpause zu unterbrechen und danach beschlossen, doch lieber etwas anderes zu schauen. Nur er, der kleine Mönch ohne Orientierung und ohne Ziel, waberte nun wie ein Pixelfehler durch ein endloses Stopbild.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich gefragt, ob das vielleicht die Hölle war. Brennende Verdammnis, unerbittlicher Blizzard: Alles antiquierte, viel zu bildliche Vorstellungen. Etwas Furchtbareres als endlose Einsamkeit konnte es nicht geben. Das war existenziell zermürbend und brutal ausdauernd, wie Wellen, die langsam, aber unaufhaltsam Felsen formten. Da waren sie dann zum ersten Mal in ihm aufgestiegen, diese unbequemen Gedanken, doch er hatte sie gewaltsam mit schwerer Arbeit und zermürbend langen Tagen niedergeschlagen und zum Schweigen gezwungen.

Agnus Dei

Mittlerweile war ihm alles ziemlich egal geworden, was er als sehr erleichternd empfand. Die Zweifel waren verschwunden, wie der Rest der Welt verschwunden war. In den letzten Tagen hatte er wieder sehr viel über die Definition des Begriffs leben nachgedacht und dabei bewusst vermieden, die Bibel zu befragen – klare Antworten waren da eher Mangelware. 

Wenn Gott ihn also verlassen wollte, sollte Er doch; dann war er eben allein auf dieser leergefegten Welt. War doch egal. So konnte er wenigstens selbst entscheiden, was er tun wollte. Was er tun musste. Die einzigen Entscheidungen, die er bisher getroffen hatte, hatten dazu geführt, dass er nicht mehr entscheiden musste. Sein Leben lang hatte er sein Leben aus den Händen gegeben und gehofft, dass irgendwer, ER, der sich irgendwo mit scheinbar Wichtigerem beschäftigte, etwas damit anfangen und ihn leiten möge. War wohl nach hinten losgegangen. Vielleicht war das ja Gottes verquerer Plan, ein himmlischer Versuch, ihn mündig zu machen. Vielleicht war Ihm letztendlich nach tausenden geduldigen Jahren die göttliche Hutschnur geplatzt. Man wusste ja nie bei Ihm. Natürlich würde das heißen, dass Er doch noch anwesend war, zumindest in irgendeiner Restform; dass Er sich irgendetwas bei all dem Sterben gedacht hatte. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Er die Menschen komplett ausrottete. Allerdings hatte er keine Lust darauf, wie Noah auf seiner Arche hier oben auf Kamp mehr als 200 Jahre zu versauern. Beinahe unsterblich zu sein, in so einem tristen Abklatsch einer Welt, käme der Definition von Hölle wiederum sehr nahe. Und was unsterblich betraf: Vielleicht war Er nicht unsterblich. Vielleicht war Er ja tot. Vielleicht hatte Nietzsche ja doch prophetisches Potenzial gehabt – das hätte die ganzen intellektuellen Klugscheißer mit Sicherheit gefreut. Gleichzeitig wäre es aber auch ein Gottesbeweis gewesen; ein toter Gott bedeutete einen existenten Gott-

Er drehte sich um sich selbst. Anstelle Klarheit zu finden, wurde er immer tiefer in einen Sog aus unbeantworteten Fragen hinabgezogen. Da war kein Sinn. Es war doch wirklich alles irrelevant. Zumindest, seitdem er wusste, was er tun würde. Er hatte Ihm die Entscheidung abgenommen.

Qui tollis peccata mundi-

Hieß das, dass er jetzt Er war? Das war das Letzte, was er wollte. Diese ewige Ungewissheit, anhänglich wie ein Straßenköter. Aber er hatte es wenigstens versucht, das war doch schon etwas. War aber ebenfalls egal, das große göttliche Belohnungssystem war kaputt, wenn es denn überhaupt jemals existiert hatte – kein goldenes Sternchen für extralanges Ausharren oder die besten Endlosfragen. Setzen, keine Note.

Alles egal. In gewisser Weise hatten die lächerlichen Party-Apokalyptiker Recht behalten: Die Zeit war gekommen. Hoffentlich gab es auch wirklich ein Ende, alle andere wäre---

-dona eis requiem sempiternam.