Wie ein Mann mit Wut im Herzen


„Viel passiert nicht. Ich stehe auf, ich laufe, ich dusche eiskalt – aus irgendeinem Grund funktioniert die Wasserversorgung noch –, ich lese, ich suche in der Nachbarschaft nach Essen, meist Konserven, kümmere mich ein wenig um den Vorgarten – ja, Papa, den Tomaten geht es gut soweit – dann komme ich euch besuchen.

Jaja, Mutter, ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Was sollen die Meyers denn denken, dass einfach so jemand in ihr Haus einsteigt, um Essen zu stehlen? Aber weißt du was? Es spielt keine Rolle mehr, was die Meyers denken, schon gar nicht, was die Meyers über uns denken, denn die Meyers, liebe Mutter, die gibt es nicht mehr. Sie sind genauso tot wie ihr. 

Verzeihung, wenn das etwas barsch klingt, aber so ist es nun einmal. Ihr seid tot. Man, dieses Wort ist wirklich verdammt hart. Liegt das daran, weil es so kurz ist? Oder weil es diese Endgültigkeit hat? Egal, welche Rolle spielt das schon.

Ich habe wieder ein wenig darüber nachgedacht, warum ich jeden Tag hierhin komme und euren Grabsteinen langweilige Geschichten erzähle. Dabei ist mir aufgefallen, dass es mir ganz schön schwer fällt, überhaupt darüber nachzudenken und das ist meistens ein Zeichen dafür, dass irgendetwas Emotionales an der ganze Sache dran ist. Ich weiß es zwar immer noch nicht genau, aber ich denke, es liegt daran, dass es ganz entspannend ist, einfach mit euch zu reden, ohne, dass ihr mich unterbrecht.

Ohne Mamas endlose Dialoge mit sich selbst, was denn der und der dann und dann und der und der dann und dann darauf geantwortet hat.

Ohne Papas Unterbrechungen, weil die Fußballergebnisse wieder einmal wichtiger sind als alles, was sonst passiert.

Ohne Lauras Getue, als wäre ihr Studium das Interessanteste auf der Welt und für den Fortbestand der Welt unabdingbar.

Falls es das war, liebes Schwesterlein, hast du versagt. Verzeihung für das harte Urteil, aber das ist eine Tatsache.

Ihr wisst, dass ich euch trotzdem liebe. Oder so etwas ähliches. Aber ich denke, sonst würde ich euch wohl kaum vermissen. Trotzdem seid ihr mir manchmal so unglaublich auf den Sack gegangen! Wirklich! 

Nie war etwas gut genug für euch, nie war etwas an mir so interessant wie das Leben anderer Leute interessant war und wenn es nur irgendwelche armseligen Gestalten im Fernsehen waren, die wieder einmal von irgendwelchen zynischen Produzenten dargestellt wurden wie absolute Vollidioten, damit die echten Vollidioten da draußen sich etwas weniger fühlen konnten wie echte Vollidioten-

Ich steigere mich da gerade in etwas hinein, merke ich, wie ein Mann mit Wut im Herzen. Mit grundloser Wut. Ich diskutiere ernsthaft mit einem Grab, und dabei bemitleide ich mich auch noch selbst. Das ist doch lächerlich.

Eigentlich könnte alles wesentlich schlimmer sein. Natürlich auch besser, keine Frage, aber es ginge auch schlimmer. Trotzdem rede ich mit einem Grab.

Ich glaube, ich verstehe langsam den Sinn von Gräbern. Früher wollte mir das einfach nicht in den Kopf, warum man Leichen vergräbt und je mehr ich gearbeitet habe, desto weniger sinnvoll wurde es. Wenn ein Körper tot ist und keine Organe hat, die noch von Nutzen sind, warum dann nicht einfach verbrennen? Das einzige, was dann bleibt, ist sterile Asche. Nimmt kaum Platz weg, lässt sich problemlos vollständig vernichten, notfalls auch beisetzen, wie es gefällt. Aber ihr habt das schon immer anders gesehen. Deswegen liegt ihr auch da. Obwohl ich kurz überlegt hatte, Mama einäschern zu lassen, rein aus Trotz. Aber vermutlich hätte das Papa noch früher umgebracht.

Gerade aber, aus irgendeinem Grund, den ich mir selbst wirklich nicht im Geringsten erklären kann, beruhigt mich der Gedanke, dass ihr da liegt, zwei, drei Meter unter mir verbuddelt. Ihr könnt nicht weg. Vielleicht hört ihr ja zu. Vielleicht wisst ihr ja, dass ich regelmäßig komme und vielleicht können wir uns so ja verstehen. Endlich einmal zuhören, reden wie normale Familien es auch tun.

Auch, wenn ich das natürlich eigentlich für Quatsch halte. Ihr seid verrottende Körper, mehr nicht, und Laura ist wieder einmal die Strebsamste der Familie und im Verfall schon weiter als der Rest. Vor allem weiter als ich.

Papa würde jetzt wieder sagen: ,Streitet euch nicht immer!‘ Dabei haben wir uns nie wirklich gestritten, vermutlich war das das Problem. Lieber schweigen. Reden über Unangenehmes ist ja so unangenehm. Aber wahrscheinlich war alles, was über zwei Sätze hinausging, schon ein Streit für Papa. Typisches Einzelkind.“

Wieder erinnerte er sich.

Sein Vater hatte seit Jahren zu hohen Blutdruck gehabt; Mark konnte sich nicht an ein Frühstück erinnern, vor dem sein Vater nicht die Tabletten mit seinen spröden Wurstfingern in seinen Mund geworfen und mit einem Schluck dampfenden Kaffees hinuntergespült hatte, indem er den Kopf in den Nacken warf wie harte Typen in Filmen das immer taten – „Aaaah!“, machte er dann und knallte die Kaffeetasse zurück auf den Tisch. 

Je älter Mark wurde, desto mehr begann er, dieses allmorgendliche Ritual zu hassen. Als Kind erschreckte ihn der Knall der Kaffeetasse. Als Teenager fand er peinlich, wie sein Vater den Kopf in den Nacken warf. Als Erwachsener trieb ihn das „Aaaah!“ in den Wahnsinn. Diese akustische Überreizung fand ihren Weg aus dem elterlichen Haus hinaus in seine erste eigene Wohnung; sie hielt sich an ihm fest wie ein panisches Kind. Seine Freundinnen mussten nun darunter leiden, denn jedesmal stöhnte er nur demonstrativ genervt auf, wenn eine der vielen jungen, immer hübschen, meist intelligenten Frauen bei irgendeiner Gelegenheit mit deutlich geäußertem Genuss einen Schluck Getränk zu sich nahmen. 

„Mein Vater hat das immer genauso gemacht“, sagte er dann nur zur Erklärung, und die jungen Frauen nickten, obwohl sie meist nicht genau verstanden, was Mark ihnen damit sagen wollte oder es ihnen einfach egal war.

Wie bei vielen Bluthochdruckpatienten war auch der Bluthochdruck seines Vaters zum größten Teil bedingt durch Stress und wurde verstärkt durch ausgiebiges Rauchen und Essen. Mark sparte sich, etwas dazu zu sagen, sondern begnügte sich damit, seinem Vater Rezepte für die Medikamente auszustellen, die er benötigte. Gerade so viel, dass er alle zwei Wochen seinen orangen Plastikzylinder, in dem er die Tabletten aufhob, nachfüllen lassen musste.

Sie alle vergaßen das, nachdem seine Schwester gestorben war. Denn zu allem Überfluss verstärkte dieser Umstand die Depressionen seiner Mutter exponentiell (oft fragte er sich, ob er wegen einer dermaßen kranken Familie vielleicht Arzt geworden war) und so hatten er und sein Vater genügend damit zu tun, sich um die bald nur noch apathische Frau zu kümmern.

Gerade vorgestern hatte er aufgehört, im Krankenhaus zu arbeiten; eingesehen, dass sein Einsatz umsonst war und er der Lage unmöglich Herr werden konnte, zumal bis auf den jungen Zivildienstleistenden mit dem Dreitagebart niemand mehr überhaupt an Arbeit zu denken schien. Also war er, wie vermutlich die meisten anderen auch, nach Hause gegangen – wobei nach Hause in diesem Fall das Haus seiner Eltern bedeutete – und hatte auch den Zivi weggeschickt. Ein lobendes Klopfen auf die Schulter, das war es dann gewesen. 

Er hatte in Betracht gezogen, nur zu seinen Eltern zu fahren, wenn es nötig war, diesen Gedanken aber verworfen, denn angesichts der immer unübersichtlicher werdenden Situation (mittlerweile war die Bundeswehr eingeschaltet worden, Deutschland war in offizieller Krise und weltweit sah es nicht anders aus) hielt er es für besser, alles so nah beieinander wie möglich zu halten.

„Wir müssen auf sie Acht geben“, sagte sein Vater eines Abends zu ihm. „Sie ist trauriger als sonst.“

„Und was soll das bedeuteten?“, frage Mark, obwohl er wusste, was das bedeuten sollte.

„Nicht, dass ich den Teufel an die Wand malen will, Sohnemann, aber ich befürchte, dass sie sich etwas antun könnte.“

Mark hatte zwar genickt, mental aber abgewinkt. Danach hatten sie wieder über Fußballergebnisse von vor vier Wochen gesprochen, über Transfers und das irrational viele Geld, das dafür über den Tisch ging, weil sie nicht wussten, worüber sie sonst hätten sprechen sollen.

Nur eine Woche später hatten sie seine Mutter, die seit dem Tod von Laura nicht mehr geredet hatte, an der Hausfassade hängen gefunden. Sie hatte sich mit um den Hals zusammengebundenen Bettlaken aus dem Fenster gestürzt. Ohne, dass er oder sein Vater es gehört hatten, hatte sie das Bein des schweren Bettes aus Eiche als Gegengewicht auf das Ende ihrer Konstruktion gestellt. Bis heute war Mark beeindruckt, wie sie das in ihrem Zustand überhaupt geschafft hatte.

Danach wirkte sein Vater anders als zuvor. Er lächelte, sprach mit seinem Sohn über alltägliche Dinge, die im Angesicht des scheinbaren Weltuntergangs immer weniger alltäglich wurden, was schon ungewöhnlich genug war, doch immer wieder konnte Mark winzige, kurze Augenblicke ausmachen, in den denen das Gesicht seines Vaters sich auf einmal veränderte, leer wurde. Zum ersten Mal seit Jahren, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, empfand er so etwas ähnliches wie Empathie für diesen barschen, lauten, cholerischen Mann, der so oft mit seiner riesigen, rissigen Faust gegen die Wand, den Tisch oder irgendetwas anderes in seiner Nähe geschlagen hatte, wenn Mark ihn durch eine kleine Äußerung unbeabsichtigt aufgebracht hatte. So etwas traf ihn immer unvorbereitet.

Er nahm sich also vor, das Beste aus der Situation zu machen. Er lebte nun im Haus seiner Eltern und ohne, dass es sich abgezeichnet hätte, waren innerhalb eines Monats seine Schwester und seine Mutter gestorben. Dass da draußen gerade irgendetwas mit der Welt passierte, was niemand erklären konnte, aber vor dem alle mittlerweile ängstlich zu erstarren schienen, war ihm dabei relativ egal. 

Kurz musste er an den Mann von dieser Endzeitsekte denken, der beinahe jeden Tag vor dem Krankenhaus mehrseitige Flyer verteilte, die merkwürdig alt aussahe, und dabei fast meditativ vor sich hinsagte, während die Menschen an ihm vorbeieilten und Augenkontakt vermieden: „Das Ende ist ein neuer Anfang.“ Hatte dieser merkwürdige Mann etwa Recht gehabt? Ach was, es war ein Glückstreffer gewesen, nicht mehr, irgendwann mussten sie ja Recht behalten, die ganzen Verwirrten. 

Er hatte andere Probleme. Vor allem seinen Vater. Aber er würde es schaffen, sagte er sich selbst, ihm dabei helfen, die Trauer zu überwinden, das letzte Drittel seines Lebens noch einmal zu genießen und auch diese kleinen Dinge sicherzustellen, die sie zum Leben brauchten: Nahrung, Wärme, die Medikamente seines Vaters. 

Etwa eine Woche später – er war gerade draußen gewesen, um in einer nahen Apotheke, die mittlerweile verlassen war –, nach Blutdrucktabletten zu suchen, die sich mit der Behandlung seines Vaters vertrugen, fand er den dicken, großen Mann mit den schütteren, grauen Haaren ohne Puls auf dem Küchenboden.