Ralf war froh darum, dass er durch Glück und und einen halbwegs fähigen Anwalt in den offenen Vollzug geraten zu sein. Aus einem echten Gefängnis herauszukommen wäre um einiges schwieriger gewesen. Aber so musste er nur die blaue Türe öffnen und war frei. Er fühlte sich genauso wie vorher. Irgendwie hatte er etwas mehr erwartet. Aber egal.
Niemand konnte ihm vorwerfen, nicht gewartet zu haben oder gegen seine Auflagen zu verstoßen. Er war in die Wäscherei gegangen, bis sein fast unerträglich feister und eingebildeter Chef eines Tages meinte: „Warum bist du hier? Wir schließen!“
Als er nachfragte, wieso und wie lang, schenkte er ihm nur einen fassungslosen Blick. „Guckst du gar kein Fernsehen?“
Anschließend hatte er etwas aufgeholt, denn er sah eigentlich wirklich nicht fern; es interessierte ihn alles nicht, die Nachrichten am wenigsten. Offenbar war die Welt in einer Art großer Krise, alle redeten vom Zusammenbruch und von katastrophalen Situationen, viele versuchten zu beschwichtigen – nichts, was nicht schon vorher da gewesen wäre.
Jedenfalls hatte er mit Sicherheit eine Woche oder mehr noch in seiner Zelle verbracht, die eher aussah wie ein Zimmer in einer Jugendherberge, und dabei zugesehen, wie die JVA immer leerer wurde. Erst kamen die Vollzugsbeamten nicht mehr zur Arbeit, dann gingen nach und nach auch die Häftlinge. Er hatte sich entschlossen, einfach zu bleiben. Keinen Schwachsinn, nicht so kurz vor seiner Entlassung. Das war wirklich das letzte, was er noch gebrauchen konnte. Sie würden schon wiederkommen. Bald.
Doch sie kamen nicht wieder. Irgendwann wurde auch ihm langweilig, zumal der Fernseher plötzlich nicht mehr funktionierte und zu allem Überfluss auch noch der Kühlschrank ausfiel. Also musste er raus. Dagegen konnte wohl wirklich keiner etwas sagen. Verhungern war nun wirklich kein Punkt im Leitfaden.
Unsere Arbeit mit Inhaftierten folgt den auch sonst im bürgerlichen Leben üblichen Umgangsformen. Wir treten den Inhaftierten unvoreingenommen und mit angemessenem Respekt entgegen. Wir sind uns unserer Vorbildfunktion bewusst. Wir motivieren die Inhaftierten zur Mitarbeit und gewähren ihnen alle Chancen und Möglichkeiten, die zur Erreichung des Vollzugszieles zulässig und erforderlich sind.
Er hatte nachgelesen. Das stand definitiv nicht darin.
Von den Inhaftierten erwarten wir Selbstverantwortung und Eigenständigkeit. Grenzen werden gesetzt, wo individuelle Behandlungsmaßnahmen missbraucht oder festgelegte Rahmenbedingungen überschritten werden. Auf Grenzverletzungen reagieren wir individuell, solange nicht eindeutig definierte Grundlagen und Regeln verletzt werden.
Selbtverantwortung. Das war es doch, was er tat. Er hatte einige Male gebraucht, um die sperrigen Beamtenformulierungen zu verstehen. Nicht eindeutig definierte Grundlagen und Regeln. Wenn das hier gerade nicht genau das waren, wusste er auch nicht mehr weiter. Ihm würde wohl kaum jemand vorwerfen, dass er bis zuletzt die Stellung in der JVA gehalten hatte. Letztendlich entschloss er sich – ein wenig mit schlechten Gewissen –, einfach zu gehen. Selbstverantwortung.
Moers sah aus wie immer. Eigentlich war sowieso alles wie immer, er verstand den ganzen Aufruhr nicht. Er wettete mit sich selbst, dass sie alle übertrieben.
Es zog ihn in die Innenstadt, also ging er. Es dauerte eine Weile, bis er die ganzen gleichförmigen Grünflächen und dichten Bäume und alten Bergbau-Häuser hinter sich ließ und endlich zurück in die Zivilisation kam. Die Abstände zwischen den Altbauten und nicht mehr ganz so neuen Neubauten waren so unregelmäßig, dass er sich immer wieder fragte, wie die Stadt wohl ausgesehen haben mochte, bevor jeder Zentimeter zugestellt worden war.
Die schmale Fußgängerzone lag unbelebt da, durchzogen von roten Quadraten aus Steinen zwischen all den grauen Flächen. Hatten sich wohl alle in ihren Häusern verkrochen vor Angst vor der großen Krise. Er grinste.
Die vergitterten Schaufenster der Ankauf-/Verkauf-Geschäfte zogen ihn an. Er drückte seine Hände gegen das Glas, formte eine Röhre und versuchte zu erkennen, ob sich im Ladeninneren etwas regte. Nichts. Dafür allerdings mehr Fernseher, Stereoanlagen und Digitalkameras als er zählen konnte. Er fragte sich, was darin noch alles auf ihn wartete – dann, im selben Augenblick, korrigierte er sich selbst: Was darin wohl alles noch zu finden war. Er wettete, dass die Besitzer in den letzten Tagen den Umsatz ihres Lebens gemacht hatten.
Er ging weiter. Die Tür zu einem Kiosk stand offen.
„Hallo?“, fragte er in den kleinen Laden hinein und klopfte dreimal an die Türe. Noch einmal: „Hallo?“
Nichts. Also trat er ein.
Hier drin sah es so aus als wäre das Leben einfach verschwunden. Eine aufgeschlagene Zeitung lag auf dem runden Stehtisch mit den Lotto-Kugelschreibern – Herta siegt auswärts triumphal war die Überschrift, die ihm sofort ins Auge sprang –, die Aschenbecher waren zu drei Vierteln gefüllt, und die Kasse stand offen.
„Hallo?“, fragte er noch einmal. „Irgendjemand vielleicht?“
Er ging um den Kassentresen herum und griff nach einer Packung Lucky Strike, dann nach noch einer.
„Ich würde gern ein paar Zigaretten kaufen, wenn es in Ordnung ist.“
Nichts.
Er sah sich noch einmal um, dann zog er sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche. Er steckte einen Zwanziger in die Kasse und gab sich selbst großzügig Wechselgeld.
In der hinteren Ecke des Kiosks – und das überraschte ihn sehr, war das hier doch keine Pommesbude oder eine andere Art von Schnellrestaurant –, stand ein Spielautomat, direkt neben einer Tür mit Spielplänen der Bundesliga. Offensichtlich war dem Besitzer egal gewesen, dass er das nicht durfte. Vielleicht hatte er aber auch Essen angeboten, konnte doch sein. Er sah sich noch einmal um. Keine Kühlschränke, kein Bier, kein Alkohol. Ein Grenzfall also, aber definitiv keine Trinkhalle. Wohl eher eine Esshalle, dachte er und fand sich selbst für einen Augenblick sehr geistreich und lustig.
Er steckte ein Zwei Euro-Stück in den Automatenschlitz. Es fiel durch. Kein Blinken, kein melodisches Plärren. Er war sehr enttäuscht. Mit sich selbst wettete er, dass das Gerät bloß nicht angeschlossen war.
Er folgte dem Kabel, das durch ein sehr fransig gebohrtes Loch über der Fußleiste offensichtlich in den Raum hinter der Tür mit den Spielplänen führte. Er drückte die Klinke herunter, doch die Tür ließ sich nicht öffnen.
„Abgeschlossen“, nuschelte er zu sich selbst. Dann noch einmal: „Hallo?“ Er klopfte.
Als niemand antwortete, ging er einen Schritt zurück, zielte kurz und trat gegen die Stelle, wo er das Schloss vermutete. Mit einem lauten Knacken krachte sein Fuß durch die Türe, die nur aus billigem Pressspan bestand, doch das Schloss blieb intakt.
Laut fluchte er und befreite umständlich sein Bein aus dem Loch, führte dann seine Hand hindurch und tastete auf der anderen Seite nach dem Schlüssel. Es dauerte einige Sekunden, in denen er weiterhin laut fluchte, dann klickte es endlich und die Türe sprang auf.
Drinnen wurde er von Blut und Verwesung begrüßt. Drei Tote; Mann, Frau, Kind. Die Frau, deren Gesicht er nicht erkennen konnte, weil ihr Kopf auf die braunrot gefleckte – und nebenbei sehr geschmacklose – Bluse gesunken war, saß in der hinteren Ecke des Raumes auf dem Boden. Irgendetwas zeichnete sich unter ihren langen, dreckig blonden Haaren ab, das ihren Kopf sehr falsch aussehen ließ. Die Knie der Frau waren angewinkelt und ihre Füße standen fest auf dem Boden als sei sie einfach nur eingenickt.
In ihrem Schoß lag das Kind – ein Mädchen, das war sicher, dachte er; es trug ein Kleid – mit dem Bauch auf dem Boden, als habe es sich vor etwas verstecken wollen. Auf dem Rücken ruhten die Hände der Mutter. Der Hinterkopf des Kindes war nicht mehr da; und er wunderte sich, wie es vorn wohl aussehen möge, vermied es aber, näher zu kommen. An der Wand direkt neben den beiden Leichen befand sich ein riesiger Fleck im gleichen Braun wie der Fleck auf der Bluse der Mutter. Er sah weg.
Der Mann – der Kiosk-Besitzer, folgerte er – saß direkt gegenüber der Türe auf einem Stuhl an einem Schreibtisch, den Kopf so weit im Nacken, dass er ihm direkt in die haarige Nase sehen konnte, unter der sich ein Schnurrbart befand; unter seinem Kiefer ein großes Loch, das an seinem Hinterkopf mindestens doppelt so groß und fast so fransig war wie das, durch das das Kabel des Automats lief. Er konnte durch das Loch im Schädel des Mannes die graugelbe Wand mit braunen Spritzern dahinter erkennen. Auf dem Tisch ein voller Aschenbecher, ein Briefchen Streichhölzer und ein Beutel mit Tabak. Selbstdreher also. Hinter dem Mann stand ein Foto, darauf eine Frau und ein Kind, aber Ralf konnte es nicht genau erkennen und wollte auch nicht unbedingt näher treten als er unbedingt musste.
An der Decke über dem Mann klebte, wie eine schlecht gemalte Wolke, eine schwarzbraune Lache aus altem Blut; etwas kleiner als der Fleck an der Wand neben den Leichender Frau und des Kinds. Er dachte kurz darüber nach, ob es auch dann noch eine Lache war, wenn sie an der Decke klebte. Auf dem Boden neben dem Stuhl lag ein kleiner Revolver.
Mit zugehaltener Nase machte er einen vorsichtigen, langen Schritt in den Raum hinein und suchte nach dem Ende des schwarzen Spielautomaten-Kabels. Es steckte in der Steckdose. Ein wenig wütend verließ er den Raum und warf die Türe wieder zu.
Vielleicht hatten alle ja doch nicht übertrieben. Er ärgerte sich, die Wette mit sich selbst verloren zu haben.