„Ich kann es spüren!“ Magdalena, die Organistin, hielt mit großen Augen ihre Hand auf dem Bauch von Franziska, der Prophetin, der so rund und riesig war, dass man glauben konnte, er gehöre zu einem anderen Körper und sie habe ihn nur übergangsweise ausgeliehen. Die junge Frau lächelte. Die anderen, die sich um sie gesammelt hatten – etwa drei oder vier Frauen und Kinder und noch einmal die gleiche Anzahl Männer – lächelten zurück.
„Es ist stark! Es wird ein gesundes Kind!“, rief Magdalena, die Organistin aus und lachte herzlich. Einige Hände fanden ihren Weg zu Schultern und Armen der werdenden Mutter und drückten sie bekräftigend und beglückwünschend. „Gelobt seien die Götter, gesegnet sei die Prophetin!“ Die Gruppe stimmte in den Jubel ein.
Dann drängte sich eine Stimme durch den Freudenlärm: „Die Prophetin braucht jetzt Ruhe!“ Paul, der Schreiber, hob die Hände und schob sich durch die Ansammlung von Menschen, die für eine Gruppe zu groß und für eine Menge zu klein war. Erst reagierte niemand, doch als sie sahen, dass er unbeirrt neben ihr stehen blieb, tröpfelten alle langsam in die verwinkelten Gänge hinein und waren bald verschwunden. Als letztes trennte sich Magdalena, die Organistin, von der werdenden Mutter, und bedachte deren Mann mit einem scharfen Blick.
„Sie können nicht ihre Hände von dir lassen“, sagte Paul, der Schreiber, als sie allein waren.
„Sieh’s positiv: Der Plan hat funktioniert“, erwiderte Franziska, die Prophetin bloß und drückte sich ächzend aus ihrem tiefen Sessel nach oben, eine Hand zur Stütze im unteren Rücken.
Paul, der Schreiber, hatte keine Lust, über ihren Plan zu reden. Also sagte er: „Du musst bald wieder zum Arzt, sonst untersucht dich Magdalena noch selbst.“
„Was immer du willst, mein Lieber.“ Franziska, die Prophetin, hauchte einen Kuss auf die Wange ihres Mannes. Er sah, dass Magdalena, die Organistin, um eine Ecke lugte und sie beobachtete.
Die Gemeinschaft nannte den Arzt nur Doktor Gotthart. Doktor Gotthart sprach nicht. Niemand wusste, ob er es überhaupt konnte. Man ging in sein Behandlungszimmer und Doktor Gotthart fand ohne ein Wort vom Patienten oder ihm innerhalb von maximal fünf Minuten heraus, was getan werden musste. Dann gab es Medikamente und eine wortlose Verabschiedung in Form eines professionell bestimmten Händedrucks, der wohl sagen sollte: Und jetzt raus hier. Dabei sah Doktor Gotthart den Patienten direkt in die Augen, was er – mit Ausnahme der Momente, wenn er ein Problematik mit dem Auge vermutete – sonst nie tat. Sein Blick war ebenso kühl und entschlossen wie sein Händedruck.
Viele in der Gemeinschaft fürchteten sich ein wenig vor Doktor Gotthart, der kein großes Interesse am gemeinschaftlichen Leben zu haben schien und nur selten mit den anderen aß. Oft flüsterte die Gemeinschaft beim Essen darüber, wo er gerade sein möge, wenn er nicht dabei war – was, wie gesagt, sehr häufig war. All das trug nur dazu bei, dass der Arzt den Meisten sehr suspekt erschien. Aber er war nun einmal der einzige Arzt – was sollten sie also anderes tun als sich von ihm behandeln zu lassen?
Es gab eine Unzahl von Geschichten über den Arzt: Dass er gar kein Gläubiger sei, sondern sich, so still wie eh und je, einfach der Gruppe angeschlossen hatte, um vor der Welt dort draußen zu fliehen. Dass er ein ehemaliger Soldat gewesen war, der desertiert hatte, als das Elend an der Oberfläche zu groß und in der Gruppe (von wem auch immer) barmherzig aufgenommen geworden war. Gern erzählte man auch, der Doktor sei ein Mönch, der in der Alten Welt ein Schweigegelübde abgelegt hatte. In dieser Gruppe gab es wiederum zwei Fraktionen: Die eine war sich sicher, dass er einfach aus Prinzip das Schweigegelübde fortführte, obwohl es dafür keinen Zweck mehr gab; die andere war davon überzeugt, dass er sich nicht sicher war, ob er reden dürfe und deswegen lieber gar nichts sagte. Einige wiederum spekulierten sogar, er sei eine Art Roboter, der von den klugen Wissenschaftlern erdacht worden war, um ihnen auf Lebenszeit und weit darüber hinaus treu seine Dienste zu erweisen.
Warum der wortlose Mann Doktor Gotthart hieß, wusste ebenfalls niemand; der Name war Tradition geworden. Julian, der steinalte, etwas kauzige Priester mit der viel zu kleinen und dünnen Brille, erzählte immer wieder gern, dass er den Doktor einmal hatte reden hören – nämlich damals, als dieser sich ihm als „Doktor Gotthart“ vorgestellt hatte. Immer, wenn Julian, der Priester, diese Geschichte zum Besten gab, amüsierten sich alle Anwesenden großartig. Teilweise, weil sie es für absolut hanebüchen hielten, dass es sich so ereignet hatte, zumal Doktor Gotthart wesentlich jünger aussah als der Priester mit seinem schlohweißen Resthaar und den messerkantentiefen Furchen um die Augen (was wiederum die Roboter-Fraktion zum Spekulieren brachte). Teilweise, weil sie sich fragten, ob er vielleicht doch die Wahrheit erzählte und das immer wieder gern diskutierte Phänomen des Namens des wortlosen Arztes so eine simple, aber schlüssige Lösung hatte. Großteils wohl aber bloß, weil es sich um eine spannende Geschichte handelte, über die man ungestraft und leichtfertig theoretisieren und scherzen durfte, ohne jemandem damit auf die Füße zu treten. Doktor Gotthart war das ideale Smalltalk-Thema: Jeder hatte etwas dazu zu sagen, jeder vertrat eine Meinung, doch niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, sich ernsthaft darüber zu streiten, denn dafür war es eigentlich viel zu unwichtig.
Franziska, die Prophetin, hatte nie ein Problem mit Doktor Gotthart gehabt. Sie fand es sogar sehr angenehm, sich einfach untersuchen zu lassen, ohne sich mit langweiligen Gesprächen über irrelevante Themen von einem unangenehmen Moment zum nächsten hangeln zu müssen. Für sie war Doktor Gotthart reine Professionalität und das mochte sie.
Als sie in das Behandlungszimmer traten, erfüllt mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln und vollgestopft mit glänzenden Instrumenten und kleinen Monitoren, fanden sie es wie üblich leer vor. Doktor Gotthart hielt sich immer in einem Nebenraum auf, wenn Patienten kamen. Immer. Niemand war je in diesem Nebenraum gewesen (die Roboter-Fraktion spekulierte, dass dort die Ladestation für den stillen Arzt stand) und wie er merkte, dass jemand in sein kleines Reich trat, war ein ebenso großes Mysterium.
Franziska, die Prophetin, und Paul, der Schreiber, hatten schon auf dem Weg hierhin aufgehört, sich zu unterhalten; es war, als würde Doktor Gottharts Stille in die Gänge rund um seine Praxis ausstrahlen. Sie nahm Platz auf der merkwürdigen Mischung aus Gynäkologen- und Zahnarztstuhl (Doktor Gotthart kümmerte sich ohne Ausnahme um alle gesundheitlichen Belange der Gemeinschaft) und zog ihr Shirt über ihren prallen Schwangerschaftsbauch, während Paul, der Schreiber, sich auf einen viel zu niedrigen Dreh-Hocker kauerte, der in der Ecke stand. Sie warteten keine Minute unter der leisen Lüftung, die sich so selbstverständlich in die Geräuschkulisse des Bunkers eingefügt hatte, dass niemand sie mehr wahrnahm außer in so ruhigen Momenten wie gerade, dann trat Doktor Gotthart ein.
Nicht einmal ein Nicken zur Begrüßung, doch Franziska, die Prophetin, bildete sich ein, die hauchzarte Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht gesehen zu haben. Ohne Umschweife begann Doktor Gotthart, transparent schimmerndes Gel auf ihren Bauch aufzutragen, sofort fröstelte Franziska, die Prophetin, ein wenig und leichte Gänsehaut überzog ihre Arme. Beinahe entschuldigend legte Doktor Gotthart eine Hand auf ihren Arm – sie war angenehm warm und weich –, dann begann er mit dem Ultraschall. Paul, der Schreiber, saß wie ein Schulkind in der Ecke und beobachtete mit krauser Stirn.
Der Arzt benötigte keine fünf Minuten, dann nickte er Franziska, der Prophetin, zu, ohne sie anzusehen, wischte ihr das Gel vom Bauch und stand auf; seine Patientin tat es ihm nach. Auch Paul, der Schreiber, fuhr ein wenig erleichtert hoch, und wollte gerade seine Frau an der Hand nehmen und mit sanfter Gewalt aus dem Behandlungszimmer führen, an das er sich nie würde gewöhnen können, als Doktor Gotthart plötzlich, ohne einen von ihnen anzusehen, sagte: „Ich würde gern mit Ihrer Frau unter vier Augen sprechen.“
Das Ehepaar tauschte einen irritierten Blick aus. Franziska, die Prophetin, zuckte mit den Schultern und bedeutete ihrem Mann, den Raum zu verlassen. Er war zwar froh, gehen zu dürfen, aber fragte sich gleichzeitig, warum der verschwiegene Arzt plötzlich redete, warum er mit ihr allein reden wollte, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, ob es Komplikationen mit dem Kind gab, die, falls sie existieren sollten, was er wirklich nicht hoffte, doch wohl auch ihn als Vater betrafen, weswegen er eigentlich-
Als hätte er den Gedankenstrom des werdenden Vaters gehört, fügte Doktor Gotthart bloß hinzu: „Nur ein paar Routinefragen, keine Sorge, mit dem Kind ist alles in Ordnung.“
Paul, der Schreiber, sah seine Frau noch einmal an, dann verließ er die Praxis und schloss die Tür hinter sich. Franziska, die Prophetin, konnte hören, wie er langsam den Gang hinabschritt und war sich sicher, dass in seinen Schritten trotz allem etwas Nachdenkliches widerhallte. Nach und nach wurde es stiller.
Als habe der Arzt darauf gewartet, drehte er sich um, setzte sich direkt vor Franziska, die Prophetin, und sah sie an. Ihr fiel dabei auf, dass er wesentlich älter aussah als auf den ersten Blick deutlich wurde; auf seiner Stirn und um seine hellbraunen, hundeartigen Augen herum konnte sie überall kleine Fältchen erkennen, die sonst wohl vom hellen Licht hier verschluckt wurden. Es waren die Falten von jemandem, der in seinem Leben viel mit sich selbst ausmachen musste; Falten, die von einer tiefen Intelligenz zeugten und den so distanzierten Mediziner plötzlich um einiges menschlicher machten. So empfand sie zumindest.
„Sie bekommen das erste Kind, das hier unten geboren wird“, begann der Arzt. Franziska, der Prophetin, fiel auf, wie merkwürdig es war, dass er sie siezte, obwohl das „Du“ zwischen allen Mitgliedern der Gemeinschaft gebräuchlich war. Auch seine Stimme klang plötzlich anders, nicht mehr so klar und fest wie sein Händedruck, sondern ein ebenso warm und weich wie seine Handfläche, die er Franziska, der Prophetin, gerade auf den Arm gelegt hatte. „Eine große Sache.“
Franziska, die Prophetin, nickte zur Antwort nur. Sie war immer noch ein wenig irritiert und gleichzeitig tief fasziniert davon, dass Doktor Gotthart jetzt schon mehr gesagt hatte als jemals jemand aus der Gemeinschaft erzählt hatte.
„Mit dem Kind ist tatsächlich alles in Ordnung. Gesund, kräftiger Herzschlag, gute Wachstum, keine Anomalien, ein Mädchen, falls sie das wissen wollen.“ Er kratzte sich kurz am Kopf, schloss dabei die Augen, und noch bevor Franziska antworten konnte, fügte er hinzu, als müsse er sich selbst versichern: „Eine große Sache.“ Er sprach erstaunlich schnell, dabei aber absolut deutlich, verschluckte keine einzige Silbe.
„Eine sehr große Sache sogar, für Sie natürlich sowieso, aber vor allem für die Gemeinschaft, sie werden das wichtiger finden als Sie es überhaupt finden können, und damit will ich Sie jetzt nicht beleidigen, aber dieses Kind wird eine symbolische Bedeutung erhalten, ob Sie wollen oder nicht.“
Er räusperte sich schnell, und wieder, bevor Franziska, die Prophetin, überhaupt etwas sagen konnte, fuhr er fort: „Es wird ein extrem umfassendes Symbol werden, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll: Das erste Zeichen der Neuen Welt, ein neues Leben zwischen all den öden Existenzen, zusätzlich größer macht den gesamten Komplex noch die Ihre neue Position hier, die bereits einschneidend und relevant genug wäre für sich allein genommen, für Sie und Ihren Mann sowieso, aber“ – sein Blick erhielt plötzlich großen Nachdruck wie auch seine Stimme – „Sie müssen aufpassen.“
Er ließ ein wenig Zeit verstreichen, um seinem letzten Satz Raum zu geben. Die rothaarige Frau sah nun ein wenig irritiert aus. Also sagte er: „Wenn die Gemeinschaft irgendetwas findet, was an Ihrer Geschichte nicht stimmt, nur das kleinste Detail, wird alles um Sie herum einbrechen wie ein Baugerüst, an dem ein nachlässiger Arbeiter Schrauben vergessen hat. Seien Sie sich bewusst, dass ihr Handeln hier unten weitreichende Konsequenzen hat.“
Franziska, die Prophetin, wusste nicht so Recht, was sie sagen sollte, also stammelte sie: „Danke- Vielen Dank- Doktor Gott-“
Er unterbrach sie: „Tim. Nennen Sie mich Tim.“
Dann stand er auf, ging zur Tür, öffnete sie und forderte Franziska, die Prophetin, mit einer Geste sanft dazu auf, aufzustehen. Offensichtlich war die Behandlung vorbei und er hatte gesagt, was er hatte sagen wollen. Ein wenig verwirrt erhob sie sich und ging in Richtung Ausgang. Ihre Höflichkeit gebot ihr, den Arzt zum Abschied anzulächeln. Dieser verzog keine Miene, sondern sah sie nur immer noch konzentriert an. Als sie gerade an ihm vorbeigehen wollte, griff er mit seinen warmen Händen wieder nach ihrem Arm, sie blieb stehen.
„Passen Sie auf sich auf.“
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„Höher, höher!“ Magdalena, die Organistin, wedelte mit ihren faltigen, bräunlichen Händen als würde die reine Bewegung den Banner in Richtung Decke heben, auf dem Frohes Verlustfest stand.
Das Verlustfest war nichts anderes als die Alternative der Gemeinschaft zu Weihnachten und sollte kompakt den Verzicht und die Opfer symbolisieren, die die Gemeinschaft bis zur Neuen Welt auf sich nahm. Es gab ein wenig Essen, Geschichten aus den Büchern der Propheten und Geschenke für die Kinder, mit denen sie einen Abend lang spielen durften, bis sie ihnen wieder weggenommen und schließlich nach drei Tagen wiedergegeben wurden. So sollten bereits die Kleinen lernen, dass nichts von absoluter Dauer sei, so erfreulich es auch sein möge, außer natürlich dem Willen der Götter, die gnädig geben und nehmen, wie es Ihnen beliebt. Ein hübscher Nebeneffekt dieser Lehre war, dass sie schon den Kindern zeigte, dass es keinen Zweck hatte, sich zu sehr an materielle Güter zu binden – materielle Güter, die die meisten von ihnen beim Umzug in das verborgene Dorf an der Oberfläche hatten zurücklassen müssen und an die zwar jeder dachte, aber über die sich niemand zu reden traute. „Und so beliebig, wie uns das auch erscheinen mag: Alles hat einen Zweck, meine Lieben.“ Das sagte der Prediger Jonas immer wieder mit einer weichen Märchenonkelstimme am Ende seiner Geschichten aus den Propheten, sodass die Kinder beinahe ihren Trotz über die in ihren Augen absolut sinnlose Lektion vergessen konnten.
Die Erwachsenen – und dabei handelte es sich eher um einen symbolischen als einen eigentlichen Akt – hatten bereits etwas, an denen ihnen etwas lag, den Predigern gegeben. Zwischengelagert wurden die unzählige Ketten, Broschen, Kleidungsstücke, Bücher und andere persönliche Relikte im sowieso schon vollgestopfte Räumchen von Paul, dem Schreiber, der natürlich nicht anders konnte als gutmütig zu lächeln und zu akzeptieren, dass er sich nun drei Tage lang nur auf Zehenspitzen durch sein eigenes Arbeitszimmer bewegen konnte.
„Genau so ist es richtig!“, rief Magdalena, die Organistin, schließlich aus und wedelte ihre Altfrauenhände in die entgegengesetzte Richtung. „So ist es perfekt!“ Sie lächelte und ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes am Weihnachtsabend – oder eben am ersten Tag des Verlustfestes.
Auch Franziska, die Prophetin, und Paul, der Schreiber, waren bei den Vorbereitungen in der Halle anwesend, allerdings eher aus Langeweile und im Fall von Paul, dem Schreiber, aufgrund der Tatsache, dass er zwischen dem gesammelten Kleinkram der Gemeinschaft nicht arbeiten konnte. Seine Frau mochte, im Gegensatz zu ihm, diese Tage sehr, da er nun gezwungen war, ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Es war nicht unbedingt so, als würde sie sich spezifisch über diese Tatsache freuen; es war eher, dass sie es als erfrischende Abwechslung empfand, für kurze Zeit jemanden bei sich zu haben, der ihre Langeweile teilte.
Die alte Organistin stakste im Kreis und schüttelte dabei die Arme über ihrem Kopf; sie sah aus wie ein Vogel, der gegen eine Glasscheibe geflogen war und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Das wird ein Fest! Das schönste Fest bisher! Wir preisen die Weisheit der Götter, während unsere große Prophetin das Erste Kind der Neuen Welt austrägt. Gepriesen seien die Götter!“
Franziska, die Prophetin, musste ein Lachen verschlucken, als sie sah, dass Tobias, der Koch, seiner Frau Anita, die ebenfalls Köchin war, einen vieldeutigen Blick zuwarf, den sie als genervt interpretierte. Als Tobias, der Koch, sah, dass er dabei beobachtet worden war, beugte er sich wie ein unterwürfiger Hund in Richtung der Prophetin und sagte: „Verzeihung, Prophetin, das galt nicht dir. Es ist nur, dass Magdalena, die Organistin, einfach nicht aufhören will, darüber zu reden.“ Er deutete auf den Schwangerschaftsbauch.
Franziska, die Prophetin, lachte bloß und fasste seinen Oberarm: „Keine Sorge, Tobias, ich weiß.“ Tobias, der Koch, erstarrte. Er wartete darauf, dass sie seine Funktion in der Gemeinschaft an seinen Namen anfügte, doch Franziska, die Prophetin, tat nichts dergleichen.
Auch Anita, die Köchin, und Paul, der Schreiber, hatten sich auf einmal versteift. Noch während Tobias, der Koch, die Prophetin anstarrte – unentschlossen, ob er sich geschmeichelt fühlen oder wütend sein sollte –, zog seine Frau ihn mit sanfter Bestimmung weg von der Rothaarigen, die entschuldigend sagte: „Verzeihung, Tobias, ich wollte nicht-“
Dann spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter senkte. Paul, der Prophet, zog sie zu sich und schüttelte mit dem Kopf.
„Du musst lernen, dich deiner Position gemäß zu verhalten. Die Leute verzeihen dir solche Ausrutscher nicht mehr und ganz ehrlich: Du darfst dir so etwas auch nicht mehr erlauben. Sie blicken auf zu dir.“
Wütend wischte Franziska, die Prophetin, die Hand ihres Mannes von sich. „So ein Schwachsinn! Wieso kann ich nicht genauso einer von allen und trotzdem Prophetin sein?“
„Wenn du einer von allen sein willst, dann verhalte dich auch wie einer von allen! Du weißt ganz genau, dass wir immer Namen und Funktion aussprechen.“
Sie runzelte nur die Stirn. „Warum auch immer.“
„Es ist höflich. Sieh es als siezen. Das gibt es hier nicht, dafür machen wir das. Wenn du jemanden mit Namen adressierst, tu ihm und dir selbst den Gefallen und füge seinen Zweck in der Gemeinschaft an. Das gehört sich so.“
„Tut es das?“ Franziska, die Prophetin, wurde trotzig. Die Schärfe in ihrer Stimme hatte die Aufmerksamkeit von Magdalena, der Organistin, und den beiden Jungen erregt, die sie dirigierte.
Paul, der Prophet, seufzte resignierend. „Ja, das tut es, und das weißt du auch! Du weigerst dich nur, das auch umzusetzen, weil du denkst, dass du über den Bräuchen stehst. Aber das ist nicht der Fall. Es ist egal, wie du das siehst: Für alle anderen ist es beleidigend und merkwürdig, wenn du sie ansprichst, als hättest du eine intime Beziehung zu ihnen, Franziska!“ Er pausierte. Dann, in einem Moment, den er eigentlich verstreichen lassen wollte, ließ er sich dazu hinreißen, hinzuzufügen: „Bloß, weil es für dich neu ist, dass du den Leuten nicht mehr bloß egal bist-“ Er presste die Zähne aufeinander als müsse er den Satz gewaltsam in seinem Mund aufhalten.
„Was war das bitte?“ Franziska, die Prophetin, trat einen Schritt zurück, stemmte eine Faust in ihre von der Schwangerschaft verschluckte Taille und starrte ihren Mann aus zu Schlitzen verengten Augen an. „Was?“
Gerade, als Paul, der Schreiber, zu einer entschuldigenden Erklärung ansetzen wollte, eilte Magdalena, die Organistin, zwischen die beiden, legte ihnen beiden jeweils einen Arm um die Schultern und sagte: „Irgendjemand sollte auf die Besitztümer der Gemeinschaft aufpassen. Es wäre doch wirklich schade, wenn etwas verschwinden würde.“ Dabei blickte sie erst Paul, dem Schreiber, dann Franziska, der Prophetin, strafend in die Augen. Dann nuschelte sie: „Nicht hier, nicht heute.“ Damit schob sie das Ehepaar in einen der vielen grünen Gänge, die allesamt gleich aussahen, und verschwand, um wieder die Feiertagsvorbereitungen zu administrieren.
Da standen sie sich nun gegenüber, wortlos und gespannt, als müssten sie sich duellieren.
„Du hast sie doch nicht alle!“, schoss aus Franziska, der Prophetin, heraus, die sich gleichzeitig ärgerte, dass sie ihren Unmut weder im Saal noch hier hatte zurückhalten können. „Ich bin doch nicht deine kleine, hörige Schülerin, die jedes Wort von deinen Lippen fängt!“ Sie fuhr herum, ging drei Schritte von ihrem Ehemann weg, drehte sich um und kam vier auf ihn zu. Sie hob ihren Finger und hob ihn so nah vor sein Gesicht, dass er sich bemühen musste, nicht zurückzuweichen.
Sie zischte: „Behandle mich nie wieder so – schon gar nicht, wenn noch Leute um uns herum sind!“
Paul, der Prophet, wollte nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen wie gerade, und spielte alle Antworten durch, die auf seiner Zunge lauerten, und wägte die Konsequenzen dieser Antworten ab, bis er sich schließlich für die seiner Meinung nach harmloseste entschied: „Entschuldigung.“
Ein wenig perplex wich Franziska, die Prophetin zurück, wie ein Boxer, dessen Schlag nicht getroffen hat. „Es tut dir leid? Das ist also das einzige, was du dazu beitragen willst. Interessant.“ Sie war immer noch angespannt, suchte nach Angriffsfläche, nach verbaler und emotionaler Vergeltung. „Ich kann nichts dafür, dass du dich auf einmal so irrelevant fühlst – wo du jetzt doch eigentlich nichts weiter als mein Sekretär bist.“
Dieser Satz schlug eine Schneise zwischen die Beiden, jeder wich einen Schritt zurück. Paul, der Prophet, wollte sich nicht anmerken lassen, dass er hart getroffen worden war, während Franziska, die Prophetin, ihn nicht merken lassen wollte, dass es nicht ihre Absicht gewesen war, ihn so hart zu treffen. Sie schwiegen eine Weile.
Schließlich schluckte sie und sagte in einem verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln: „Tim hat gesagt, dem Kind geht es gut.“
„Wer?“
„Doktor Gotthart.“
„Du tust es schon wieder.“
„War nicht meine Absicht.“
„Ich weiß. Macht es aber nicht unbedingt besser.“
Kurzes Schweigen, dann Paul, der Prophet: „Freut mich aber, das ist gut.“
Wieder kurzes Schweigen, dann Franziska, die Prophetin: „Soll nicht böse klingen, aber du wirkst immer noch etwas unbeteiligt, was das Kind betrifft. Lange brauche ich nicht mehr. Mehr als ein paar kurze Worte hast du bisher nicht dazu gesagt.“
Paul, der Prophet, überlegte kurz, dann sagte er: „Das tut mir leid. Natürlich freue ich mich auf das Kind. Eine große Sache für die Gemeinschaft. Für dich. Für uns beide. Es ist nur-“ Er unterbrach sich selbst.
„Es ist nur was?“, forschte Franziska, die Prophetin vorsichtig lauernd nach.
„Es ist nur: Bist du dir sicher, dass es meins ist?“
Fassungslos starrte Franziska, die Prophetin, ihn an. Dann drehte sie sich um und ging.
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„Wir wieder einmal, hm?“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Kurt, der Lehrer, in einem der tiefen Ledersessel zurück. Sie saßen im Arbeitszimmer von Paul, dem Schreiber, und der leicht süßliche, schwere Geruch, der von Magdalena, der Organistin ausging, überdeckte sogar den Duft der vergilbten Büchern.
Paul, der Schreiber, saß auf seinem Stuhl hinter seinem großen Tisch, auf dem Franziska, die Prophetin, in einem sehr ungelenken Schneidersitz Platz genommen hatte und die drei Vertreter der Gemeinschaft betrachtete, die in der Leseecke auf alten Lederpolstern zwischen unzähligen, großen Einbänden von alten Büchern ein wenig verloren wirkten.
„Sieht so aus“, antwortete Franziska, die Prophetin, mit einem etwas gereizten Tonfall. „Was ist denn?“
Kurt, der Lehrer, verschränkte in einem Versuch, Lässigkeit auszustrahlen, die Arme hinter dem Kopf und rutschte unabsichtlich tiefer in den rissigen Sessel. Etwas ungelenk verhinderte er, den Halt auf dem Polster vollkommen zu verlieren. „Nichts, nichts, wir wollten nur hören, wie es euch so geht.“
Paul, der Schreiber, war angespannt ruhig, während seine mittlerweile hochschwangere Frau bloß mit den Schultern zuckte und sagte: „Gut, wie soll es uns schon gehen? Und dafür müsst ihr alle zu einem verabredeten Zeitpunkt an einem verabredetem Tag hier runter kommen, so ganz ungezwungen und unoffiziell?“
Magdalena, die Organistin, die in der Mitte Platz genommen hatte, reagierte auf nichts, was gesagt wurde, sondern starrte nur selig auf den riesigen Bauch von Franziska, der Prophetin, während Isabell, die Bibliothekarin, still wie üblich dasaß, Kurt, den Lehrer ansah und darauf wartete, dass irgendetwas oder irgendjemand ihren Einsatz verlangte.
Kurt, der Lehrer, setzte sich wieder auf und lehnte sich mit veränderter Mimik nach vorn. „Von mir aus, dann eben keine Höflichkeit.“ Paul, der Schreiber, rutschte nun in seinem Stuhl herum, wie es Kurt, der Lehrer, gerade getan hatte; Isabell, die Bibliothekarin, wandte sich mit überstarker Aufmerksamkeit dem Lehrer zu und Magdalena, die Organistin, konnte ihre Augen nicht von der werdenden Mutter lassen. „Dass du ein Kind bekommst, Franziska – ein Mädchen, nicht wahr? –, ist eine glückliche Fügung in der momentanen Situation. Ein Segen, sozusagen.“
Ein wenig triumphierend blickte Franziska, die Prophetin, auf ihren Ehemann: „Er hat noch vor kurzem gesagt, es sei unhöflich, jemanden ausschließlich mit Namen anzusprechen.“ Und in Richtung Kurt, dem Lehrer, sagte sie: „Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde.“
Kurt, der Lehrer, schüttelte verächtlich mit dem Kopf: „Wie gesagt: Keine Höflichkeiten. Wir sind unter uns – lassen wir das mit diesen unnötig langen Anreden und dem ganzen Firlefanz. Klartext bitte.“
Der Stuhl von Paul, dem Schreiber, schien immer unbequemer zu werden, während seine Frau sich auf einmal wohler zu fühlen schien. „Gern“, sagte sie nur knapp. „Dann raus damit.“
Kurz, der Lehrer, holte tief Luft. „Ein praktischer Umstand, dein Umstand, wie gesagt. Das gibt uns die Chance, die Mitglieder neu zu motivieren – den Glauben zu stärken, sozusagen. Aber dafür müssen wir alle an einem Strang ziehen.“
„Ich weiß nicht so ganz, worauf du hinauswillst“, sagte Paul, der Prophet, mit gerunzelter Stirn. „Worauf ihr hinauswollt.“
„Ach, jetzt tut doch nicht so!“ Kurt, der Lehrer, wurde mit einem Mal laut und relativ ungehalten. „Jetzt, da Daniel nicht mehr- dabei ist, ist es an uns, der Gemeinschaft eine Richtung zu geben. Irgendjemand muss das tun!“
Alle Blicke im Raum richteten sich nun auf Magdalena, die Organistin. Als sie merkte, dass sie von allen Seiten angestarrt wurde, löste sie ihren Blick vom Bauch der Prophetin und sagte in Richtung des jungen Ehepaars: „Was guckt ihr mich jetzt so an? Geschockt, dass die alte Frau nicht widerspricht oder aus allen Wolken fällt? Bei allem Vertrauen in die Götter: Fast alle Menschen brauchen Führer. Sie sind zu faul zum denken. Also muss jemand, der denkt, führen. Und das sind in dem Fall wir. So einfach ist das.“
Kurt, der Lehrer, lächelte, und Isabell, die Bibliothekarin, nickte enthusiastisch. „Also“, sagte er, „dann ans Werk.“
Mit für sie sehr ungewöhnlicher Klarheit ergriff nur Magdalena, die Organistin, das Wort. „Es verhält sich meiner Meinung nach wie folgt: Ihr beide“ – sie deutete mit einer sehr monarchisch wirkenden Geste auf Franziska, die Prophetin, und Paul, den Schreiber – „seid jetzt genauso tief drin wie wir.“ Ihre welken Hände fanden ihren Weg zu den Oberschenkeln ihrer beiden Sitznachbarn. „Euer niedliches Spielchen haben wir mitgespielt, jetzt seid ihr am Zug.“
Franziska, die Prophetin, war die Farbe aus ihrem sowieso so blassen Gesicht gewichen, während Paul, der Prophet, auf einmal aufgehört hatte, auf seinem Sessel herumzurutschen. Die Beiden harrten steif aus wie Mäuse in niedrig gewachsenem Gras, über denen Falken kreisen.
„Wie Kurt schon gesagt hat“, fuhr die alte Frau ruhig fort, „ist es in der Tat sehr praktisch, dass du bald ein Kind zur Welt bringst. Ein gesundes Mädchen, hat Doktor Gotthart gesagt?“ Keiner reagierte. „Schön. Solang es gesund ist, ist es gut. Wichtig ist, dass es ein Kind gibt. Aber ich denke, das schaffst du schon.“ Ihre Mundwinkeln verzogen sich zu einem merkwürdigen Lächeln. „Nun ist es so: Du bist in deiner neuen Position noch etwas unbeholfen, als hätte man dich auf Stelzen gestellt, aber damit können wir arbeiten. Wir machen dich einfach ein wenig weltfremd und unantastbar – das war bei Paul ja auch der ursprüngliche Plan. So, und nur so, können wir überhaupt erklären, dass du wieder hierhin zurückdurftest, nachdem du oben warst. Ich hoffe, du weißt, was für eine Arbeit das gekostet hat. Weißt du es?“
Franziska, die Prophetin, nickte, weil sie das Gefühl hatte, nicken zu müssen.
„Gut.“ Die Alte schloss kurz die Augen, als müsse sie sich konzentrieren. Dann öffnete sie sie wieder und fuhr fort. „Das erinnert mich übrigens daran, dass es wieder einmal Zeit wird, dass wir einen Text von euch sehen. Ich werde langsam ungeduldig, und wenn ich ungeduldig werde, dauert es nicht mehr lang, bis der Rest auch ungeduldig wird.“
Isabell, die Bibliothekarin, nickte.
„Aber zurück zum Wesentlichen. Das Kind macht alles natürlich um einiges einfacher: Du bist der Anfang der Neuen Welt. Die Götter sind gnädig. Zu dir und zu uns. Was ein großes Glück ist, darüber sind wir uns wohl einig. Was jedoch von absoluter Wichtigkeit ist, damit dieses Kind für den Rest der Gemeinschaft ein ebenso großes Glück bedeutet, ist Folgendes: Es muss euer Kind sein. Euer Kind. Verstehen wir uns?“
Wieder nickte Franziska, die Prophetin, mechanisch; Paul, der Schreiber, hatte sich bisher noch nicht aus seiner Starre lösen können.
„Mir – uns – ist egal, wie viel Mühe es dich kosten wird, dieses Kind zur Welt zu bringen“ – sie deutete auf Franziska, die Prophetin – „und wie schwer es dir vielleicht fallen wird, es zu akzeptieren, wie viel Arbeit es ist, wie müde du nach unzähligen, schlaflosen, Nächten sein wirst, in denen du dir nur wünschen wirst, dass deine Frau niemals zurückgekehrt ist,“ – sie blickte Paul, den Schreiber, an – „was zählt ist, dass das Kind hier empfangen wurde und dass es hier zur Welt kommt. Verstehen wir uns?“
Dieses Mal nickten beide.
„Gut.“ Magdalena, die Organistin, stand auf, ihre Stimme war mit einem Mal wieder glockenhell geworden. „Dann ist ja alles geklärt, sehr schön.“ Sie ging zur Türe und öffnete sie; Kurt, der Lehrer, und die schweigende Bibliothekarin Isabell folgten ihr.
„Falls ihr noch Fragen haben solltet, kommt jederzeit zu uns“, flötete die Alte eher in den Gang hinaus als dem Ehepaar entgegen. „Wir müssen uns jetzt weiter um die Vorbereitungen zum Fest kümmern. Ihr seid ruhig weiter so fleißig wie üblich – die drei Tage feiern habt ihr euch mehr als verdient. Und du, weise Prophetin, gib Acht auf dich. Gepriesen seien die Götter!“
Dann zog sie die Türe hinter sich zu. Zurück blieb das Ehepaar, das sich nicht bewegte, bis die Schritte in den Gängen schon längst verhallt waren.
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„Nicht mehr lang, es sieht sehr gut aus, alles im Rahmen, die Werte sind gut, der Muttermund ist weit genug geöffnet, ich weiß, dass es mit Sicherheit nicht einfach ist, aber geben Sie einfach Ihr Bestes.“
„Bitte-“, ächzte Franziska, die Prophetin, und wischte sich Schweißperlen aus den Augenbrauen. „Bitte reden Sie ein bisschen- weniger, Tim! Bitte!“
„Ich entschuldige mich, wirklich, das letzte was ich will, ist, Sie zu stressen, das brauchen sie gerade nicht, ich wollte Sie nur wissen lassen, dass alles in Ordnung ist, es ist nun einmal nicht gewöhnlich, ein Kind zur Welt zu bringen, hier unten, für mich schon gar nicht, das ist eigentlich nicht unbedingt das Gebiet meiner Expertise, ich bin-“
„Bitte!“
Angestrengtes Schweigen breitete sich wieder im Raum aus; nur schweres, konzentriert ruhiges Atmen war manchmal zu hören. Die Maschinen rund um den Behandlungsstuhl, auf dem Franziska, die Prophetin, mehr hockte als saß, blinkten in regelmäßigen Abständen mit ihren grünen Dioden. Es roch nach Schweiß, nach Blut und anderen Körperflüssigkeiten und im Gegensatz zu Doktor Gotthart, dem das alles kaum etwas machte – ganz im Gegenteil, er fühlte sich zuhause in der Vielzahl dieser Eindrücke und war geschäftiger als sonst –, versteckte Paul, der Schreiber, in unbeobachteten Momenten immer wieder seine Nase in seiner Handfläche, was er versuchte zu tarnen, indem er sich an der Stirn kratzte.
Vor der Tür von Doktor Gottharts Praxis wartete der Großteil der Gemeinschaft. Immer wieder versuchten Neugierige, einen Blick durch das kleine, mit Gitterdraht durchzogene Milchglasfenster zu erhaschen, vor dem sich Magdalena, die Organistin, aufgebaut hatte, um den Ansturm von Menschen zu regulieren. Immer wieder, etwa jede halbe Stunde, öffnete sie die Türe einen Spalt und fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Und dann, ohne eine Antwort abzuwarten, rief sie freudig: „Gut! Sehr gut! Gepriesen seien die Götter!“ Dann zog sie die Türe wieder mit einem Ruck zu, dass ein leichter Wind durch den Raum ging.
Anfangs hatte Franziska, die Prophetin, nichts lieber getan als der alten Organistin bei jeder Frage den Schädel einzuschlagen, aber mittlerweile kam ihr die Regelmäßigkeit ihrer Nachfragen und die Kühlung durch den leichten Wind relativ gelegen. Also sagte sie nichts.
Paul, der Schreiber, stand auf, und ging zu seiner Frau, um ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm zu legen. „Du machst das gut.“
„Kannst du das beurteilen?“, schoss Franziska, die Prophetin, heraus.
„Nein, nicht wirklich, ich-“ Er kratzte sich am Kopf. „Es wird ein gesundes Kind. Unser Kind.“
„Bleibt uns wohl kaum-“ Ihr Satz wurde von einem lauten Stöhnen unterbrochen, das so tief aus ihr zu kommen schien, dass sie sich vor sich selbst gruselte. „Bleibt uns wohl kaum was anderes übrig, nicht wahr?“
„Es spielt keine Rolle, es ist-“
„Bitte!“, rief Franziska, die Prophetin, wieder.
Doktor Gotthart führte den etwas verwirrt aussehenden Schreiber Paul zurück zu seinem ursprünglichen Platz. „Setzen Sie sich einfach, hier, nehmen Sie ein Glas Wasser, alles wird gut, wir haben es fast geschafft.“
Er ging zum Behandlungsstuhl und verschwand mit seinem Kopf unter dem weißen Laken, dass er über den Beinen der Prophetin gespannt hatte. „Ich kann den Kopf schon sehen, ihr Mann hat da schon Recht gehabt, sie machen das gut, das ist der Endspurt, Sie schaffen das.“
„Schön. Wenigstens seid ihr gerade zufrieden“, presste Franziska, die Prophetin, durch ihre Zähne hindurch.
Doktor Gotthart tauchte wieder auf und rollte auf seinem kreisrunden Hocker zum Kopfende des Behandlungsstuhls. Zwei, drei Sekunden vergingen, in denen er mit den Händen rang, als müsste er mit ihnen noch die Worte formen, die er sagen wollte. Dann: „Ich weiß, dass Sie es gerade nicht leicht haben. Und es wird nicht leichter. Mit all dem da draußen.“ Er sprach erstaunlich langsam und leise. „Ich will nur, dass Sie wissen: Wenn Sie reden müssen, kommen Sie zu mir.“
Franziska, die Prophetin, nickte nur; eigentlich wollte sie bloß in Ruhe gelassen werden.
„Auch bei Unterstützung zwischen ihnen beiden“ – er deutete mit einem Nicken in Richtung der Ecke, wo Paul, der Schreiber, wieder so tat, als würde er sich am Kopf kratzen – „falls sie, wie soll man sagen, Probleme bekommen sollten, was die Erziehung des Kindes betrifft.“
In diesem Moment hielt Franziska, die Prophetin, kurz inne, vergaß, dass sie gerade ein Kind zur Welt brachte und starrte den Arzt nur unbewegt an, mit an Stirn und Nacken klebenden Haaren und geröteten Wangen. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Doktor Gotthart. Wir freuen uns seit dem ersten Tag auf dieses Kind.“
Der Doktor sagte nichts, dann rollte er zurück unter das Laken und Franziska brachte ein Kind zur Welt.
Triumphierend sprang Paul, der Schreiber, von seinem Stuhl hoch, als Doktor Gotthart ihr es in ein Handtuch gewickelt in die Arme legte, riss die Tür auf und rief laut nach draußen: „Es ist ein Mädchen!“
Die Gemeinschaft jubelte und über allem Freudenlärm hörte man nur immer wieder Magdalena, die Organistin, die wieder und wieder rief: „Gepriesen seien die Götter! Die Neue Welt beginnt! Gepriesen seien die Götter!“