Es war ein Tag wie jeder andere im verborgenen Dorf, der damit begann, dass die Gemeinschaft sich zum gemeinsamen Frühstück im dämmrig grünen Saal versammelte, in der es immer nach nassem Mehl und alten Handtüchern roch. Tobias, der Koch, servierte Griesbrei, dazu gab es wieder einmal wässrigen Tee. Niemand mochte den Griesbrei von Tobias, dem Koch – aber da es an Alternativen mangelte, sagte niemand etwas. Also stellten sie sich in eine ordentliche Reihe an die Essensausgabe, löffelten sich die dreckig weiße Pampe in Schüsseln, setzten sich in kleinen Grüppchen an die langen, grünen Tische, standen mit knurrendem Magen das fünfminütige Morgengebet durch (das kollektive Nuscheln verschluckte, dass beinahe jeder – außer natürlich Magdalena, der Organistin – die Worte etwas gelangweilt durch die Zähne presste), bis letztendlich nur noch das Klirren von Löffeln im Keramikgeschirr und leises Schmatzen zu hören war.
Als der ärgste Hunger gestillt war, begannen hier und da einige Gespräche: Mathilda, die Bäckerin, erzählte der schweigenden Frisörin Emma und Martin, dem zweiten Techniker, der unerbittlich in seine Schüssel mit dampfendem Griesbrei starrte, von neuen Rezeptideen für Backwaren, die sie mit ihrem Mann erdacht hatte, der um diese Uhrzeit immer noch hinten in der Küche mit Tobias, dem Koch, arbeitete.
Einen Tisch weiter sprach Peter, der dritte Techniker, mit Kurt, einem der Lehrer, über den jungen Mann, der nun mit dem alten Mann in einer improvisierten Zelle hockte, die eigentlich ein Putzraum war. Gleich daneben widmeten sich Lisa, Tochter von Julia und Markus; Dennis, Sohn von Lisa und Johnannes; und Anna, Tochter von Kurt (dem Lehrer) und Susanne, einem leidenschaftlichen Spiel Schere, Stein, Papier.
In der Ecke des Raums saßen, wie gewohnt, Paul, der Prophet, und Franziska allein an einem provisorisch aufgestellten Plastiktisch, der Platz für vier geboten hätte. Sie sprachen nicht und aßen nur wenig. Paul, der Prophet, hätte überall sitzen können und die Menschen hätten sich über seine Anwesenheit gefreut, unter Umständen sogar geehrt gefühlt. Trotzdem zog er es vor, bei ihr zu sitzen. Einerseits, um ihr Gesellschaft zu leisten, andererseits, weil sie eben seine Ehefrau war. Er hatte sie sich zwar nicht ausgesucht, aber er hatte nun einmal ein gewisses Pflichtbewusstsein ihr gegenüber entwickelt, das ihm ziemlich ans Herz gewachsen war.
Zu ihnen zu setzen traute sich niemand. Einige gingen an ihrem Tisch vorbei, nickten ihm stumm zu und wandten dann beinahe ertappt ihre Blicke wieder auf den Boden, den Brei, der mit jeden Schritt in der Schüssel umherschwappte wie Suppe, oder diejenigen, zu denen sie sich letztendlich setzten.
Paul erwiderte freundlich alle Blicke, doch das junge Paar blieb allein. Franziska, die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Hände gestützt, saß mit hochgezogenen Schultern über ihrem Frühstück, dass man nur ihre langen roten Haare sah, hinter denen ihr Gesicht vollkommen zu verschwinden schien. Paul, dem Propheten, fiel in diesem Moment kurz auf, dass er seine Frau in manchen Momenten, trotz ihrer etwas zu großen Nase und den leicht abstehenden Ohren, die sie meist gekonnt hinter ihren Haaren versteckte, und dem vielleicht etwas zu schmalen Mund und der kleinen Lücke zwischen ihren Vorderzähnen, durchaus als schön empfand.
Nach dem Frühstück, pünktlich um halb sieben, als habe eine Schulglocke geklingelt, standen die ungefähr 200 Menschen auf und begannen mit ihrem Tagwerk. Franziska folgte Paul, dem Propheten, durch die mildgrünen, verwinkelten Gänge mit den tiefen Decken wortlos in sein Arbeitszimmer. Das gelbliche Licht, die schwerbraunen Regale voll mit zerfledderten Buchrücken und die wenigen freien Wände, an denen Zeichnungen, Satzbruchstücke und ganze Passagen auf altem Papier hingen, beruhigten sie immer sehr, da sie sich an die Rittergeschichten erinnert fühlte, die sie als Kind immer gern gelesen hatte; sie hatte sich alchimistische Labore immer ähnlich vorgestellt – es fehlten nur einige dampfende Töpfe und merkwürdige Glasgeräte, deren Zweck nicht eindeutig klar war.
Mit einem langen Atemzug sog sie die leichte Süße von alten Buchseiten ein, die diesen Raum immer erfüllte, dann ließ sie sich in einen der schweren und abgewetzten Ledersessel fallen, der in der Ecke vor einer Regalnische stand, und legte die Füße auf den kleinen Tisch davor, auf und vor dem sich aufgeschlagene Bücher stapelten.
Paul, der Prophet, sortierte derweil etwas provisorisch den Haufen von Blättern und Stiften auf seinem Schreibtisch. Die Tischlampe mit dem goldenen Fuß und dem smaragdgrünen Schirm aus Glas warf ein merkwürdiges Zwielicht auf sein Gesicht und Franziska fiel wieder einmal auf, dass er weitaus jünger aussah als er eigentlich war: Nicht eine Falte zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und jegliche Form von Bartwuchs schien seine Pubertät einfach vergessen zu haben. Die etwas streng seitengescheitelten Haare ließen ihn noch jungenhafter wirken. Fehlt nur noch eine kleine Mütze mit Propeller, dachte Franziska und schmunzelte leise.
„Wie kommst du voran?“, fragte sie ihren Mann nach einigen stillen Minuten.
Paul, der Prophet, antwortete nicht und tat beschäftigt, indem er konzentriert auf ein leeres Blatt vor sich starrte. Dann nuschelte er mit einer kratzigen, tiefen Stimme, die vollkommen mit seinem jungen Aussehen brach: „Überhaupt nicht.“
Franziska wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte und ärgerte sich ein wenig, überhaupt gefragt zu haben, denn Paul, der Prophet, fuhr fort: „Egal, was ich schreibe, es ergibt keinen Sinn und klingt einfach nur dumm, erzwungen oder lächerlich, meistens direkt alles auf einmal. Der ganze Kram da“ – er deutete mit kreisenden Handbewegungen auf die Wände um sich – „hat am Anfang so sinnvoll gewirkt, so großartig und so klug. Dann hab’ ich es aufgeschrieben und auf einmal war es winzig und bedeutungslos. Ich weiß nicht einmal, was ich erzählen soll; es passiert doch nichts. Es ist alles, als ob-“
„Du sollst nicht schreiben, was passiert. Du sollst schreiben, was passieren wird. Das ist immerhin dein Job.“ Franziska zog die Augenbrauen hoch; ihre Stimme hatte bitterer geklungen, als sie beabsichtig hatte.
Paul, der Prophet, schnaubte. „Was passieren wird!“ Er fuhr sich mehrmals durch die Haare, nur um sie danach mit zwei, drei routinierten Handgriffen wieder zu exakt der glatten Frisur zu formen, die er immer hatte. „Ich kann nicht in die Zukunft sehen!“
„Aber das denken die Leute hier. Leb’ damit.“ Sie sah ihn an und legte den Kopf ein wenig schief. „Das ist immer noch besser als den ganzen Tag lang einfach gar nichts zu tun.“
„Du könntest lesen, du könntest schreiben und ich bin mir sicher, du könntest auch arbeiten. Du willst nur nicht. Also hör’ auf zu jammern. Sie akzeptieren das nur, weil du mit mir verheiratet bist.“
Franziskas Antwort bestand aus einer abweisenden Handbewegung. Einige Minuten lang saßen beide nur da. Franziska blätterte demonstrativ uninspiriert in einem Buch, das sie blind aus der Wand hinter sich gezogen hatte – er sollte bloß nicht denken, dass sie sich etwas von seinen Worten angenommen hatte –, während Paul, der Prophet, nur auf das leere Blatt Papier vor ihm starrte und mit einem Stift wieder und wieder gegen seine rechte Schläfe klopfte. Tacktack, tacktack, wieder und wieder. Tacktack, tacktack.
„Du machst mich wahnsinnig!“, rief Franziska wütend.
Paul, der Prophet, schaute nur ertappt und legte den Stift an die Tischkante, sodass er ihn nicht mehr erreichen konnte, ohne den Arm auszustrecken. Nach einigen weiteren Minuten des eisigen Schweigens ließ er sich stöhnend in seinem Stuhl zurücksinken.
„Manchmal frage ich mich, was wir jetzt tun würden, wenn wir nicht Teil der Gemeinschaft geworden wären.“
„Hätte, würde, wäre“, sagte die junge, rothaarige Frau nur unwillig. „Vor allem gäbe es kein wir.“
„Davon einmal abgesehen“, erwiderte ihr Ehemann, „frage ich mich, ob wir uns da oben auch so unfassbar langweilen würden.“
„Alles ist besser als das hier.“ Ohne hinzusehen, schob sie das Buch, das sie durchgeblättert hatte, wieder hinter sich wieder ins Regal. Ihr fiel nicht auf, dass der Buchrücken nun in die falsche Richtung zeigte; Paul, dem Propheten, hingegen schon. Doch er sagte nichts. Dann fragte Franziska: „Bereust du es?“
„Bereue ich was?“
Sie deutete in Richtung Türe. „Teil von dem Ganzen hier geworden zu sein.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Nach dem, was am Ende oben passiert ist, war ich froh, als ich unten war.“
Franziska runzelte die Stirn. „Ich weiß es auch nicht. An manchen Tagen ist es hier erträglich, aber die meisten sind so ereignislos, dass sie sich wie drei Tage anfühlen. Dann denke ich wieder, alles wäre besser gewesen als dieser ganze Schwachsinn hier. Einfach oben bleiben und sehen, was passiert. Allein gelassen werden. Nicht reden müssen. Nicht beten müssen.“ Sie wurde ein wenig lauter: „Selbst einfach da oben zu verrotten wie die anderen wirkt manchmal verlockender.“
Paul, der Prophet, musste lachen. „Das ist doch Schwachsinn und das weißt du auch! Hättest du das wirklich gewollt, hättest du dir nicht so viel Mühe gegeben, auf den letzten Drücker einer von uns zu werden. Wir haben dich mit offenen Armen aufgenommen – und das, obwohl viele davon nicht begeistert waren. Doch merkst du davon irgendetwas? Nein! Die Leute hier behandeln dich mit Respekt, obwohl es so einfach gewesen wäre, dich von Anfang an einfach zu hassen. Und du gibst dir nicht einmal Mühe!“
Sie zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie etwas verächtlich: „Immer, wenn du so redest, klingst du plötzlich so erhaben wie ein echter Prophet.“
Stille. Sie sah ihn etwas triumphierend an, er starrte wieder auf sein leeres Blatt und sah hinter seinem Schreibtisch auf einmal erstaunlich klein aus.
Plötzlich tat ihr ein wenig leid, dass sie manchmal so hart zu ihm war, also sagte sie: „Es tut mir leid, dass ich manchmal so hart zu dir bin. Du kannst ja auch nichts dafür. Für nichts.“ Er starrte weiterhin auf sein leeres Blatt. „Trotzdem kannst du mir nicht vormachen, dass du das alles hier an manchen Tagen nicht genauso lächerlich findest wie ich! Paul, der Prophet.“ Sie dehnte das „e“ am Ende des Wortes so lang, bis es sich absurd anhörte, und zog die rechte Augenbraue hoch.
Paul, der Prophet, schmunzelte. „Ich wollte diese Position gar nicht. Ich wusste nicht einmal, dass es sie gibt. Der Bunker war gerade fertig, da habe ich vorgeschlagen, direkt einzuziehen. Nach kurzer Diskussion haben alle zugestimmt – am gleichen Abend kam die Bundeswehr, um die Wohngebiete zu evakuieren. Wir habe es alle nur knapp hierhin geschafft. Aber das weißt du ja selbst.“
„Und dann dieser ganze Quatsch mit den zwei Göttern!“, stieg Franziska sofort ein. „Hätte es nicht gereicht, einfach nur irgendwie orthodox christlich zu werden? Nein, natürlich nicht! Die Gemeinschaft muss direkt die Welt neu schreiben mit diesem bipolaren Bullshit!“
Sie lachte laut auf; herzlich, nicht verächtlich. Paul, der Prophet, konnte nicht anders als mitzulachen. Franziskas Lachen – wenn es ehrlich war und aus der Tiefe kam – sprang auf ihn über wie ein Funke, der trockenes Holz zum Brennen bringt. Er konnte dann nicht mehr böse auf sie sein; egal, was sie zuvor gesagt hatte.
„Wessen Idee war das eigentlich?“
„Davids“, antwortete Paul, der Prophet. „Sagen zumindest alle. Das Grundgerüst stand schon, als ich der Gemeinschaft beigetreten bin und jetzt muss ich damit arbeiten.“
„Du darfst ruhig Sekte sagen, wir sind unter uns.“
Diesmal zuckte Paul, der Prophet, mit den Schultern. „Du hast dich wirklich gut verkauft am Anfang. Ich habe gedacht, du wärst eine dieser ganz Besessenen, die dem Ende der Welt einen übergeordneten Sinn geben.“
Franziska stand kurz auf, deutete einen Hofknicks an, indem sie ihren knielangen, beigegrauen Rock an den Säumen hochzog und sich leicht verbeugte, dann ließ sie sich wieder auf den Sessel fallen. Es klatschte laut, als sie auf dem rissigen Leder aufschlug. Ihr Mann war überrascht, dass so eine zierliche Frau dermaßen grob wirken konnte.
„Du bist aber auch nicht zu verachten“, sagte sie dann, als sie ihre Füße überkreuzt auf den Tisch gelegt hatte. „Dieses leicht Unnahbare, Weltentfernte, das hast du sehr gut drauf!“
David verzog keine Miene. „Ich glaube leider, ich bin so.“
„Ich glaube, dass du das glaubst, weil dir das das Glauben leichter macht.“
„Wie du meinst.“
„Nein, versteh mich nicht falsch; ich halte dich nicht für bescheuert deswegen! Du bist sehr klug, denn durch deine Art wirkst du einfach so, wie ich mir einen Propheten eben vorstelle. Und das zieht bei den Anderen erst recht!“
„Hm.“
„Trotzdem kannst du mir nicht weismachen, dass du keine Agenda hattest, als du dich verpflichtet hast.“ Sie kicherte, als Paul, der Prophet, ein wenig gequält das Gesicht zu einem milden Lächeln verzog. „Du hast doch auch geahnt, was passieren wird, hast du gerade selbst gesagt. Und da wirkte ein sicheres Dach über dem Kopf – und davon sehr viel –“ sie deutete nach oben – „auf einmal so verlockend, dass sich selbst der ganze Sektenkram ertragen lässt.“ Auffordernd beugte sie sich nach vorn und stützte die Hände auf den Knien ab. „Ging mir doch nicht anders.“
„Überleben ist die Agenda. Das Ende der Welt macht anspruchslos.“
Spielerisch zwirbelte Franziska ihre Haare zwischen den Fingern und ließ übertrieben ihre Wimpern flattern. „Ich mag es, wenn du so emotional über unsere Beziehung sprichst.“
Jetzt musste Paul, der Prophet, laut und herzlich lachen, ohne dass Franziskas Lachen ihn dazu angestiftet hatte. Dann sagte er, fast ein wenig verschwörerisch, indem er sich ein wenig über den Tisch nach vorn in Richtung seiner Frau beugte: „Natürlich würde ich lügen, wenn ich sagen würde, dass ich absolut hinter dem stehe, was die Gemeinschaft sein will. Viele Überzeugungen sind ein wenig merkwürdig und Teile des Weltbilds sind einfach nur an den Haaren herbeigezogen, keine Frage. Aber sie waren eben die Einzigen mit den finanziellen Mitteln.“ Er fuhr sich wieder durch die Haare und strich sie im gleichen Bewegungsablauf wieder glatt. „Das klingt fürchterlich, nur deswegen bin ich auch wieder nicht hier. Aber es war einfach zu verlockend, vor dem Albtraum da oben einfach abzutauchen. Trotzdem hoffe ich, dass ich ein wenig die Richtung beeinflussen kann, in die die Sekte sich entwickelt.“
„Du hast Sekte gesagt.“
„Dass ich irgendwie meinen Teil dazu beitragen kann, dass die neue Welt besser wird als die alte. Wenn es eine neue Welt geben sollte. Irgendwann.“
„Du hast Sekte gesagt.“
Paul, der Prophet, kräuselte die Stirn. „Nein, im Ernst, die Vorstellung, dass wir vielleicht in irgendeiner Form dafür sorgen können, dass die Welt in 30 Jahren einfach eine bessere ist, ist schon reizvoll.“
„Du hast Sekte gesagt.“
„Jetzt machst du mich wahnsinnig!“ Wütend schlug er mit offener Hand auf den Schreibtisch.
Franziska zog nur die Augenbrauen hoch und sagte mit absichtlich tiefem Timbre in der Stimme: „Oh, der Herr kann ja auch anders!“ Sie stand auf und ging auf ihn zu, langsam, sich jeden Schrittes bewusst und sehr darauf bedacht, eine perfekte Körperhaltung zu bewahren und immer ein Bein vor das andere zu setzen als sei sie ein Topmodel auf dem Laufsteg. „Ich wollte dich nicht wütend machen, Verzeihung. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.“
Sie setzte sich auf die Kante des Tischs, streifte dabei so kurz mit ihren Beinen die seinen, dass er nicht sicher war, ob es überhaupt passiert war, und beugte sich in einer beabsichtigt unbeabsichtigten Bewegung eine Sekunde zu lang so weit nach vorn, dass ihm ihre nach Kräuter duftenden Haare ins Gesicht fielen. „Die Gemeinschaft ist eine Sekte, die sich den Zeitgeist zunutze gemacht hat. Den Endzeitgeist. Dafür muss man sie eigentlich respektieren. Gute Geschäftstaktik. Mindestens genauso kalkulierend wie wir. Das hier war von Anfang an ein Business. Wenigstens haben wir es direkt durchschaut und uns zu Nutzen gemacht.“ Sie warf die Haare zurück.
Paul, der Prophet, beobachtete sie die ganze Zeit, während er zurückgelehnt in seinem Stuhl saß als erwarte er einen Lapdance. Dies war wieder einer der Momente, in der ihm wieder einmal auffiel, dass Franziska durchaus eine schöne Frau sein konnte, wenn ihr danach war. Er wusste genau, dass sie mit ihm spielte und dass es ihr manchmal Spaß bereitete, ihn leiden zu sehen, und er wusste ebenfalls genau, dass das genau einer dieser Momente war, in der sie ihre barsche, manchmal extreme Art durch ihre zarte, ausgesprochen erotische Seite wieder ausgleichen wollte, deshalb ließ er sie gewähren. Er musste nichts sagen.
Wieder lehnte sie sich nach vorn und sagte mit verführerisch tiefer Stimme: „Du kriegst heute doch sowieso keine Zeile mehr aufs Papier, das wissen wir doch beide, oder?“
Paul blieb vollkommen ruhig und sah ihr direkt in die Augen, während sie in eine Schublade des Tischs griff und eine bisher unangetastete Flasche Whiskey herauszog. In einer fließenden Bewegung setzte sie sich auf seinen Schoß, griff ihm mit der linken Hand in den Nacken, beugte ihren Oberkörper nach hinten und presste so ihre kaum vorhandenen Rundungen durch ihre Kleidung. Dabei öffnete sie lässig mit dem Daumen der rechten Hand die Flasche als würde sie es jeden Tag tun, führte sie zu ihrem Mund, nahm einen tiefen Schluck und leckte schließlich neckisch mit ihrer Zungenspitze über den Flaschenhals. Ebenso fließend lehnte sie sich wieder nach vorn, drückte ihrem Mann die Flasche in die Hand, glitt mit ihrer Unterlippe langsam über seinen Hals nach oben und flüsterte ihm schließlich mit einem Atem ins Ohr, der scharf wie frisch verbranntes Holz roch: „Was hältst du denn dann davon, wenn wir einfach trinken und ficken, bis der Tag vorbei ist?“
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Es war der nächste Tag im Bunker und Paul wollte nicht gestört werden. Er hatte gesagt, dass er sich heute produktiv fühlte. Franziska hasste es, wenn er diese Tage hatte; sie wusste dann nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Heute war einer dieser Tage, an denen sie sich ohne Ablenkung hier unten wie ein in Bernstein gefangenes Insekt vorkam. Alles war besser als das.
Es war wieder Zeit, um mit Jonathan zu funken. Sie wusste nicht genau, wer dieser Jonathan war – was sie wusste, war, dass er gut zuhören konnte und sie manchmal einfach das Bedürfnis hatte, zu reden, ohne merkwürdig angesehen zu werden. Das passierte ihr im verborgenen Dorf so gut wie immer und hatte wiederum dazu geführt, dass sie von der Gemeinschaft als verschwiegen und abweisend wahrgenommen wurde, da sie hier kaum mehr reden wollte. Sie war zufällig auf ihn gestoßen, als sie sich an einem Tag wie dem heutigen zwischen den alten Geräten von Karl, dem Elektrotechniker, versteckt und ziellos an einer staubigen Funkanlage herumgespielt hatte, bis aus der meditativen Mischung von grünlichem Monitorlicht und weißen Rauschen langsam, wie der Kopf eines Ertrinkenden in einem aufgewühlten Meer, eine Stimme aufgetaucht war. Es war eine jungenhafte Stimme gewesen, eindeutig männlich, aber untypisch hell, die immer wieder wiederholt hatte: „Jonathan, ym, K-L. Kann mich jemand hören?“ Wieder und wieder, mit erstaunlicher Ausdauer und Ruhe.
Erst war sie sich nicht sicher gewesen, ob sie antworten sollte und ließ einige Minuten verstreichen. Dann begann sie, sich merkwürdig und ein wenig schuldig zu fühlen, dass sie den Unbekannten endlos fragen ließ, obwohl sie ihn hören konnte und zweifelte gleichzeitig, da es sich bei der monotonen Wiederholung unter Umständen um eine Aufzeichnung handeln könnte. Unschlüssig lauschte sie noch ein wenig und versuchte, tonale Veränderungen zu erkennen, doch Jonathan, ym, K-L – wenn er denn keine bloße Aufnahme war –, schien sich so in seinen Singsang hineingearbeitet zu haben, dass jedes Mal exakt gleich klang. Letztendlich wurde sie ungeduldig, schluckte ihre ungewohnte Nervosität hinunter, deren Ursprung sie sich nicht erklären konnte, wartete die exakt dreisekündige Pause zwischen jeder Wiederholung ab und sagte dann mit möglichst unbeeindruckter Stimme: „Ich weiß nicht, was es bedeutet, was du sagst, Jonathan, aber ich höre dich.“
Stille.
Also keine Aufnahme. Sie fügte hinzu: „Ich heiße Franziska.“
Nach einigen Sekunden hatte Jonathan dann erwidert, etwas stammelnd und eindeutig aufgeregt: „Hallo- Franziska! Ich bin- Jonathan.“
So hatte es angefangen. An diesem Tag hatten sie viel gesprochen. Franziska hatte ihm von sich erzählt, von der Gemeinschaft, von ihren Überzeugungen, von dem Bunker, von ihren Sorgen, ihren Problemen, ihren Wünschen und Träumen. Jonathan hatte zugehört. Sie war sich sicher, dass er auch etwas von sich erzählt hatte, war sich aber nicht mehr sicher, was. Wenn sie es sich richtig gemerkt hatte, saß Jonathan irgendwo auf dem platten Land, am Niederrhein, und war in Gesellschaft und- ehrlich gesagt, es war ihr egal. Sie wollte keine Freunde gewinnen; schon gar nicht eine bloße und viel zu helle Stimme. Es tat einfach nur gut, endlich einmal ungefiltert über alles reden zu können. Also verabredeten sie sich für den folgenden Tag zu einem weiteren Gespräch und aus diesem Tag wurde eine Woche mit festgesetzten Zeiten, bis sich daraus eine feste Routine entwickelte, über die sie nicht mehr reden mussten – es wurde selbstverständlich, dass sie zur immer gleichen Zeit an jedem Tag vor dem Funkgerät saßen.
Jonathan eröffnete immer das Gespräch. „Bist du da, Franziska?“, fragte er jedes Mal, und Franziska antwortete nach einer Sekunde, in der sie sich einbildete, nervöses Atmen zu hören: „Ich bin da, Jonathan.“
Heute, nach ihrer routinierten Begrüßung, sagte Jonathan sofort: „Stimmt etwas nicht? Du klingst bedrückt.“
Franziska war froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte und verfluchte ihn im Stillen für seine scharfe Aufmerksamkeit. „Es ist alles in Ordnung, keine Sorge.“ Sie atmete aus, starrte auf die Folge von Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm vor ihr und fragte sich wieder einmal, ob diese Reihe von eigentlich vollkommen bedeutungslosen Zeichen für die sensible Verbindung zwischen ihr und Jonathan sorgte und was passieren würde, wenn sie sich änderte. Dann fügte sie hinzu: „Eigentlich ist gar nichts in Ordnung, noch weniger als sonst.“
„Erzähl“, forderte Jonathan sie auf.
„Du erinnerst dich an den Jungen, von dem ich dir erzählt habe?“ Sie deutete das Schweigen als Zustimmung. „Er ist tot.“
Nur leises, statisches Rauschen, unterlegt von einem anhaltenden Fiepsen.
Dann Jonathan: „Wie?“
„Getötet. Vom alten Mann.“
„Nein, also ja, nein- ich meine: Was?“ Er klang fassungslos.
Sie ignorierte, dass ihr das Sprechen schwer fiel. „Sie haben die Beiden kämpfen lassen. Sie haben abgestimmt wie sie darüber abstimmen, was nächste Woche in welcher Reihenfolge gekocht werden soll. Sie haben sie in den Saal gebracht, in dem wir immer essen, sie haben einen Kreis um sie gebildet, sie haben Waffen auf sie gerichtet und gesagt: ,Kämpft!‘ Sie hatten alte Gasmasken auf, wie Henker, die ihre Scham verstecken wollen, doch es war für die meisten das Aufregenste seit Monaten, vielleicht sogar das Aufregenste überhaupt. Es waren Kinder dabei, die sich hinter ihren Eltern versteckt haben. Der Junge sah ratlos aus, ängstlich. Der Alte war schlapp. Und doch hat er ihn getötet.“ Sie schwieg einen Atemzug lang. „Der Junge hat sich nicht gewehrt.“
Jonathan räusperte sich. „Warum nicht?“
Franziska starrte auf die grüne Folge von Symbolen, die auf dem Bildschirm vor ihr zunehmend unklarer leuchtete, dann fuhr sie fort: „Ich kannte den Jungen. Er hieß Samuel. Damals sind wir zur selben Schule gegangen.“ Sie musste lachen. „Ich sage das, als wäre das Jahre her. Manchmal fühlt es sich so an.“ Sofort wurde sie wieder ernst. „Ist auch egal. Er war irgendwo unter mir. Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, ich weiß es nicht genau. Ist auch egal. Jedenfalls war er besessen von mir oder sowas. Erst dachte ich, es wäre eine Art niedlicher Verknalltheit, doch dann hat er angefangen, mir zu folgen – erst durch die Schule, dann bis nach Hause, wo er teilweise stundenlang gewartet hat. Ich weiß nicht, worauf. Ich habe jedes Mal gemerkt, wenn er da war. Und er war oft da. Dann ist alles ziemlich schnell umgeschlagen. Erst habe ich noch gedacht, er hört von selbst auf, doch das hat er nicht. Er war immer da, bald jeden Tag. Dann habe ich versucht, mich daran zu gewöhnen, mich irgendwie einzupendeln zwischen Ignoranz und diesem unruhigen, beunruhigenden Gefühl. Aber das hat auch nicht funktioniert. Irgendwann habe ich mich konstant verfolgt gefühlt als wäre immer irgendwer im Raum. Ich habe mir eine Waffe gekauft, eine kleine 45er.
Mein Vater dachte erst, ich werde wahnsinnig, als ich angefangen habe, sie überall hin mitzunehmen; selbst damit pinkeln zu gehen und erst jeden Raum zu durchsuchen, bevor ich mich halbwegs ruhig geben konnte. Vielleicht habe ich ihm zu spät davon erzählt. Vielleicht hätte sich das Ganze einfacher klären lassen. Jedenfalls ist er eines Abends aus dem Haus gestürmt, als er gesehen hat, wie Samuel in den Büschen hockte und durchs Fenster gestarrt hat. Ich wollte ihn aufhalten, doch er ist raus und hat ihn verdroschen. Richtig. Ich musste Papa davon abhalten, ihn totzuschlagen; wir mussten einen Krankenwagen kommen lassen. Dann haben meine Eltern Klage gegen den Jungen eingereicht und versucht, eine Verfügung zu erwirken, damit er sich wenigstens von mir fern halten musste – doch das Verfahren war von Anfang an sinnlos: Der Junge war zu jung, wir hatten keine Beweise, und dass mein Vater ihn verprügelt hatte, machte alles noch schwieriger. Ich glaube nicht, dass wir etwas erreicht hätten. Es war ein verzweifelter Versuch, einen verzweifelten Jungen abzuschrecken. Jedenfalls noch bevor irgendetwas klar war, ging alles los. Die Nachbarschaft wurde vom Militär evakuiert, überall waren Hubschrauber und Panzer, und die Menschen zerstreuten sich wie ein aufgescheuchter Schwarm Vögel.“
Sie atmete schwer aus. „Vielleicht bin ich deswegen so schnell Teil der Gemeinschaft geworden. Hier unten konnte ich mich verstecken. Und der Gedanke an ein neues Leben – selbst, wenn ich 30 Jahre darauf warten muss – war irgendwie sehr reizvoll. Keine Welt mehr, kein Samuel mehr. So einfach war das. Ist auch egal eigentlich. Vielleicht bin ich auch einfach nur bescheuert.“
Sie quälte sich ein leises Lachen heraus. Sie hatte keine Lust mehr, darüber zu reden. Doch Jonathan wollte mehr wissen: „Warum haben sie die Beiden kämpfen lassen? Warum hat der Alte den Jungen getötet? Und wie?“
Sie zögerte, dann fuhr sie fort. „Erst hat er ihn geschlagen. Unfassbar hart, von Anfang an. Samuel sah die ganze Zeit so aus, als würde er nicht wissen, was passiert. Dann hat er mich gesehen. Er hat geblutet und gelächelt, kam einen Schritt auf mich zu. Ich habe unbewusst nach der Pistole gegriffen, die ich immer im Hosenbund hatte, versteckt unter einem langen Cardigan, doch da war nichts und ich habe Angst bekommen, bin zurückgewichen. Dann sah er noch verwirrter aus, doch dieses Lächeln blieb, die ganze Zeit. Er kam noch einen Schritt weiter auf mich zu, dann hat der Alte ihn niedergeschlagen, mit voller Wucht gegen die Nase. Es hat geknackt. Der Junge wollte aufstehen, aber konnte nicht mehr. Jemand hat dem Alten ein Messer angeboten, einen Dolch oder so etwas. Ich habe nicht genau hingesehen. Paul hat mich in den Arm genommen, ich habe gezittert. Ich glaube, Paul wusste noch weniger als Samuel, was passiert. Der Alte hat nur mit dem Kopf geschüttelt und erst mich, dann Samuel angesehen, wie er da am Boden lag. Er hat den Kopf gehoben, mich mit leerem Blick in den Leuten gesucht, und er hat gelächelt. Immer hat er gelächelt. Ich weiß nicht, ob er mich noch gesehen hat. Dann hat der Alte ihn totgetreten. Immer wieder mit dem Absatz seines Stiefels gegen die Stirn des Jungen. Hoch mit dem ganzen Bein ausgeholt, dann ins Gesicht, effizient und gezielt, mit seinem gesamten Körpergewicht. Jedes Mal, wenn er zugetreten hat, habe ich es durch die Fliesen in meinen Füßen gespürt. Jonas, der Lehrer, hat ihn die ganze Zeit mit stillen Handbewegungen angefeuert als wäre es ein fairer Boxkampf. Das Geräusch wurde so rhythmisch und hypnotisch. Er musste oft nachsetzen, bis der Junge sich nicht mehr bewegte. Der gesamte Boden war rot, die Stiefel des Alten, seine Hosenbeine, selbst ein paar der Zuschauer haben Spritzer abbekommen. Manche grinsten; manche standen da wie ich, mit aufgerissenen Augen, fassungslos; manche drehten sich um und gingen. Sein Gesicht war nach innen gedrückt – wenn da überhaupt noch ein Gesicht war unter den ganzen Knochen und Haaren und Flüssigkeiten. Es roch so furchtbar. Mir war nach Kotzen zumute. Doch ich konnte nicht aufhören, zuzusehen. Und trotzdem war ich so unfassbar froh, dass er tot ist. Bin so unfassbar froh.“
Sie hatte erst tonlos geklungen, war dann schneller geworden und fragte schließlich wütend: „Zufrieden, Jonathan?“
Jonathan setzte nach: „Warum?“
„Warum wohl, Jonathan! Denk nach!“ Sie wusste nicht, was sie sonst antworten sollte.
Er sagte einen Atemzug lang nichts, dann fragte er: „Wer ist der alte Mann? Warum tötet er einen Jungen?“
„Du fragst zu viel.“ Das Sprechen fiel ihr schwer, ihr war die Lust vergangen. „Ich muss los.“
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Auch einige Stunden später war sie noch unruhig. Das Gespräch mit Jonathan hatte sie nervös gemacht, ohne dass sie genau sagen konnte warum. Es war, als sei etwas in ihr aufgekratzt worden, was schon seit einiger Zeit verkrustet gewesen war.
Während sie vermied, darüber nachzudenken, wanderte sie durch die verwinkelten, grünen Gänge. Ihr Schritt war schnell, obwohl sie nicht genau wusste, was sie tun sollte. Sie fühlte sich gehetzt als dränge sie etwas dazu, etwas Verbotenes zu tun. Also beschloss sie, den alten Mann zu besuchen.
Einen kurzen Augenblick lang blieb sie vor der schwergängigen Tür zu seinem Verschlag stehen, der einer Zelle glich. Dabei war es nichts weiter als ein Putzraum. Erst vor wenigen Tagen hatte einer der Techniker (sie glaubte, dass es Martin gewesen war, war sich aber nicht sicher und ehrlich gesagt war es ihr auch egal) ein Loch in die Türe geschweißt, weil jeder, der sich länger als eine Minute in diesem kleinen Raum aufgehalten hatte, über Kopfschmerzen klagte. Die Lüftungsschlitze im Übergang zur Decke waren einfach nicht stark genug, um die Dämpfe aus den viel zu scharfen Reinigungschemikalien zu bewältigen. Die Wissenschaftler hatten bisher immer bloß beschwichtigt und die Vorwürfe von sich gewiesen, bis jemand die Sache in die Hand genommen und mit vielleicht etwas blindem Aktionismus versucht hatte, etwas zu ändern. Die Idee war gut gewesen – auch, wenn sie nicht viel gegen das ursprüngliche Problem gebracht hatte –, aber mit der Inhaftierung des Alten wurden die Putzmittel ausgelagert (was das ursprüngliche Problem wiederum beseitigte) und eine schlecht passende, quietschende Klappe vor das Loch gesetzt, das nun wie ein Sichtfenster aussah.
Als sie die schwergängige Türe zu seinem Verschlag öffnete, saß der Alte in der Ecke, die Knie zum Kinn gezogen, und blickte nicht einmal auf. Franziska rümpfte ein wenig die Nase, als sie in den Geruch trat, der im Raum hing, und fragte sich, ob das unbedingt besser war als die beißende Schärfe, die hier vorher gewohnt hatte. Ruhig lehnte die Türe hinter sich an und näherte sich dem alten Mann, bis sie in etwa einem Meter Entfernung von ihm stehen blieb.
„Wie geht es dir, alter Mann?“, fragte sie.
„Wie soll es mir schon gehen?“, fragte er und schnaubte, ohne Aufzusehen.
Sie verstand, was er meinte, und ärgerte sich, dass sie das Gespräch so angefangen hatte. Sie trat auf der Stelle.
„Jetzt sei nicht so nervös und setz dich, ich werde dir schon nichts tun“, murmelte er in Richtung Boden.
Franziska trat ein wenig näher, dann kam sie seiner Aufforderung nach und ließ sich an der Wand entlang auf den Boden sinken. Von hier unten sah der Raum, so still und kalt und in grünliches Licht getaucht, aus irgendeinem Grund noch kleiner aus als im Stehen. Sie blickte den Alten an, der immer noch stumpf auf den Boden starrte, und zog ebenfalls ihre Knie zu ihrem Kinn.
„Du bist erleichtert, oder?“, fragte er.
Franziska schwieg.
„Ich kann das verstehen.“
Sie sagte immer noch nichts.
„Er war gefährlich, keine Frage. Und was hätte hier unten schon mit ihm passieren sollen? Er hätte das gesamte Gefüge durcheinander gebracht. Ich musste ihn umbringen. Allein für dich.“
Ohne dass sie wusste warum, weinte Franziska. Der Alte ließ ihr Zeit. Schließlich fragte sie: „Hast du gesehen, wie er aussah?“
Der Alte antwortete nicht, bewegte sich nicht.
„Nachdem ihr-“, sie schluckte „fertig wart, war ich mich nicht einmal sicher, ob er es wirklich war.“
„Er war es.“ Der Alte klang sicher.
„Warum bist du dir so sicher? Du hast ihn doch vorher nie gesehen!“
„Er war es!“ Die Art, wie er diesen Satz aussprach, ließ Franziska verstummen.
„Ich bin erleichtert“, versuchte sie, das Gespräch umzuleiten. „Und ich hasse mich dafür. Ich sollte nicht erleichtert sein. Jemand ist gestorben, du hast jemanden getötet, wir haben eine Entscheidung getroffen, die uns für immer verändern wird – ich sollte einfach nicht erleichtert sein.“ Sie pausierte. „Aber ich bin es.“
Zum ersten Mal hob der Alte der Alte seinen Kopf. Mit unerbittlicher Sanftheit sah er ihr direkt in die Augen. „Es ist in Ordnung. Es musste sein.“ Dann sank er wieder in sich zusammen als würde er einschlafen. „Schon vorher habt ihr euch verändert. Dass ich ihn erschlagen habe, war nur eine überdeutliche Manifestation davon. Ihr seid genau das geworden, was ich nie wollte: Eine selbstgerechte, gelangweilte, fette Gruppe von Menschen, die über das Leben anderer urteilt, weil sie nichts besseres zu tun hat. Das ist es, was passiert, wenn Menschen ihre Überzeugungen vergessen und keine Chance haben, einander zu entgehen.“
Franziskas Augen verengten sich, sie stand auf und wandte sich zum Gehen.
„Du brauchst überhaupt nicht eingeschnappt zu sein! Du bist nicht wie die meisten hier. Das wusste ich schon, bevor du hierhin gekommen bist. So leicht bin ich nun wirklich nicht zu täuschen.“ Er schmunzelte leicht. „Du magst kalkulierend und kalt wirken, dabei bist du nur brutal ehrlich – und das ist besser als hinter all dieser scheinbar neutralen Freundlichkeit in klaffende Abgründe zu sehen, die immer weiter aufreißen.“
Sofort veränderte sich sein Gesicht. „Ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte, aber es ging nicht. Ich war zu idealistisch. Es war so naiv zu denken, dass wir eine neue Welt einläuten könnten; eine bessere Welt mit einem vollkommen selbstverständlichen Humanismus. Doch ich dachte, wer zu dem Schritt bereit ist, in einen verdammten Bunker zu ziehen und jahrelang das Ende der Welt abzuwarten und das, was auch immer danach kommt, würde verstehen, was die ursprüngliche Absicht war; würde verstehen, worum es geht, was ich will. Die religiösen Anspielungen waren doch nur so schön griffig und haben so viel Spielraum für Erklärungen gelassen, falls die Dinge einmal unnötig kompliziert werden sollten.“
Franziska stand mitten im Raum, dem Alten den Rücken zugewandt. „Die Dinge sind schnell unnötig kompliziert geworden.“
„Und mir aus den Händen geglitten, ich weiß. Es ist meine Schuld. Ich hätte etwas ändern können. Aber ich habe versucht, vernünftig zu sein. Ich wollte ein Beispiel sein! Ein Vorbild! Ihr heißt nicht ohne Grund ,Gemeinschaft‘ – das war der Plan: Eine vollkommen undogmatische Gruppe von Menschen mit dem gleichen Ziel.“ Er fuhr sich durch die silbernen, fettigen Haare. „Aber warum sollten sich Menschen auch so plötzlich ändern?“
Franziska zuckte nur mit den Achseln. „Ich war mir von Anfang an ziemlich sicher, dass Menschen sich nicht ändern.“ Sie drehte sich um, ging auf den Alten zu, kniete sich vor ihn und wartete so lang, bis er von sich aus Blickkontakt aufnahm. „Ganz ehrlich, alter Mann? Ich wollte nur hier rein, weil hier mein Überleben sicher war. Es gibt genug Essen – alles andere als gutes Essen, aber die Apokalypse macht ja bekanntermaßen anspruchslos –, ich habe ein Dach über dem Kopf und Gesellschaft. Dass letztere zu wünschen übrig lässt, konnte ich vorher ja leider nicht ahnen. Trotzdem schlagen die anderen beiden Punkte die Alternativen. Ich bin genau das, was du nie wolltest.“
„Nein.“ Der Alte klang beinahe amüsiert. „Du bist dir deiner Selbst bewusst. Genau deswegen bist du nicht wie der Rest. Deswegen fühlst du dich auch so verloren.“
Franziska runzelte die Stirn. „Was soll das denn wieder bedeuten?“
„Du gehörst hier nicht hin, Franziska. Das ist es, was ich dir damit sagen will. Du bist nicht wie sie und das merken sie auch. Außerdem ist es ja nicht so, dass du dir unbedingt Mühe gibst, zu verstecken, wer du bist, oder hat sich daran etwas geändert?“ Er deutete ihren angespannten Kiefer als Zustimmung. „Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder, du findest deinen Platz unter ihnen, oder du gehst. Egal, wofür du dich entscheidest: Tu es schnell. Sonst steckst du bald in der gleichen Scheiße wie ich.“
Die junge Frau antwortete nicht, sah nur nach unten. Ihre leicht welligen, roten Haare fielen ihr vor das Gesicht und schienen ihren Kopf und ihre Schultern tief nach unten zu ziehen. Die feingliedrigen, hellweißen Hände hatte sie überkreuzt auf den Oberschenkeln liegen. So kniete sie eine Minute oder zwei vor dem alten Mann.
Dann: „Ich muss gehen, alter Mann.“ Sie stand auf und ging mit großen Schritten in Richtung Tür, die immer noch angelehnt war. „Es war schön, mit dir zu reden.“ Sie schob ihre Finger zwischen Tür und Türrahmen.
Plötzlich: „Der Junge meinte, sie gehen nur mit den Gasmasken an die Oberfläche?“
Franziska nickte.
„Mit diesen lächerlichen Vorkriegsgasmasken, die nur Spielzeug für die Kinder sind und sowieso seit Jahrzehnten nicht mehr funktionieren?“
Franziska nickte.
„Sie glauben wirklich, dass da oben alles verseucht ist, nicht wahr?“
Sie drehte sich direkt in seinen kindlich erwartungsvollen Blick um. Sie nickte wieder. Sofort verschwand jede Erwartung aus der Mimik des Alten. Er schüttelte nur den Kopf und nahm dann wieder die statuenhafte Position ein, in der er in der Ecke gesessen hatte, als Franziska gekommen war.
Sie ging. Kurz, bevor sie die Türe hinter sich schloss, ohne sich umzusehen, sagte sie leise: „Bis bald, Daniel.“
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Paul, der Prophet, setzte seine etwas zu kleine, bronzefarbene Brille ab, die aussah, als habe er sie einer alten Frau gestohlen, legte sich vor sich auf den Tisch und rieb sich die Augen. Dann knurrte er und stütze seinen Kopf in seine Hände. „Kann ich nicht einfach Koch sein?“
Franziska lachte. „Du bist eher eine Putzfrau: Still und schlecht gelaunt.“
Er vergrub sein Gesicht zwischen seinen Fingern – sie vermutete, er wollte ein Lächeln verbergen. Leicht gedämpft hörte sie: „Sind wir das nicht alle, still und schlecht gelaunt?“
„Du warst doch mit mir beim Frühstück, oder? Hast du das Gefühl, dass irgendjemand weder das eine noch das andere ist?“
Sie stand auf und ging ein paar behutsame Schritte direkt an den Bücherregalen vorbei, ließ ihre Finger dabei über die spröden Buchrücken streichen, die vermutlich wesentlich älter aussahen als sie eigentlich waren. Doch sie mochte es, sich zu sagen, dass diese Bücher vielleicht mehr Geschichten zu erzählen hatten als in ihnen standen. Das hatte etwas Magisches für sie. Als könne sie diesen imaginären Zauber riechen, schloss sie die Augen und reckte ihre Nase in Richtung der Regale.
„Es ist, als wäre überhaupt nichts passiert“, sagte Paul, der Prophet, und setzte seine Brille wieder auf. „Es ist so kaputt, dass wir heute morgen dort gegessen haben, wo gestern jemand getötet wurde.“
Franziska sagte nichts. Ihr Körper hatte sich unbewusst etwas angespannt und sie tat angestrengt mit schiefgelegtem Kopf so, als würde sie die Titel der Bücher lesen, obwohl sie diese und die Reihenfolge, in denen sie standen, schon längst auswendig kannte. Ihr fiel ein Buchrücken auf, der falsch herum stand.
„Was ist eigentlich mit der Leiche passiert?“, fragte Paul, der Prophet ein wenig abgelenkt.
„Keine Ahnung. Vielleicht macht Tobias Hackfleisch draus. Wäre mal wieder eine nette Abwechslung zur täglichen Pampe.“ Franziska gab sich Mühe, unbeteiligt zu klingen.
Paul, der Prophet, lachte nicht.
„Ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen. Es ist auch egal.“
Er rutschte ein wenig auf seinem Stuhl herum. „Du kanntest ihn, nicht wahr?“
Franziska fuhr fort, so zu tun, als würde sie Buchrücken studieren. Es tarnte gut, dass sich ihr Körper auf einmal verkrampft hatte. „Kennen wäre zu viel. Wir waren zusammen auf der Schule, er war einige Stufen unter mir. Wir haben nie miteinander geredet.“
„Du wirktest, als würdest du ihn kennen.“
„Ich wirkte, als wäre ich geschockt gewesen, hier überhaupt jemanden zu finden, den ich vorher kannte. Die meisten hier hatten ja irgendwie Familie dabei, bloß wir beide nicht. Vermutlich hat Daniel uns deswegen verheiratet.“
„Du lenkst wieder ab.“
Sie stöhnte unwillig auf, drehte sich um und sah ihn an. „Ich war geschockt davon, was gestern passiert ist und ich bin es auch immer noch. Ein Junge ist gestorben – und ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum das nötig war. Wir hätten ihm mit Sicherheit irgendeinen Platz geben können. Ich wusste, wer er war – sein Name war Samuel –, und er kannte mich auch, vermutlich deswegen das entrückte Grinsen; deswegen war ich gestern so aufgelöst. Ende der Geschichte.“
Paul, der Prophet, gab sich zufrieden. Er hätte nachfragen können, er hätte nachfragen wollen, denn er war sich sicher, dass da mehr war, aber eine aggressive Franziska war eine anstrengende Franziska. Also ließ er es gut sein. „Ich weiß wirklich nicht weiter. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll“, versuchte er, das Gespräch umzulenken.
Franziska lehnte sich mit verschränkten Armen an ein Regal und erwiderte nur: „Kopier doch einfach. Hat nicht irgendein kluger Mensch einmal gesagt, dass jeder abschreibt, nur die Frage ist, wie man damit umgeht?“
„Ich glaube, das haben viele kluge Menschen gesagt. Wahrscheinlich wollten sie sich nur selbst trösten.“
„Hilft nicht?“
„Hilft nicht.“
Einige Minuten starrten beide im Raum herum. Es war eine angenehme Stille, routiniert und nicht aufgeladen. Sie taten das manchmal, wenn es gerade nichts zu besprechen gab. Keiner von beiden hatte es dem anderen bisher gesagt, aber sie mochten, dass sie gemeinsam schweigen konnten, ohne sich dabei peinlich berührt zu fühlen wie in Gegenwart der Menschen, mit denen sie außer Smalltalk nicht viel hatten, worüber sie sprachen. Es war, als wäre Stille ihre Art von intensivem Gespräch. Paul, der Prophet, glaubte oft, dass sich seine vom ganzen Denken welligen Gefühle von selbst glätteten, während Franziska meist das Gefühl hatte, dass ihre Gedanken nach ein wenig Ruhe mehr Sinn ergaben.
So auch dieses Mal, denn sie sagte: „Ich glaube, ich habe eine Idee.“
Mit gezieltem Schritt ging sie auf das Bücherregal hinter dem Schreibtisch zu, während er ihr gespannt zusah, und zog gezielt ein Buch heraus, dick und bedeutungsschwer. Triumphierend ließ sie es direkt vor Paul, den Propheten, fallen. Es war die Bibel.
Er zog nur eine Augenbraue hoch. „Meinst du nicht, auf die Idee bin ich auch schon gekommen? Da steht nichts drin, was sich verwerten lässt. Außerdem kennen die meisten hier das Ding in- und auswendig.“
„Wo ist Daniels Werbeblättchen?“
„Was?“
„Diese merkwürdigen paar Seiten, die er vor dem Ende überall verteilt hat und das jeder hier rezitieren kann als ginge es um sein Leben.“
„Das Buch der Erneuerung?“
„Das! Obwohl es kaum ein Buch ist.“
Langsam, mit gespielter Fassungslosigkeit, deutete er mit ausgestrecktem Finger auf drei eingerahmte Seiten über der Tür. Sie waren etwas vergilbt und rissig an den Rändern. So sah jedes Exemplar davon aus. Franziska vermutete, dass Daniel gewollt hatte, dass sie so älter und wichtiger aussahen.
Sie machte bloß „Ah!“, eilte zur Tür und hüpfte hoch, griff dabei zwei Rahmen und riss einen Nagel aus der Wand.
„Vorsicht!“, rief Paul, der Prophet plötzlich und sprang aus seinem Stuhl auf. „Das sind die Originale!“
Franziska machte einen Schmollmund, wie sie es so oft tat, wenn sie sich ertappt fühlte. „Ehrlich?“
„Ehrlich!“, antwortete er.
Sie zögerte kurz, zuckte mit den Schultern. „Egal!“, rief sie dann und warf einen Rahmen in seine Richtung wie eine Frisbee. Mit hektischen und ungelenken Bewegungen fing Paul, der Prophet, die erste Seite des Textes. Als er sah, dass Franziska währenddessen wieder hochgesprungen war, um den dritten Rahmen von der Wand zu rupfen, konnte er nicht anders als leise zu lachen.
„Du bist wahnsinnig.“
„Vielleicht“, sagte sie mit triumphierenden Tonfall. „Aber du wirst mir gleich danken.“
„Jetzt bin ich gespannt.“
„Zu Recht.“ Sie ging zu ihm und legte die beiden Rahmen behutsam auf den Tisch neben die Bibel. „Es ist egal, was in darin steht. Viel wichtiger ist, wie es darin steht. Daniel hat das verstanden. Sein Text klingt sehr groß, sehr absolut und ein wenig alt. Ich bin mir sicher, dass das Absicht ist, denn es klingt ein wenig so als könnte es zu den Apokryphen gehören.“
„Was ich dich immer schon fragen wollte: Warum weißt du eigentlich so viel über das ganze Zeug?“
„Katholische Erziehung“, antwortete sie knapp, dann fuhr sie fort: „Du versuchst einfach, den Stil zu treffen, der die Daniels Text mit der Bibel verbindet und du hast keine Probleme mehr.“
Eine Weile sagte er nichts; seine Sorgenfalte über der Nase verriet ihr, dass er nachdachte. Dann nickte er. „Bleibt bloß die Frage, was ich erzählen soll. Irgendetwas muss ich erzählen. Worte allein machen keinen Text.“
Sie hielt einen Augenblick inne, lächelte triumphierend und zuckte so lang immer wieder mit den Augenbrauen, bis er lachen musste. „Du erzählst einfach etwas über mich.“
In diesem Moment ging die Türe auf, Franziska zuckte zusammen. Magdalena, die Organistin, lugte durch den Spalt.
„Kann ich dir helfen?“, fragte Paul, der Prophet mit übertrieben freundlichem Ton in ihre Richtung.
Magdalena, die Organistin, lächelte bloß und schüttelte den Kopf. „Ich wollte bloß- Ich dachte- Es spielt keine Rolle.“ Sie deutete auf die Rahmen. „Die guten Worte! Sehr schön! Du arbeitest, Prophet! Ich wünsche dir viel Erfolg!“ Sie wollte gerade die Tür schließen, da schob sie durch die Zähne gepresst hinterher: „Euch viel Erfolg.“ Dann war sie wieder verschwunden.
„Sie mag mich nicht“, sagte Franziska.
„Sie mag niemanden“, sagte Paul, der Prophet. „Aber weiter: Über dich? Was soll ich über dich denn bitte erzählen?“
„Das klang etwas unfreundlich, mein Lieber!“ Als sie sah, dass sich wieder die Sorgenfalte über seiner Nase abzeichnete, diesmal nur tiefer als vorher, strich sie ihm über die Schultern. „Keine Sorge. Ich weiß genau, was du meinst. Aber ich habe eine Idee. Du musst mir nur dabei helfen.“
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„Aber es ist doch schön hier!“ Kurt, der Lehrer, klang auf amüsierte Weise fassungslos.
Wie so oft, wenn etwas Wichtiges anstand, hatte sich der neue Vorstand der Gemeinschaft – Magdalena, die Organistin; Isabell, die Bibliothekarin und Kurt, der Lehrer (die Gemeinschaft hatte, ohne es beabsichtigt zu haben, eine Art Ältestenrat etabliert und war zufrieden mit ihrer demokratischen Entscheidung und der Tatsache, dass schwierige Entscheidungen für sie von nun an von ihren gewählten Vertretern getroffen wurden) – im Saal versammelt, der zu diesem Zweck kaum mehr aussah wie sonst: Während Franziska und Paul in der Mitte des Raumes standen, die Gesichter fahlgezeichnet vom grünlichen Licht, umgeben von leeren Tischen und Stühlen, die an die Wände gerückt worden waren, thronte der Vorstand hinter drei Tischen in deutlicher Entfernung mit verschränkten Armen.
„Ist es wirklich, Mädchen! Ich glaube nicht, dass du weißt, was dich da oben erwartet“, sagte Isabell, die Bibliothekarin, mit ihrer etwas schrillen Stimme, die immer ein wenig so klang, als sei sie sich nicht ganz sicher. „Noch gestern habe ich zum Koch gesagt: ,Tobias, ich bin froh, dass wir einander haben, wir alle.‘ Das habe ich gesagt! Und er hat nur gelacht und meinte: ,Ich kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.‘ Das hat er gesagt, jaja.“
„Ich hatte letztens eine ähnliche Konversation mit unserer guten Organistin Magdalena hier“, sagte Kurt, der Lehrer, und deutete neben sich. Magdalena, die Organistin, beobachtete die Szene bloß so konzentriert wie eine Studentin ihre erste Vorlesung. Als er sah, dass sie gar nicht reagierte, legte er den Kopf schief. „Sie sagte nur: ,Kurt, mein alter Freund – der gleichzeitig auch ohne Zweifel der beste Lehrer ist, den wir alle uns und unseren Kindern wünschen können – Kurt, hier unten spielt sich das echte Leben ab. Wir beten, wir singen, wir preisen die Götter, und manchmal, aber nur manchmal, werde sogar ich schwach angesichts deines Astralkörpers.‘“ Er gluckste und blickte Magdalena, die Organistin, auffordernd an, und auch Isabell, die Bibliothekarin, kicherte verhalten, doch die Miene der Organistin blieb unverändert und sie starrte stur geradeaus, direkt in die Augen von Franziska.
Kurt, der Lehrer, wartete noch einige Sekunden auf eine mögliche Reaktion seiner Sitznachbarin, dann zuckte er enttäuscht mit den Schultern und sah wieder zu den beiden jungen Menschen vor ihm. „Aber ernsthaft, Franziska: Warum? Es gibt keinen Grund, sozusagen. Und du kennst unsere Einstellung zu Menschen, die die Gemeinschaft verlassen wollen.“
Franziska schluckte unmerklich und ballte ein Hand zur Faust.
„Wenn du einmal oben bist, kannst du nicht mehr zurückkommen. Ich persönlich fände das sehr schade – zumal ich mir sicher bin, dass dich dein Mann durchaus sehr vermissen würde.“ Er gluckste wieder leise. „Nicht wahr?“, fragte er an diesen gerichtet und zwinkerte; Isabell, die Bibliothekarin, nickte verständnisvoll. Paul, der Prophet, sagte nichts. „Deswegen weiß ich nicht, ob wir diese Idee so gutheißen können. Du tust dir damit keinen Gefallen, Franziska.“ Isabell, die Bibliothekarin, schüttelte bedeutungsschwer den Kopf. Magdalena, die Organistin, rührte sich nicht.
Franziska atmete einmal tief ein, dann aus, und sagte dann mit eiserner Freundlichkeit und Offenheit, die sie selbst überraschte: „Das Letzte, was ich will, ist es, die Gemeinschaft zu verlassen. Ich weiß, welches Privileg mir zugekommen ist, überhaupt ein Teil der Gemeinschaft werden zu dürfen und ich weiß dieses Privileg jeden Tag zu schätzen.“
Sie ließ einige Sekunden verstreichen, in denen sie jeden der drei Alten, die ihr gegenübersaßen, mit einem kurzen Blick direkt in die Augen bedachte. Sie traf auf zwei lächelnde Gesichter.
„Allerdings bin ich mir nicht mehr sicher, dass die Gemeinschaft noch will, dass ich ein Teil von ihr bin.“
Sie stand auf, schritt behutsam und bedacht auf die Drei zu und legte ihnen einen kleinen Stapel Papiere auf den Tisch. In erstaunlich aufwendiger Arbeit hatte sie gemeinsam mit Paul in mehreren Handschriften, die ihren überhaupt nicht ähnlich sahen, kurze Briefe geschrieben, die voll waren mit Hass und Verachtung ihr gegenüber.
Isabell, die Bibliothekarin, griff nach dem obersten, und las laut vor: „Du bist wertlos für uns. Tot hättest du für die Gemeinschaft größeren Nutzen als jetzt. Ich hoffe, dass dich eine Krankheit dahinrafft, bevor wir eingreifen müssen.“
Kurt, der Lehrer, verengte die Augen und zog den nächsten Brief vom Stapel. „Du bist eine schlimmere Verführerin als Maria Magdalena und Eva zusammen. Du bist des Propheten nicht wert; du bist eine Schande für ihn und weißt es noch nicht einmal. Dich als Hexe zu verbrennen wäre noch ein zu menschlicher Tod für dich. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass die Götter Gnade walten lassen für deinen bemitleidenswerten Zwangsehemann, den weisen Propheten, und erkennen, welcher Fehler du bist.“
Magdalena, die Organistin, regte sich nicht.
„Es geht so weiter, der Ton ist in allen Briefen derselbe“, sagte Franziska.
„Das ist ja furchtbar!“, bemerkte Isabell, die Bibiothekarin.
„In der Tat“, fügte Kurt, der Lehrer hinzu. „Wann hast du diese Briefe denn bekommen?“
„Über die letzten Monate verteilt habe ich immer wieder welche vor meiner Türe gefunden. Ich habe sie als kindischen Schwachsinn abgetan – bis sie sich gehäuft haben. Es sind immer mehr geworden, immer schlimmer, immer häufiger. Ich-“ Sie brach ab und sah nach unten; wusste, dass ihre langen Haare ihr leichtes Lächeln verstecken würden.
Der Vorstand schwieg eine Weile, während Kurt, der Lehrer, auch die anderen Blätter überflog. Dann sagte er: „Das ist furchtbar, keine Frage, absolut inakzeptabel, infantil und in jeder Hinsicht inhuman. Skandalös, sozusagen. Aber das lässt sich klären – es muss sich klären lassen. Wir sind eine Gemeinschaft und du bist ein Teil davon. Wir werden uns darauf fokussieren, darüber reden, Verantwortliche finden, Konsequenzen ziehen. Aber leider, meine liebe Franziska, sehe ich nur deswegen keinen Grund, dich gehen zu lassen.“
Franziska ließ ihren Kopf gesenkt, die Kiefermuskeln stark angespannt. Magdalena, die Organistin, verzog für einen winzigen Augenblick, den niemand bemerkte, die Mundwinkel nach oben.
Dann hob Franziska ihren Kopf und sagte mit gefasster Stimme: „Ich verstehe das. Aber zu allem Überfluss sieht Paul, der Prophet, dass an der Oberfläche Dinge passieren werden, die uns als Gemeinschaft existenziell verändern werden. Dinge, die mich mindestens genauso wie euch betreffen wie uns alle.“
Magdalena, die Organistin, sah sie mit verengten Augen an, dann wandte sie sich zum ersten Mal zu Paul, ihre Miene klarte auf und sie fragte: „Was hast du gesehen, Prophet?“
Paul, der Prophet, rieb sich, wie schon in die letzten zehn Minuten, mit den Handflächen über die Knie; kleine Bewegungen, aber eindeutig da; Kreise, hochrechtsrunterlinks, hochrechtsrunterlinks, wieder und wieder, mit hypnotischer Langsamkeit und beeindruckender Ausdauer. Sein jungenhaftes Gesicht war ausdruckslos. Schließlich antwortete er mit fester und klarer Stimme, tief und leicht rau; mit dieser Stimme, die so gar nicht zu ihm passen wollte: „Sie wird ihre Bestimmung finden – eine Bestimmung, die Großes in sich birgt. Die Götter glauben an sie.“
Der Blick von Magdalena, der Organistin, verklärte sich etwas und sie legte verträumt den Kopf schief, während sie Paul, den Propheten, keine Sekunde aus den Augen ließ.
„Die Götter haben zu dir gesprochen?“, fragte Kurt, der Lehrer, so behutsam als könne seine Frage unbeabsichtigt etwas Zerbrechliches zerdrücken.
„Ich weiß es nicht genau, es ist schwer zu sagen. Es sind Bruchstücke, Bilderfetzen, klarer als Träume, aber unklarer als Erinnerungen.“ Magdalena, die Organistin, nickte begeistert und Paul, der Prophet, fuhr fort: „Dadurch sind sie eindeutig als Eingebungen zu erkennen. Trotzdem kann ich euch leider noch nicht genau sagen, was passieren wird – ich wünschte, ich könnte –, aber die göttlichen Fragmente sind grundsätzlich schwierig zu deuten. Aber sie versprechen viel.“ Gekonnt ließ er einige Sekunden verstreichen. „Allerdings ist es möglich, dass wir Franziska nicht nur die Ausnahme gewähren müssen, gehen zu dürfen – die göttlichen Fragmente legen nahe, dass sie wiederkehren wird.“
Die Augen von Magdalena, der Organistin, verengten sich. Als Kurt, der Lehrer, etwas sagen wollte, hob Paul, der Prophet, beschwichtigend die Hand und die Runde erstarrte.
„Es wird Sinn haben. Die Götter irren nicht. Ganz ehrlich: Mir kommt es auch mehr als merkwürdig vor. Die Oberfläche ist unrein, und wer die 30 Jahre bis zur Erneuerung nicht verstreichen lässt, ist der Auserwählung nicht würdig. Doch aus irgendeinem Grund scheint Franziska eine Ausnahme zu dieser Regel zu sein. Warum, weiß ich nicht. Doch wir müssen den Göttern vertrauen! Ich hatte seit Monaten nicht mehr so klare, so starke, so intensive Eingebungen, und diese Eingebungen zu ignorieren oder gar anzuzweifeln wäre reine Blasphemie. Ich bitte euch: Tut das Richtige.“
Die krause Stirn von Kurt, dem Lehrer, war einem Blick gewichen, der an jemanden erinnerte, der vollkommen versunken ein Buch las. Als Paul, der Prophet, seinen kleinen Vortrag beendet hatte, ergriff Magdalena, die Organistin, als Erste das Wort. „Sie soll gehen“, sagte sie mit emotionsloser Stimme. „Ich weiß nicht, inwiefern eine simple, junge Frau so wichtig für uns sein soll, aber wer bin ich, die Worte des Propheten und die Weisheit der Götter anzuzweifeln? Sie soll gehen.“
Kurt, der Lehrer, ein wenig erleichtert, schloss sich an: „Wenn es für die Gemeinschaft von einer solchen Wichtigkeit ist, dass sie das verborgene Dorf verlässt, dann hat sie auch meine Erlaubnis. Du darfst gehen, Franziska. Aber gib auf dich Acht!“
Isabell, die Bibliothekarin, fügte nur hinzu: „Das sehe ich genauso.“
„Damit sind wir wohl zu einer einstimmigen Entscheidung gelangt, nicht wahr?“, fragte Kurt, der Lehrer, in die Runde. Alle nickten, Franziska führte die Handflächen vor der Brust zusammen und verneigte sich andeutungsweise, Paul, der Prophet, lächelte leise.
„Dann sollst du gehen, junge Franziska, noch heute. Vergiss nicht, welches Privileg es allein ist, ein Teil der Gemeinschaft zu sein, geschweige denn, eine solche Ausnahme genießen zu dürfen. Ich hoffe, du bist es wert.“