„Der Junge ist tot.“
David hielt in der Arbeit inne und atmete schwer aus. „Und das sagst du mir jetzt erst.“ Es klang eher wie eine Feststellung als wie eine Frage oder ein Vorwurf.
„Tut mir leid.“
„Muss es nicht.“
Einige Minuten Stille.
„Hat dich das nicht belastet?“
Jonathan rieb sich über den frisch rasierten Kopf. „Nicht wirklich.“
„Tu doch nicht immer so unbeteiligt!“ Jetzt klang David wütend. „Ich bin mir sicher, dass dich das zerfrisst!“
„Es ist doch nicht meine Schuld!“
„Hab’ ich das gesagt? Hab’ ich irgendwas von Schuld gesagt?“
Kurze Stille.
Dann Jonathan, leise und monoton: „Sie haben ihn kämpfen lassen, hat Franziska gesagt. Als eine Art Ritual, vielleicht auch bloß Unterhaltung. Er hatte eine reelle Chance, hat Franziska gesagt. Aber er war wie versteinert, konnte sich nicht bewegen, hat sie gesagt. Wollte sich nicht bewegen.“
„Hat einer von ihnen ihn getötet?“
„Nicht wirklich.“
„Was soll das denn heißen?“
„Wenn ich es richtig verstanden habe, lebt bei ihnen ein alter Mann-“
„Oh, toll! Sie halten sich mehr als einen Sklaven! Das macht die Sache ja gleich besser.“
„Das war jetzt zynisch.“
„Ja, das war es.“
Kurze Stille.
Dann fragte David mit krauser Stirn: „Warum machen sie das? Warum lassen sie ihre Gefangenen gegeneinander kämpfen? Warum tötet ein alter Mann einen Jungen? Fast noch ein Kind.“ Der letzte Satz war so leise, dass er kaum hörbar war.
„Ich weiß es nicht.“
Wieder Stille.
Dann fuhr Jonathan fort: „Der alte Mann hat das nicht zum ersten Mal gemacht, meinte Franziska.“
David reagierte nicht.
„Sie sagte, immer, wenn sie Neue finden, lassen sie ihn-“ Er brach ab.
David reagierte nicht.
„Sie sagte, er kämpft um seine Freiheit.“
David reagierte nicht.
„Sie sagte, wenn er überlebt, darf er-“
„Es reicht.“ Davids Stimme war tief, schwer.
Einige Minuten sagten beide nichts. Sie standen nur da. Warme Spätfrühlingsluft ließ ihre offenen Hemden wehen und wusch für einen Moment lang den Schweißgeruch aus dem Stoff. Im Norden konnte man über den Baumwipfeln schwach die Spitzdächer von Kloster Kamp erkennen. Es duftete nach feuchter Erde und Brennnesseln.
„Wirst du den Kontakt zu ihr abbrechen?“
Jonathan zögerte. „Ich bin mir nicht sicher.“
Wieder nur leichter Wind.
„Wenn der Junge nicht der Erste war, den der Alte getötet hat: Wann ist er frei?“, fragte David.
Jonathan antwortete nicht, starrte nur auf die Aussaat auf dem Boden. Dann sagte er: „Franziska meinte, sie kannte den Jungen.“
David sah ihn aufmerksam und unbewegt an.
„Sie meinte, sie war sich erst nicht sicher. Dachte, sie würde sich irren. Nach allem, was passiert ist, spielt einem das Hirn ja gern ab und an Streiche.“
„Verteidige sie nicht.“
Unbeirrt fuhr Jonathan fort: „Sie meinte, er sei mit ihr zur Schule gegangen. Einige Stufen unter ihr. Er war wohl besessen von ihr. Erst nur in der Schule. Dann ist er ihr nach Hause gefolgt. Immer wieder. Hat ihr Geschenke auf der Türmatte gelassen. Ihr Briefe geschrieben. Sie andauernd beobachtet. Irgendwann hat das wohl Überhand genommen. Sie hat eine Klage eingereicht. Oder eine Verfügung erwirkt, irgendetwas in die Richtung. Er hat ihr Angst gemacht.“
„Verteidige sie nicht.“
„Sie klang aufgelöst. Ich glaube, sie hat geweint. Sie war sehr leise, hat kaum gesprochen. So ist sie sonst nicht.“
„Sehr merkwürdig, wenn sie dabei zugesehen hat, wie ein Junge umgebracht wurde.“
„Du bist wieder zynisch.“
David reagierte nicht.
„Sie haben ihm wohl später noch eine Waffe gegeben. Einen Dolch. Doch Franziska sagte, er stand nur da und hat sie angelächelt. Ist immer wieder aufgestanden, wenn der Andere für kurze Zeit von ihm abgelassen hat. Und hat gelächelt. Die ganze Zeit. Sogar den Anderen aus der Gemeinschaft hat das Angst gemacht. Trotzdem haben sie ihm eine Waffe gegeben. Er hätte ein echte Chance gehabt.“
„Verteidige sie nicht.“
„Ich verteidige sie nicht. Nicht wirklich.“
David steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Wie ist er gestorben?“
„Totgetreten.“
„Trotz Dolch.“ Davids Stimme war tonlos.
„Er hat immer wieder mit dem Fersenabsatz seines Stiefels auf die Stirn des Jungen eingetreten, bis er nicht mehr gezuckt hat, hat Franziska gesagt.“
Beide schwiegen.
Dann sagte Jonathan: „Sie sagte, es hat sie erleichtert, ihn tot da liegen zu sehen.“
„Trotzdem hat sie geweint.“
„Trotzdem hat sie geweint.“
Wieder vergingen wortlose Sekunden. Dann, als wolle er sich aus einer ungewollten Umarmung winden, setzte David sich auf den Boden und ließ die Aussaat zwischen seinen Handflächen hin und her rieseln. Weil Jonathan nicht genau wusste, was er tun sollte, tat er es ihm nach.
Sehr entschlossen und fest, aber nicht befehlend, sagte David schließlich: „Ich will, dass du nicht mehr mit ihr redest.“
Jonathan saß unbewegt da. Dann nickte er schwach. Einige Minuten lang sagten beide nichts.
„Wie hieß der Junge?“
Jonathan antwortete: „Samuel.“