Ihr kleines System


Sie hatte sich eine Menge vorgenommen: Wieder aufstehen, Dexter besuchen, zeichnen, neue Orte finden, nach Aas suchen gehen – getan hatte sie bisher allerdings nichts davon. Das Vornehmen war das neue Machen geworden. Aber wenn das der Fall war, was war dann das Machen? War das dann Vornehmen oder etwas ganz anderes? Um solche Komplexe drehten sich ihre Gedanken und das meist auch nicht lang. Sie wurde müde von zu viel Nachdenken.

Als sie sich gestern einmal aus dem Bett zwingen konnte, um diese aufwendigen, lebenserhaltenden Maßnahmen zu verrichten, die Menschen eben so tun, fiel ihr auf, dass ihre Vorräte knapp geworden waren. Gefährlich knapp. Sie würde bald wieder vor die Türe müssen. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Später. Später war das neue Jetzt. Und so wurde das Später, ganz ungewollt, zu einer immer größeren, immer furchteinflößenderen To-Do-Liste. Aber auch darüber wollte sie gerade nicht nachdenken. 

Sie hatte gepinkelt, sich Wasser in Flaschen gefüllt und noch ein Stück staubtrockenes, holzhartes Brot gefunden, das sie mit sich ins Bett nahm. Sie ließ alles und sich selbst mit großem Enthusiasmus in das Bettzeug fallen, das mittlerweile wohl ähnlich schlecht roch wie sie selbst. Beurteilen konnte sie das allerdings nicht, ihr Eigengestank war irgendwann einfach verschwunden. 

Immer wieder, wenn die leichte Unruhe in ihr aufstieg, die sie die letzten Stunden bereits vereinzelt gespürt hatte, nagte sie an dem Block Brot herum. Die Krümel sprangen nur so von ihren Zähnen. Sie hatte weder Hunger noch schmeckte das Brot sonderlich gut. Sie wollte bloß essen. Irgendetwas zu tun haben. 

Sie starrte stumpf auf das Bild, das sie endlich fertig bekommen wollte; auf das Bild des schießenden Mannes, das ihr so gut gelungen war; auf den blauen Spätfrühlingshimmel, der sich nie, einfach nie zu verändern schien, sondern höchstens ab und zu hinter Wolken versteckte.

Sie betrachtete sich kurz selbst, ihre dreckigen Fingernägel, haarigen Beine und die gelblichen Füße, die sich so klebrig anfühlten. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl für jemanden aussehen musste, der sie nicht kannte, wie sie hier so lag; wie wohl eine Zeitrafferaufnahme von ihr wirken würden. Viel passierte da mit Sicherheit nicht, man könnte vermutlich oft denken, sei sei tot.

Sie dachte daran, wie Dexter im Laufe des Tages so oft aus seinen Gängen gekrochen war, um sich am Futternapf die Backen vollzustopfen, nur um wieder dorthin zu verschwinden, wo er hergekommen war. Es hatte einige Stunden gedauert, bis man ihn dann wieder zu Gesicht bekommen konnte. Offensichtlich war er zufrieden gewesen, zwischen Essen und Nistmaterial seine Tage zu verbringen.

Sie seufzte. Er fehlte ihr. Aber das war ja nichts Neues. Dann, einfach so, stand sie auf. Sie atmete einmal tief aus und ein und streckte sich, als sei sie aus einem langen Schlaf erwacht. Sie fühlte sich zwar nicht erfrischt, eher steif und alt, aber das war egal.

Sie hatte lang genug herumgelegen und nur das Nötigste getan, ihre gesamte Kraft nur für Schlafen aufgewendet. Ihr kleines System hatte seine Zeit gehabt und diese Zeit war jetzt vorbei. 

Ein wenig angewidert von sich selbst zog sie sich aus, war kurz überwältigt davon, wo ihr überall Haare sprossen, wenn sie sie nicht ständig stutzte und ging ins Bad, um zu duschen. Sie ließ sich Zeit, denn obwohl das Wasser so eiskalt war, empfand sie es bloß als erfrischend. Sie rasierte sich und wusch sich, vor allem ihre Haare, die ihr die letzten Tage mit ekelhafter Ausdauer an Nacken und Rücken geklebt hatten. 

Als sie sich mit einem Handtuch, das sie aus einer Nachbarwohnung mitgenommen hatte, abtrocknete, fühlte sie sich auf einmal wieder jung. Es war an der Zeit, wieder weiterzumachen. Sie würde etwas ändern.

Nackt – es war doch sowieso egal, obwohl sie noch ein wenig fror – ging sie zurück ins Schlafzimmer, griff in einer flüssigen Bewegung nach dem unfertigen Kugelschreiber-Bild und setzte sich zum ersten Mal seit Tagen ins Arbeitszimmer.

Sie gab sich Mühe, nicht zu lang in Dexters leeren Käfig zu starren, dann begann sie zu zeichnen.