2. Paul


Der Wanderer

1 Die Prophetin erzählt davon, wie sie einen Mann traf, als sie über die Oberfläche ging; einen Wanderer. 

2 Er geht und er sieht, er ist selbstlos vor den Göttern. Er ist nicht gut, nicht schlecht – er ist bloß. 

3 In den Jahren der Erneuerung ging er an der Oberfläche, doch sein Körper und Geist blieben rein.

4 „Er ist bescheiden. Er spricht nicht außer zu sich selbst. Sein Geist ist fernab von der Welt.“ So sagt die Prophetin. Er ist ein Eremit, die Einsamkeit seine Gesellschaft.

5 „Er fürchtet sich nicht. Kein Unheil, kein Schmerz. Nicht Hunger und Durst, nicht die Einsamkeit. Die Leere ist sein. Er erfüllt sie. Er strebt nichts an. Er hat keinen Zweck, kein Ziel. Er ist bloß.“ 

6 So soll es geschrieben stehen im Buch der Neuen Welt. So sagt die Prophetin.


Die Prophetin sieht das Wesen des Wanderers

7 Die Prophetin erzählt davon, wie er eines Tages eine Leiche fand, verfault und weich, umgeben von Fliegen und Gestank. Doch anstatt sich angewidert abzuwenden, wie es die meisten getan hätten, hielt er inne und betrachtete sie. 

8 Er untersuchte sie mit bloßen Händen. Behutsam war er und respektvoll, als suche er etwas am Körper eines Vertrauten. 

9 Dem Kopf des Toten ließ er besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Mit großer Geduld untersuchte er die Augen der Leiche, die Nase, den Mund und strich durch ihre Haare.

10 Die Prophetin erkannte: Er unterschied nicht zwischen den Lebenden und Toten. Für ihn war alles eins.

11 Und die Prophetin erkannte: Wie er nicht unterschied zwischen Leben und Tod, Vernichtung und Leben, so durfte auch sie nicht unterscheiden. 

12 Die Prophetin sah das Wesen des Wanderers. Er war nicht gut, nicht schlecht. Er war reine Existenz.


Der Wanderer spricht zur Prophetin

13 Er, der sonst zu niemandem sprach, sprach zur Prophetin.

14 „Die Toten haben sich erhoben! Sie wollen mein Leben!“, rief er in Angst und richtete seine Waffe auf die Prophetin.

16 Doch die unerschrockene Prophetin wich nicht zurück. „Den Göttern sei Dank bin ich ein Mensch, Wanderer!“, antwortete sie. „Dein Leben will ich nicht, habe keine Angst.“

17 Der Wanderer ließ die Waffe sinken und er sagte: „Unzählige Monate bin ich gegangen, unzählige Monate habe ich mit niemandem gesprochen. Meine eigene Stimme erschreckt mich. 

18 Bei den Göttern, du bist ein Mensch! Welch wundervoller Anblick!“

19 Und er schloss sie herzlich in die Arme.

20 „Wer bist du, Wanderer?“

21 „Ich habe keinen Zweck, kein Ziel. Ich gehe und ich sehe“, antwortete der Wanderer. „Doch woher kommst du? Wo hast du dich versteckt gehalten, Mitmensch?“, fragte er die Prophetin.

22 „Es gibt noch mehr von uns, Wanderer! Mehr, die die große Vernichtung unbeschadet überlebt haben. Dreißig Jahre der Erneuerung werden wir uns im verborgenen Dorf versteckt halten, bevor die Erde wieder rein ist.

23 Komme mit mir! Wir werden dich aufnehmen, du bist einer von uns!“

24 Doch der Wanderer antwortete nicht.


Der Wanderer findet seinen Zweck

25 Es war Stille. 

26 Schließlich antwortete er: „Die Menschen waren verdorben. Sie haben den Tod über sich selbst gebracht. Der Untergang der menschlichen Rasse ist gerecht.

27 Doch der Untergang ist nicht endgültig. Er ist gleichgültig.“

28 Er hielt inne, blickte der Prophetin direkt in die Augen und verstand: „Deine Existenz gibt mir neue Hoffnung, Mitmensch.

29 Es hat einen Zweck, dass wir die große Vernichtung überlebt haben. Ich habe es immer geglaubt, nicht einen Moment daran gezweifelt.

30 Wir sind die Neue Welt. Die menschliche Rasse wird erstarkt aus uns erwachsen.“


Die Prophetin und der Wanderer erkennen einander

31 Und er erkannte die Prophetin, wie sie ihn zuvor erkannt hatte.

32 „Doch ich muss weiter“, sagte er. „Ich muss gehen. Allein.“

33 Zuvor sah er jedoch, dass die Prophetin schwanger war.

34 Und er sagte: „Deine Kinder sind die Saat der Neuen Welt. Verehre sie als Geschenk und lehre ihnen, was wir heute verstanden haben. So wird die menschliche Rasse zu vollkommener Größe gelangen.“

35 Als die Sonne des nächsten Tages die graue Erde berührte, war er bereits aufgebrochen.


Die Rückkehr der Prophetin

36 Die Prophetin blieb zurück, um von ihm zu erzählen.

37 Sie fand ihren Weg zurück ins verborgene Dorf, durch die Einsamkeit der Oberfläche, ihr Körper und Geist gereinigt.

38 Die Gelehrten sahen mit Erstaunen und Freude, wie sie sich gewandelt hatte. Aus der Verlorenen war eine Frau geworden, die die Gemeinschaft leiten sollte.

39 „Was bringst du uns, Prophetin?“, fragten sie. „Teile deine Weisheit mit uns.“

40 Und die Prophetin berichtete vom Wanderer, von der Kraft seiner bloßen Existenz und ihrer Erfahrung des reinen Weltwesens, und die Gemeinschaft jubelte und pries sie und pries die Götter.


Die Nachkommen, Saat der Neuen Welt

41 Dann sagte die Prophetin: „Die Nachkommen werden uns heilig sein, denn sie und die Kinder ihrer Kinder sind die Saat der Neuen Welt.

42 Durch sie wird die menschliche Rasse zu vollkommener Größe gelangen. So soll es geschrieben stehen im Buch der Neuen Welt.“

43 Und so steht es geschrieben im Buch der Neuen Welt.

44 Selig sind die, die lesen und hören die Worte der Weissagung und die sie verinnerlichen; denn die Zeit ist nah.