Klarheit


„Ganz ehrlich: Ich habe darüber nachgedacht, hier neben euch noch ein Grab zu buddeln, mich reinzulegen und zu erschießen. Oder mir eine Überdosis Morphium zu spritzen, eigentlich egal. Eine Zeit lang wirkte das sogar wie eine sehr gute Idee – auch, wenn ich ehrlich gesagt nicht weiß, warum irgendetwas in mir danach zu streben scheint, noch als Skelett so nah bei euch zu sein, wo ich doch früher kaum genug Abstand von euch haben konnte.

Ich schätze, das alles hat uns verändert. Jaja, Mama, Laura hatte kaum mehr die Chance, das alles mitzubekommen und das tut mir auch Leid. Aber es hat uns verändert, so ist das nun mal. 

Ich glaube, was mir klar geworden ist, ist fast schockierend einfach; ich komme mir wirklich dämlich dabei vor, dass mir das nicht früher aufgefallen ist – aber ihr wisst ja manchmal, wie das ist, mit Betriebsblindheit und direkt vor der Nase und so. Ich glaube, was mir am meisten gefehlt hat, waren Gespräche. 

Wir haben uns nie unterhalten! Alle Familien unterhalten sich! Selbst die Familie von Lauras komischem, nierenkrank aussehendem Freund unterhält sich. Aber nein, wir nicht. ,Ruhe, wir essen‘, hast du immer gesagt, Papa. Vermutlich hast du es nur gut gemeint. Vermutlich hast du eine Menge nur gut gemeint. Aber durch so etwas hast du dafür gesorgt, dass ich erst Angst davor hatte, zu sprechen, und dann habe ich mich daran gewöhnt. Ich weiß nicht einmal, wie es Laura mit alldem ging, ob sie ähnliche Probleme hatte oder vielleicht gar keine – wir haben ja nicht darüber gesprochen!

Und du, Mama, du hättest auch einfach mal etwas sagen können! Ich weiß, dass deine Depression dein Leben zu einer einzigen, großen Schwierigkeit gemacht hat, aber das heißt nicht, dass du so abwesend sein darfst, dass wir das Gefühl haben, nicht zu existieren. Dass ich das Gefühl hatte, nicht zu existieren. Wie gesagt: Keine Ahnung, wie das bei Laura war!

Wo ich gerade dabei bin, liebes Schwesterlein: Sollten Geschwister nicht zusammenhalten? Ich weiß noch, wie du mir keine drei Schritte von der Seite gewichen bist, wie kleine Geschwister das eben so tun – da wirst du ungefähr fünf gewesen sein – und wie wir gelacht und gespielt haben, mit dem Feuerholz im Garten, bis Papa uns die Holzblöcke wortlos weggenommen hat und davongestapft ist. Ertappt waren wir immer, haben verlegen getan und dann gelacht, als er weg war. 

Was ist denn daraus geworden? Irgendwann hast du angefangen, genauso passiv wie Mutter zu werden. Ich denke immer noch, dass du das getan hast, um dich auf ihre Seite zu stellen, aus Empathie, Sympathie, was weiß ich denn, ich bin doch kein Psychologe.

Wenn Dinge anders gelaufen wären, hätten wir vielleicht dafür sorgen können, dass wir uns alle wieder zusammenraufen. Uns wieder riechen können, vielleicht sogar Spaß haben. Wir hätten doch nur reden müssen. Aber nein: Alles war voll von untergründigen Konflikten, die einfach weggesperrt wurden wie ein aufmüpfiger Köter, der nie aufhören wollte zu bellen. Wir hätten doch wirklich einfach nur reden müssen.

Klarheit, das hat uns gefehlt.“

Und er erinnerte sich.

Nachdem er seinen Vater in der Küche gefunden hatte, war er, um ganz ehrlich zu sein, etwas fassungslos gewesen. Das war selbst für ihn, den routinierten Chirurgen, etwas viel Tod in etwas kurzer Zeit. 

Was ihn fast noch wahnsinniger machte: Woran bitte war sein Vater gestorben? Er hatte sich noch vor drei, vier Monaten die letzten Untersuchungsergebnisse angesehen und sie waren genauso gewesen, wie die Untersuchungsergebnisse eines 67-jährigen mit Bluthochdruck, zu viel Teer in den Lungen und zu viel Gewicht auf den Rippen eben sind.

Da er schon immer versucht hatte, Antworten zu finden auf unbequeme Fragen, machte er sich also daran, auch auf diese unbequeme Frage eine Antwort zu finden. Bei seine Schwester und seiner Mutter waren die Todesursachen klar gewesen – aber sein Vater, dieses unkaputtbare Ungeheuer mit der elefantendicken Haut und dem haarigen Rücken? Was hatte ihn nur umgebracht?

Das, was Mark brauchte, war schnell aufgetrieben: Die Garage war voll mit Werkzeugen, mit Kreissägen, die ohne Strom leider sinnlos waren, aber wenigstens auch mit Handsägen, Zangen und Brecheisen. Skalpelle hatte er noch, er hatte einige aus der Apotheke mitgenommen, nicht die besten, aber immerhin. Saubere Schnitte waren mittlerweile wohl wirklich nicht mehr das, was zählte – obwohl er seinen Chirurgenstolz, so klare und schöne Arbeit wie möglich zu liefern, herunterschlucken musste.

Er entschloss sich, seinen Vater in der Garage aufzuschneiden, denn erstens brauchte er den Raum sowieso nicht mehr und zweitens war in der Mitte des asphaltierten Bodens ein Abflussgitter eingelassen.

Schnell begann er mit der äußeren Untersuchung – etwas flüchtig, weil er sowieso schon wusste, dass er dort nichts außergewöhnliches finden würde. Als er den Y-Schnitt am Torso ansetzte (der sich erstaunlich gut mit dem billigen Instrument aus der Apotheke ausführen ließ), wurde er kurz nervös. Es war verdammt lang her, dass er eine Leiche geöffnet hatte; im dritten Semester des Studiums, um genau zu sein. Bisher war er darum auch eigentlich recht froh gewesen. Wenn jemand auf seinem Operationstisch gestorben war, war es der Job der Pathologen, sich um alles weitere zu kümmern. Er fand jeden Schritt nach dem Sterben überflüssig und hatte sich danach wieder lieber lebenden Patienten gewidmet. Doch dann sah er ein, dass seine Nervosität sinnlos war: Niemand würde seine Arbeit evaluieren, außer er selbst natürlich – und mit diesem harten Kritiker hatte er schon einige Erfahrung gemacht. Also schnitt er. Er fühlte sich sehr grob dabei, nicht minimalinvasiv zu arbeiten.

Die Organe im Bauch- und Brustraum sahen allesamt normal aus, das viszerale Fett war ja zu erwarten gewesen. Trotzdem musste er feststellen, dass die Untersuchungsergebnisse, die er vor kurzem gesehen hatte, etwas optimistisch gewesen waren, denn die ACD des Herzens wies deutliche gelb-weiße Ablagerungen auf, die auf den MRT-Aufnahmen nicht in diesem Ausmaß sichtbar gewesen waren. Trotzdem: Das war nicht die Todesursache, maximal ein minimal lebensverkürzender Fund.

Mit leichter Ungeduld machte er sich am Kopf zu schaffen. Es überraschte ihn, wie viel manuelle Kraft es benötigte, mit einer schlichten Handsäge das Os frontale zu durchdringen. Als schließlich das Cerebrum freilag, hielt er kurz inne. Die graue Masse war nie sein bester Freund gewesen, er fand sie ein wenig unübersichtlich. Das verlangte nach mehr Feinmotorik, ein starker Kontrast zur körperlichen Anstrengung, die noch immer in seinen Armen nachhallte. Mit einem neuen Skalpell suchte er nun in diesem komplexen Organ nach Antworten. Dann, nach einigen Minuten, fiel ihm eine kaum erkennbare Flüssigkeitsansammlung auf, nicht größer als der Nagel eines kleinen Fingers. Eine winzige Arteriosklerose, Ruptur, Tod durch ICB.

Ein simpler Schlaganfall, wie im Lehrbuch. Darauf hätte er eigentlich auch direkt kommen können. Es war sein Toptipp gewesen, aber ohne Untersuchung waren doch alles nur Mutmaßungen. Mit routiniert ruhiger Hand nähte er schlussendlich zu, was sich zunähen ließ.

„Weißt du, man könnte fast glauben, dass du es mir absichtlich so schwer gemacht hast. Anstelle zu sagen ,Oh, mein Kopf!‘, dann umzufallen und mir wenigstens eine Chance zu lassen, dich zu retten oder zu ahnen, was los ist, musste ich alles selbst rausfinden. Wie immer. Typisch.

Dich zum Friedhof zu bringen war auch nicht das leichteste übrigens, du bist wirklich ein ganz schöner Brecher gewesen, Papa. Entschuldige, wenn das jetzt hart klingt, aber: Kein Wunder, dass du voll warst mit Fett. Irgendwohin muss sich das ganze Gewicht ja verteilen, ganz laienhaft gesprochen. 

Ich hatte kurz überlegt, ob ich dich einfach im Garten liegen lassen soll. Kam mir dann aber doch sehr lieblos vor, zumal Mama schon früher so oft vom Waldfriedhof geschwärmt hat und dir eigentlich egal war, wo du begraben wirst, solang es in ihrer Nähe ist. Und da Laura auch dort liegt- 

Immerhin habe ich ja selbst gesagt, dass es einfacher wäre, alles so nah wie möglich beieinander zu halten. 

Trotzdem war es verdammt schwer, dich in den Kofferraum zu bekommen – und davon, ein Grab auszuheben, will ich gar nicht erst anfangen. Meine Hände und Schultern tun jetzt noch weh. Aber ich will nicht jammern, immerhin bist du jetzt da, wo du hinwolltest, und ihr seid zusammen. Schlussendlich.

Ein bisschen neidisch bin ich schon. Ihr könnt euch jetzt eine Ewigkeit anschweigen. Mir fehlt jemand, den ich anschweigen kann. Ich weiß nicht, ob es noch irgendwo andere Menschen gibt, aber ehrlich gesagt habe ich keine Lust, nach ihnen zu suchen. Ich bin immer noch wütend auf meine Kollegen, die einfach so abgehauen sind, und irgendwie ist mir das Haus ans Herz gewachsen. Ich glaube, ich habe immer schon gern dort gewohnt.“

Er stand auf und klopfte sich Erde von den Knien. „Egal. Bis morgen.“

Er ging nicht sofort, sondern stand noch ein wenig da und sah auf das etwas abgesackte Grab. Er würde demnächst noch einmal Erde nachlegen müssen. Vielleicht ließ sich danach ja etwas pflanzen wie auf den anderen Grabstätten hier. Sein Blick schweifte über die dicht bewachsene, tiefgrüne Fläche, über die ein schmaler Weg an anonymen Urnengräbern vorbeiführte, die durch kleine Steinkreuze auf einer Wiese markiert waren. Die Schatten der Bäume zeichneten graue Tupfer auf die Pflanzen unter ihnen. Heute schien die Sonne. Es wurde Sommer.

Gerade, als er sich zum Gehen wenden wollte, sah er eine Gestalt in etwa drei oder vier Metern Entfernung, die eindeutig auf ihn zukam. Eine andere Trauernde? Er wunderte sich und wurde neugierig. Langsam ging er ihr entgegen. Je näher er ihr kam, umso behutsamer wurden die Bewegungen der Figur. Schnell konnte er sie als Frau identifizierten: Etwas wirre Haare, schulterlang, dunkelbraun, übergroße, etwas zertragene Kleidung, ungefähr 25 Jahre alt, vielleicht älter, mit klugen Augen und einem kritischen, fast besorgten Blick. Sie war ihm sofort sympathisch. Zur Begrüßung hob er die Hand.