Der Engel der Barmherzigkeit
Der Mann schlief jetzt tief und fest, doch Jesse wusste, er würde ihn genau im Auge behalten müssen. Mein Gott, was für eine Szene das gewesen war. In seinen Adern kribbelte noch immer Adrenalin von vorhin, als Bin und er zu der Kabine des Mannes geeilt waren, um ihn ruhigzustellen. Sie hatten ihn zusammengerollt in der Ecke seiner Kabine gefunden, und er hatte jedes Mal geschrien, wenn sich einer von ihnen ihm nähern wollte. Zwei Wachmänner waren nötig gewesen, um ihn auf dem Boden zu halten, bis das Beruhigungsmittel wirkte.
Und nicht nur der Neuankömmling bereitete Jesse Sorgen. Alfonso befand sich nach wie vor an der Grenze zur Katatonie und hatte kaum reagiert, als der hysterische Patient in den Behandlungsraum gebracht worden war. Jesse konnte ihm kein einziges Wort entlocken. Das Brandwundenpflaster würde seinen Zweck erfüllen – Jesse musste es nur frühestens am morgigen Tag wechseln (und hoffentlich befanden sie sich bis dahin nicht mehr in dieser Situation) –, doch Alfonso hatte den Joghurt und die Banane, die Martha ihm gebracht hatte, kaum angerührt, und genauso wenig hatte er von dem Toilettenstuhl Gebrauch gemacht, den sie in dem kleinen Bad aufgestellt hatten. Außer einen Psychologen einzufliegen gab es nicht mehr viel, was Jesse noch tun konnte.
Ein psychotischer Passagier, eine tote junge Frau, das Norovirus und ein Ingenieur, der sich an der Grenze zur Katatonie befand. Was kann noch alles schiefgehen?
Martha kam in den Behandlungsraum und warf ihre Handschuhe in den Abfalleimer. »Wir haben noch eine, Jesse.«
»Noro?«
»Noro.«
»Wie viele sind es jetzt?«
»Insgesamt sechs. Drei Crewmitglieder und drei Passagiere. In diesem Fall mache ich mir Sorgen. Die Patientin ist übergewichtig und Seniorin. Sie ist schwach. Ihre Freundin hat sie im Bad auf dem Fußboden gefunden, nachdem sie zusammengebrochen war.«
»Möchten Sie sie hier runterbringen?«
»Nein. Es ist immer das Beste, wenn wir die Betroffenen in ihren Kabinen unter Quarantäne stellen.«
»Soll ich mal nach ihr sehen?«
»Sie haben schon genug zu tun.« Sie deutete auf den Psychotiker. »Wie geht’s denn Ihrem Mann?«
»Das Midazolam wirkt Gott sei Dank.«
»Wissen wir, was die Ursache ist? Hat er eine psychotische Vorerkrankung?«
»Das wissen wir noch nicht. Der Sicherheitsdienst versucht gerade, seine Frau ausfindig zu machen.«
»Irgendwelche Verletzungen?«
»Ich konnte ihn bislang nur oberflächlich untersuchen. Quetschungen an den Oberschenkeln und Handgelenken, Prellung an der Stirn. Die hat er sich vermutlich bei dem Handgemenge zugezogen. Zwei Wachmänner waren nötig, um ihn in Schach zu halten.«
»Scheiße. Und Bin?«
»Er kümmert sich um die Kabinenstewardess, die der Typ angegriffen hat, bevor wir ihn hierhergebracht haben. Nichts Ernstes, aber sie ist verständlicherweise traumatisiert.«
Martha musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Haben Sie Zeit gehabt, sich auszuruhen?«
»Nein.« Er überlebte mit kaltem Kaffee und unzähligen Dosen Cola, wobei das zittrige Koffein-High die Erschöpfung gerade so unter Kontrolle hielt. »Soll ich dem Kapitän vorschlagen, dass wir in höchste Alarmbereitschaft gehen sollten?« Die Anzahl der Norovirusfälle reichte (noch) nicht aus, um das zu rechtfertigen, doch Vorsicht war besser als Nachsicht, vor allem in Anbetracht des Problems mit dem Antriebssystem. Er hatte am Vortag einen Antrag auf ein Treffen mit dem Kapitän eingereicht, der allerdings bislang ignoriert worden war.
Martha lehnte sich gegen die Bahre. »Das wird obendrein zu allem anderen gut ankommen. Aber ich finde, wir sollten es trotzdem vorschlagen. Zumindest sollten die Passagiere instruiert werden, die Handdesinfizierer zu benutzen.«
Ja, genau, dachte Jesse. Während seiner ganzen Zeit auf dem Schiff hatte er noch nie gesehen, dass jemand sie benutzt hatte. »Wie lange kann das noch dauern?«
»Weiß Gott.«
»Haben Sie noch was gehört?«
»Nein. Die Kommunikationstechnik funktioniert immer noch nicht.«
»Ich bin beunruhigt, was die Leichenaufbewahrung anbelangt. Ohne Strom könnten wir dort ein Problem bekommen.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Sie befindet sich unter der Wasserlinie. Es wird dort schon kühl genug bleiben.«
Fürs Erste.
Es klopfte an der Tür, und ein Mann in weißer Offizierskleidung trat zögerlich ein. Wie der Großteil der Crew auf dem Schiff sah er aus wie der Stereotyp des gut aussehenden Italieners mit seiner adretten weißen Uniform und seinem glatten dunklen Haar: mühelos attraktiv. Die Offiziere sorgten dafür, dass Jesse sich hoffnungslos unzulänglich fühlte. »Entschuldigung? Darf ich Alfonso besuchen?«
»Er schläft. Sie sollten sich nicht hier drin aufhalten.«
»Tut mir leid.« Der Blick des Mannes wanderte zu Alfonso, der mit geschlossenen Augen völlig regungslos dalag. »Ich habe an die äußere Tür geklopft, aber es ist niemand gekommen.«
Jesse tauschte einen Blick mit Martha, die mit einem Schulterzucken reagierte.
Was konnte es schon schaden? Vielleicht würde der Mann Alfonso zum Sprechen bewegen können. »Gehen Sie hin.«
Martha schenkte Jesse ein unterstützendes Lächeln und verließ den Raum.
Der Offizier trat an Alfonsos Bett und ließ einen italienischen Wortschwall los. Jesses Italienisch beschränkte sich im Grunde genommen auf nessun dorma und den einen oder anderen Brocken Slang, den er aufgeschnappt hatte, deshalb hatte er keine Ahnung, was der Mann sagte, doch worum auch immer es sich handelte, es schien keine Wirkung zu zeigen.
Der Offizier – Baci, seinem Namensschild zufolge – drehte sich zu Jesse um. »Warum ist Alfonso nicht wach? Was stimmt nicht mit ihm? Ich sehe den Arm, aber fehlt ihm noch etwas anderes?«
»Er hat die meiste Zeit geschlafen. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die Schmerzmedikamente. Ist er ein guter Freund von Ihnen?«
»Er hat mir geholfen, Arbeit auf dem Schiff zu finden. Wir kommen aus derselben Gegend. Er ist wie ein Vater für mich. Ich mache mir Sorgen. Wir sind darauf angewiesen, dass er seinen Job macht. Er arbeitet seit fünf Jahren im Kontrollraum. Niemand kennt die Motoren und die Generatoren so gut wie Alfonso.«
»Wissen Sie, was das Problem ist?«
Ein übertriebenes Schulterzucken. »Das redundante System hat nicht so funktioniert, wie es sollte. Jetzt laufen auf dem Schiff nur noch die beiden Notstromaggregate. Wir haben keinen Vortrieb.«
»Aber Sie können das doch reparieren, oder?« Jesse sah keinen Grund, warum nicht. Als er auf dem Schiff angefangen hatte, war er herumgeführt worden. Zwar hatte er nicht in die pochenden Tiefen des Maschinenraums hinuntersteigen dürfen, aber er hatte die Werkstätten zu Gesicht bekommen und die prall gefüllten Ersatzteillager.
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich arbeite auf der Brücke. Als dritter Offizier.« Er sagte noch etwas zu Alfonso in etwas schärferem Tonfall, doch der Ingenieur zeigte immer noch keine Reaktion. »Darf ich versuchen, ihn aufzuwecken?«
»Versuchen dürfen Sie es.«
»Alfonso!« Baci rüttelte mit mehr Nachdruck an seiner Schulter, als Jesse gutheißen konnte. Doch dann flatterten Alfonsos Augenlider, und er zuckte zusammen und stieß einen erstickten Schrei aus. Furcht – in seinem Blick lag blanke Furcht.
»Sagen Sie ihm, dass wir ihm nur helfen wollen«, sagte Jesse. »Und fragen Sie ihn, ob er Schmerzen hat.«
Baci sprach in sanfterem Tonfall, und Alfonso schien geradewegs durch ihn hindurchzublicken. Schließlich schien er ihn jedoch zu sehen und seine Umgebung zur Kenntnis zu nehmen. Baci stellte Alfonso eine Frage, und dieser antwortete mit leiser, bebender Stimme. Die beiden unterhielten sich ein paar Minuten lang, wobei Alfonsos Blick ständig im Raum hin und her huschte. Seine Antworten schienen Baci immer mehr in Aufruhr zu versetzen.
»Was sagt er denn?«, fragte Jesse dazwischen.
Baci drehte sich zu ihm um. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.«
»Könnten Sie es wenigstens versuchen?«
»Er behauptet, er hätte den Teufel gesehen.«
»Den was?«
»Er war da, als das Feuer ausgebrochen ist.«
»Der Teufel war im Generatorenraum?«
Ein Schulterzucken. »Sì. Er nennt ihn den ›dunklen Mann‹.«
»Aha. Ähm … ist das normal für ihn?«
»Nein. Er ist ein gläubiger Mensch, aber er ist nicht …« Baci schwenkte die Hand vorm Gesicht.
»Wahnhaft?«
»Sì.«
»Würden Sie ihn bitte fragen, ob er Schmerzen hat?«
»Er spricht Englisch.«
»Ja, aber er spricht nicht mit uns.«
Alfonso sagte noch etwas.
»Er sagt, der dunkle Mann ist jetzt hier bei uns.«
Jesse blickte sich um. »Denken Sie, er meint den anderen Patienten?«
»Ich weiß nicht.«
Alfonso drehte sich abrupt auf die Seite und schloss die Augen. Baci versuchte ein paar Minuten lang, ihm eine Antwort zu entlocken, doch Alfonso blieb stumm.
»Kümmern Sie sich um ihn?«
»Selbstverständlich.«
»Ich komme ihn bald wieder besuchen.« Baci strich sich das Haar mit beiden Händen glatt. »Das ist nicht gut. Ich muss zurück.«
Jesse folgte ihm nach draußen. »Wann bekommen wir endlich ein paar Antworten?«
»Scusi?«
»Wann sind wir wieder online? Ich muss zumindest Unterstützung an Land beantragen.«
»Haben Sie mit dem Kapitän gesprochen?«
»Ich habe versucht, mit dem Kapitän zu sprechen.«
»Er ist sehr beschäftigt.«
Herrgott. »Hören Sie, könnten Sie ihn bitten, dass er sich in einer dringenden Angelegenheit bei mir meldet?«
»Ich tue, was ich kann. Aber ich bin nur der dritte Offizier auf der Brücke, deshalb habe ich nicht viele Befugnisse.«
»Ich muss mich unbedingt mit ihm treffen.«
»Ich tue, was ich kann«, wiederholte Baci.
Jesse war sich darüber im Klaren, dass er dem armen Kerl eine Strafpredigt hielt – Martha, die gerade am Schreibtisch saß und Berichte schrieb, beobachtete ihn interessiert –, doch er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen, außer hinauf zur Brücke zu gehen und an die Tür zu hämmern. »Wissen Sie wenigstens, wo wir uns befinden?«
»Scusi?«
»Wo auf dem Meer. Wir treiben doch ab. Wissen Sie, wo wir uns befinden?«
»Wir können manuell navigieren.«
»Und wir sind vom Kurs abgekommen? Hat uns deshalb niemand gefunden?«
»Wir treiben, aber wir können nachvollziehen, wie schnell und wie weit wir uns bewegen.«
»Und?«
»Ich muss zurück auf die Brücke.«
Jesse ließ ihn gehen.
»Hat er Alfonso dazu gebracht zu sprechen?«, erkundigte sich Martha.
»Ja, ein bisschen was.«
»Und was hat er gesagt?«
»Nur, dass der Teufel auf dem Schiff ist.«
»Das hätte ich ihm auch sagen können. Aber jetzt im Ernst, was hat er denn gesagt?«
»Das war mein Ernst. Er hat gesagt, der Teufel hätte das Feuer gelegt.«
»Meine Güte.«
Er kippte den Bodensatz seiner letzten Koffein-Dröhnung hinunter und gab sich Mühe, nicht an das köstliche Fluchtventil zu denken, das sich hinter der Tür des Medikamentenschranks verbarg. Er sah bestimmt schrecklich aus. Er musste sich rasieren. Er musste sich duschen. Seine weiße Bekleidung war verknittert und schmutzig und mit dem am gestrigen Abend hastig verzehrten kalten Curry verkleckert.
Er kehrte in den Behandlungsraum zurück. Alfonsos Augen waren wieder geschlossen, seine Atmung war langsam und gleichmäßig. Der Psychotiker schlief nach wie vor tief und fest. Jesse warf einen Blick auf das leere dritte Bett. Es wirkte einladend. Er hätte sich darauf zusammenrollen können, und wenn er wieder aufwachte, wären sie womöglich in Miami und all das wäre vorbei. Er machte die Augen fest zu und sah Sterne hinter seinen Lidern explodieren und tanzen.
Vom Empfangsbereich schwebten laute Stimmen durch die Tür, und Sekunden später streckte Martha den Kopf herein. »Gary Johanssons Frau ist hier. Sie möchte ihn sehen.«
»Wessen Frau?«
»Von ihrem Mann da.«
Ein schrilles Heulen durchdrang den Raum. »Wo ist er? Ich will ihn sehen!« Eine Frau mit kurzem dunklen Haar, noch kürzeren Shorts und schlechten Manieren kam in den Raum gestürmt.
»Ma’am«, sagte Martha zu ihr. »Ich habe Sie doch gebeten, draußen zu warten.«
»Wo ist er?« Ein müde wirkender Wachmann stand hinter ihr. Es handelte sich nicht um einen der beiden, denen Jesse begegnet war, als er in die Kabine der jungen Frau gerufen worden war. Dieser Wachmann – Pran – war jung und trug einen spärlichen Oberlippenbart.
Die Frau erspähte ihren Ehemann. »Gary!« Sie watschelte in ihren Flip-Flops zu ihm ans Bett, dann drehte sie sich um und starrte Jesse wütend an. »Wozu ist die Infusion?«
»Wir mussten ihn ruhigstellen, Ma’am.«
»Ruhigstellen? Warum?«
»Er war aufgebracht.«
»Eine Stewardess hat gesagt, er hätte sie angegriffen«, erklärte der Wachmann – unklugerweise.
»Häh? Sie angegriffen? Sie lügt. So was würde Gary niemals tun. Er ist ein Lamm.«
»Bitte beruhigen Sie sich«, forderte Martha sie auf. »Wir haben hier noch einen Patienten, und wir wollen doch niemanden belästigen, oder?« Sie lächelte die Frau an, die sich daraufhin etwas zu beruhigen schien.
»Gary? Gary, kannst du mich hören?«
»Er wird noch eine Weile außer Gefecht sein«, sagte Jesse.
»Was fehlt ihm denn?«
»Wir sind uns nicht sicher. Hatte er in der Vergangenheit schon mal Probleme mit mentaler Instabilität?«
»Nein! Was wollen Sie denn damit sagen?«
»Ich versuche nur, mir ein besseres Bild zu machen, womit wir es hier zu tun haben.«
»Er hat bestimmt niemanden angegriffen. Niemals.«
»Ist er gegen irgendwas allergisch?«
»Was?«
»Hat er irgendwelche Allergien, über die wir Bescheid wissen sollten?«
»Nein. Nein, hat er nicht. O Moment, er mag keinen Käse.«
Es war Martha hoch anzurechen, dass es ihr gelang, ein Lächeln zu unterdrücken.
Die Frau warf Jesse einen wütenden Blick zu. »Sind denn keine amerikanischen Ärzte an Bord?«
»Dr. Zimri ist überaus kompetent«, sagte Martha.
Die Frau wirkte nicht überzeugt. »Sie kümmern sich doch um ihn, ja?«, winselte sie Martha an.
»Ja, Ma’am. Gehen Sie jetzt wieder. Wir benachrichtigen Sie, sobald er aufwacht.«
»Ich halte mich nicht in meiner Kabine auf. Ich bin mit Freunden oben auf dem Lido-Deck.«
»Wir sorgen dafür, dass Sie kontaktiert werden.«
Martha führte sie hinaus, und der Wachmann folgte ihnen auf den Fersen.
Und dieses Mal ließ sich Jesse mit einem Plumps auf das freie Krankenbett fallen. Fünf Minuten, sagte er sich. Vergangene Nacht hatte er fast gar nicht geschlafen. Die verrückte alte Hellseherin hatte ihn völlig durcheinandergebracht. Und er hatte Stunden damit zugebracht, sich in Farouka hineinzusteigern. Hatte sich Horrorgeschichten zusammengereimt, sie sich mit anderen Männern vorgestellt, glücklicher, als sie es jemals gewesen war, und sie in Gedanken allen erzählen hören, wie dankbar sie sei, nicht mehr in ihrer Ehe gefangen zu sein. Vielleicht würde er die Trümmer seines alten Lebens bis ans Ende seiner Tage hinter sich herschleifen wie die Schleppe eines ramponierten Hochzeitskleids.
Schwach. Er war schwach.
»Könnten Sie mal kommen, Doc?« Diesmal war es Bin.
»Geht’s um die Stewardess?«
»Nein, um die Leichenaufbewahrung. Die Arbeiter in der Wäscherei behaupten, sie hätten ein Geräusch von da drinnen gehört.«
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich.«
»Doc, ich erzähle Ihnen bloß, was mir zu Ohren gekommen ist.«
»Haben Sie die Sache nachgeprüft?«
Bin schüttelte den Kopf. »Nein, Doc.« Jesse wurde bewusst, dass er Bin bislang immer nur gelassen und kontrolliert gesehen hatte. »Ich glaube, Sie sollten mitkommen.«
»Im Ernst?«
Bin nickte entschuldigend.
Unmittelbar vor dem Eingang zur Wäscherei hatte sich eine Gruppe von Männern versammelt, die sich miteinander unterhielten. Als Jesse und Bin sich näherten, verstummten sie. Die Leichenaufbewahrung selbst – eine Öffnung in der Wand, deren Tür an einen riesigen Metall-Brotkasten erinnerte – befand sich in einem Lagerraum hinter einer Stahltür rechts von der Wäscherei.
Jesse spürte das Gewicht aller Blicke auf sich lasten, als er die Tür des Lagerraums aufwuchtete. Auf einem Schiff war Platz kostbar, und der Fußboden war übersät mit Tomatenkonserven und roten Sondermüllsäcken, die vermutlich in der Leichenaufbewahrung gelagert gewesen waren, bevor diese gebraucht wurde. Im Gegensatz zu den Schubladen in gewöhnlichen Leichenhallen wurden Tote hier quer in einer Nische untergebracht, deren Klappe fest verschlossen war.
»Sieht für mich so aus, als wäre alles in Ordnung. Sind Sie sicher, dass es von hier drinnen kam?« Selbst wenn jemand von innen gegen die Tür des Lagerraums gehämmert hätte (und wer hätte das tun sollen?), wäre das von außen wahrscheinlich nicht zu hören gewesen.
Einer der Männer, der in den Vierzigern war und einen Bierbauch und Raucherzähne hatte, murmelte Bin etwas zu.
»Er sagt, es kam fast sicher aus der Leichenaufbewahrung. Sie haben es gehört, als sie die Tür des Lagerraums aufgemacht haben.«
»Tja, er muss …«
Peng.
Jesse zuckte zusammen. »Was zum Teufel?«
Peng. Eine lange Pause und dann ein dumpfes metallisches Geräusch. Alle schreckten zurück.
»Wir sollten den Sicherheitsdienst holen«, schlug Bin vor, wobei sich seine Stimme vor Angst überschlug.
»Nein«, erwiderte Jesse. »Das liegt an der Hitze hier unten. Deshalb dehnt sich das Metall aus.« Er berührte den Griff der Leichenaufbewahrung, dann strich er mit der Handfläche über die Front. Sie war kühl, aber nicht kalt. Die Tiefkühlung war noch nicht eingeschaltet worden – die Techniker hatten es entweder vergessen, oder sie war nicht an die Notstromversorgung angeschlossen.
»Machen Sie nicht auf, Jesse«, flüsterte Bin.
Der bierbäuchige Raucher murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Die anderen hatten das Weite gesucht.
Die Klappe ließ sich leicht öffnen, und der Leichensack kam zum Vorschein. Jesse starrte ihn an und rechnete beinahe damit, dass er jeden Moment zucken würde.
Bescheuert.
Was hatte er erwartet? Dass die junge Frau noch am Leben war? Quatsch, wie Martha sagen würde. Er mochte ein kaputter Typ sein, aber verrückt war er nicht.
»Es heißt, dass sie auf dem Schiff herumspukt«, flüsterte Bin. »Dass sie ein ruheloser Geist ist. Dass sie andere böse Geister ruft, damit sie ihr Gesellschaft leisten. Es heißt, sie bringt Unglück, und es ist ihre Schuld, dass wir liegen geblieben sind.«
»Mein Gott, das ist doch Blödsinn.« Jesse öffnete trotzdem den Reißverschluss des Sacks. Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. Das Gesicht der jungen Frau war schlaff, ihre Augen waren weiß. Ihr Mund stand offen, nachdem die Leichenstarre eingesetzt hatte, und offenbarte einige billige altmodische Füllungen in ihren unteren Backenzähnen. Er trat einen Schritt zurück, damit Bin und die Wäschereiarbeiter sich selbst überzeugen konnten.
»Sehen Sie? Tot.« Absolut mausetot.
Der bierbäuchige Mann verzog das Gesicht und wich zurück. Bin – der verlässliche, besonnene Bin – erweckte den Eindruck, als würde er jeden Moment vor Erleichterung ohnmächtig werden. Hatte Jesse ihn die ganze Zeit falsch eingeschätzt? Nein. Er war nur eingeschüchtert gewesen. Verständlich, Jesse war ebenfalls eingeschüchtert gewesen.
Er machte den Reißverschluss des Leichensacks wieder zu, öffnete die Beschläge, die verhinderten, dass die Klappe zufiel, und trat zurück, um sie zuschlagen zu lassen. »Können wir jetzt einfach alle wieder gehen und …«
Peng.