Der Engel der Barmherzigkeit

Martha wartete auf ihn, als er sich nach seiner Runde zurück zur Krankenstation schleppte. Sie hatte sich das Haar zu einem unordentlichen Knoten zurückgebunden und zupfte an einem Hautfetzen an ihrer Unterlippe.

»Was ist denn jetzt schon wieder?« Er war sich nicht sicher, ob er mit noch irgendwelchen neuen Entwicklungen fertigwerden würde. Abgesehen von den Norovirus-Fällen gab es noch zwei ziemlich ernste Hitzschläge und einen vermutlich gebrochenen Zeh. Er brauchte eine Koffein-Injektion. Er brauchte eine Dusche. Er brauchte mehr als zwei beschissene Stunden Schlaf am Stück.

»Ah, Jesse. Wir haben ein kleines Problem. Es geht um den neuen Patienten. Der Typ, der gestern reingekommen ist.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist weg, Jesse.«

Er hatte Mühe zu verarbeiten, was sie sagte. »Sie haben ihn entlassen?«

»Nein. Ich bin weggegangen, um mir was zu essen zu holen. Ich war wirklich nicht lange weg. Als ich zurückkam, lag er nicht mehr in seinem Bett.«

»Aber er war doch bis über beide Ohren mit Beruhigungsmittel vollgepumpt.« Jesse hatte am Abend zuvor die Entscheidung getroffen, die Midazolam-Dosis zu erhöhen, nachdem der Mann aufgewacht war und unberechenbares Verhalten an den Tag gelegt hatte. Außer ihn in seine Kabine zu sperren, wo er sich leicht selbst hätte Schaden zufügen können, fiel Jesse nichts ein, wie er ihn sonst bändigen konnte. Schließlich befanden sie sich auf einem Schiff und nicht in der Psychiatrie.

»Ich weiß. Ich kann es mir auch nicht erklären.«

»Wo ist Bin?«

»Ich habe ihn weggeschickt, damit er sich ein paar Stunden ausruht. Er war die ganze Nacht im Dienst, der arme Kerl. Sie wissen ja, wie er ist, man muss ihn von seinem Posten wegzerren.« Sie zupfte abermals an ihrer Lippe. »Und das ist noch nicht alles, Jesse.«

Ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend. »Schießen Sie los.«

»Alfonso hat sich ebenfalls unerlaubt entfernt.«

»Im Ernst? Wo ist er denn hin, verdammt?«

»Keine Ahnung. Ich habe in seiner Kabine nachgesehen und bin hinunter zu den Generator- und Kontrollräumen, aber niemand hat ihn gesehen.«

»Dann vermissen wir jetzt also zwei Patienten?«

»Sieht ganz so aus. Tut mir leid, Jesse.«

»Es ist nicht Ihre Schuld. Wie kann man von uns erwarten, dass wir das alles bewältigen, verdammt?« Sie waren dafür nicht ausgerüstet. Genau genommen hätten zwei Ärzte an Bord sein müssen, doch Martha zufolge wurde diese Vorschrift bei kürzeren Kreuzfahrten meistens ignoriert.

»Sie machen keinen guten Eindruck, Jesse. Sind Sie sicher, dass Sie nicht krank werden?«

Er schüttelte den Kopf. Er war müde, das war alles. Sicher, ihm war speiübel, aber er ernährte sich auch seit drei Tagen von Cola light und Pringles-Chips. Und er konnte dankbar sein, dass nicht das ganze Schiff von dem Virus überrollt wurde. In der Regel breitete es sich rasant aus, und es grenzte an ein Wunder, dass sie noch nicht alle daran erkrankt waren. Am Vorabend hatte er in seiner Kabine klammheimlich eine rote Tüte benutzt. Da er sie nicht hatte liegenlassen wollen, damit Paulo sie wegräumte, hatte er sie hinunter zur Verbrennungsanlage gebracht. Ihm war völlig schleierhaft, weshalb ihm die Sache so unangenehm war. Du bist Arzt. »Ich mache mir Sorgen um die ältere Passagierin, Elise Mayberry«, sagte er. »Ihr Puls ist ungleichmäßig. Hatte sie in der Vergangenheit eine Herzerkrankung?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Er hätte ihre Freundin fragen sollen, die Frau, der er den boshaften Spitznamen »Tante Zinke« gegeben hatte, doch der Patient, den er unmittelbar vor Elise untersucht hatte – ein Mann mittleren Alters auf derselben Etage –, war beleidigend und aggressiv gewesen, was ihn mehr aus dem Konzept gebracht hatte, als er sich eingestehen wollte.

»Möchten Sie, dass wir sie jetzt hier runter verlegen?«, erkundigte sich Martha.

»Vielleicht. Allein auf diesem Deck gibt es drei weitere Fälle. Wie viele Crewmitglieder sind schon daran erkrankt?«

»Insgesamt sieben. Vielleicht auch mehr. Das Problem ist, dass die meisten von ihnen nicht in ihren Kabinen bleiben wollen.«

»Es wird sich verbreiten wie ein Lauffeuer, wenn sie das nicht tun.«

Sie wurden von einer Durchsage von Damien unterbrochen, der sie informierte, dass Celine del Ray eine weitere Vorstellung (oder was auch immer es war, was sie tat) im Dare to Dream Theatre geben würde.

Irrsinn. Die Leute dazu zu ermuntern, sich in Scharen zu versammeln, während das Norovirus auf dem Schiff wütete, war unglaublich kurzsichtig. Er seufzte. »Jetzt reicht’s. Ich werde darauf bestehen, dass höchste Alarmstufe ausgerufen wird. Haben Sie irgendwas gehört, wann wir damit rechnen können, dass endlich Hilfe eintrifft?«

»Nein, Jesse. Immer noch kein WLAN. Heute früh wurde ein Beiboot losgeschickt, aber das ist alles, was ich weiß.« Jesse verstand nicht, warum irgendjemand denken sollte, es wäre ein gutes Zeichen, dass ein Beiboot losgeschickt worden war. Das Ganze ergab einfach keinen Sinn. Foveros hätte zumindest eines der Schwesterschiffe der Beautiful Dreamer schicken sollen, um nach ihnen zu sehen. »Herrgott«, flüsterte er.

»Den könnten wir jetzt gut gebrauchen.«

»Ich habe die Schnauze voll. Ich spreche jetzt mit dem Kapitän. Und ich lasse mich auf keine Diskussion ein.«

»Was soll ich tun?«

»Sie bleiben am besten hier. Ich bin gleich wieder da.«

»Viel Glück.«

Jesse sprühte sein Hemd großzügig mit Deodorant ein – eine Dusche aus der Dose, momentan sein bester Ersatz – und machte sich auf den Weg. Er verlor kurzzeitig die Orientierung, da er nicht darüber nachdachte, wohin er ging, und musste wieder umkehren. Dabei kam er an der Crew-Bar vorbei. Sie war voll, und er roch Bier und hörte laute Stimmen. Ein weiteres One-Way-Ticket zur Verbreitung von Infektionen auf dem gesamten Schiff. Die Bar musste geschlossen werden. Die Essensausgaben mussten von oben bis unten desinfiziert werden, und jeder, der irgendwelche Symptome zeigte, musste isoliert werden. Jesse hatte gehört, was für ein Albtraum die zusätzlichen Pflichten für die Crew und das Personal waren, Tatsache war jedoch, dass ihnen nichts anderes übrig blieb.

Ram stand vor der Tür, die zur Brücke führte, und hatte seine unerbittliche Maske auf. »Kann ich Ihnen helfen, Doktor?«

»Ich muss sofort mit dem Kapitän sprechen.« In seiner Stimme lag nur ein leichtes Beben. Gut.

Rams Gesicht zeigte keine Regung. »Er ist gerade in einer Besprechung.«

»Es handelt sich um einen Notfall.«

Ram starrte ihn einige Sekunden lang an, dann nickte er fast unmerklich. »Warten Sie hier.«

»Okay, aber ich …«

Ram war bereits weg und schlug Jesse die schwere Tür zur Brücke vor der Nase zu, ehe er hindurchschlüpfen konnte. Jesse wischte sich seine verschwitzten Handflächen an der Hose ab.

Ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf, und Ram winkte ihn zu sich. Seit Jesse auf dem Schiff angefangen hatte, war er nur ein paarmal auf der Brücke gewesen. In diesem riesigen, von bodenhohen Fenstern umgebenen Bereich fühlte sich die Luft frischer an, wenngleich Jesse sich sicher war, dass er sich das nur einbildete. Der Kapitän – ein untersetzter Mann Ende sechzig mit üppigem weißen Haar – stand mit dem Rücken zu Jesse vor dem Steuerpult und sprach gestikulierend mit einer Gruppe von Männern in weißer Offiziersuniform. Jesse erkannte den hitzköpfigen Hoteldirektor, ein hochnäsiger Grieche, der den Anschein erweckte, als wäre er nicht imstande zu lächeln, einen der IT-Spezialisten (der ein spektakuläres blaues Auge und eine Schnittwunde an der rechten Wange hatte, die aussah, als würde sie eitern) und Damien. Bei Letzterem handelte es sich um einen sturen, klein gewachsenen Mann, der die Crew-Bar immer betrat, als rechne er damit, dass alle in Jubel ausbrachen. Jesse hatte es bewusst vermieden, viel mit ihm zu tun zu haben, und Martha bezeichnete ihn als »totales Großmaul«.

Die übrigen Offiziere auf der Brücke, darunter auch Baci, Alfonsos Besucher, der ihn erkannte und ihm zunickte, hatten sich diskret an der Fensterscheibe versammelt. Jesse nahm sich einen Moment Zeit, um die Aussicht aufzusaugen: nichts als weites, endloses Meer. Keine Schiffe. Keine Bohrinseln. Nicht einmal der Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel.

Schließlich nahm der Kapitän ihn zur Kenntnis. »Wie geht’s Alfonso, Dottore? Kann er wieder arbeiten?«

Auf dem falschen Fuß erwischt, blinzelte Jesse. »Er hat den Behandlungsraum heute Morgen verlassen.«

Der Kapitän bellte Baci etwas auf Italienisch zu, der daraufhin den Kopf schüttelte.

Der Kapitän starrte Jesse vorwurfsvoll an. »Er ist nicht im Kontrollraum.«

Jesse atmete ein. Er durfte nicht zulassen, dass er vorschnell verurteilt wurde. Alfonso war nicht der Grund, weshalb er hier war. »Ich bitte seit dem ersten Tag dieses Schlamassels darum, Sie sprechen zu dürfen, Captain. Sie müssen sich über die Situation im Klaren sein. Die Zahl der Viruserkrankungen steigt täglich an.«

»Wie viele?« Das kam von dem Hitzkopf.

»Bestimmt zwanzig, vielleicht auch mehr.« Damien saugte an den Zähnen. Jesse ließ einen Augenblick verstreichen, ehe er fortfuhr: »Sie müssen auf dem Schiff unbedingt höchste Alarmstufe ausrufen.«

»Nein. Das ist nicht möglich«, entgegnete der Kapitän.

»Sir, bei allem Respekt, wenn Sie es nicht tun, müssen wir damit rechnen, eine heftige …«

»Das Personal stößt bereits an seine Grenzen«, sagte der Hitzkopf. »Wir können ihm keine zusätzlichen Aufgaben aufbürden.«

»Dann möchten Sie also, dass sich das gesamte Schiff infiziert? Wie wird das aussehen, wenn wir in den Hafen zurückkehren?«

»Erheben Sie nicht die Stimme gegen den Kapitän«, mischte sich Damien ein.

Jesse nahm zur Kenntnis, dass Ram ihn genau beobachtete. Scheiße. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. »Ich erhebe meine Stimme nicht, ich sage nur, wir müssen …«

Der Hitzkopf fiel ihm erneut ins Wort. »Die Moral ist sehr schlecht. Wenn wir dem Personal zusätzliche Aufgaben aufbürden und es in seine Kabinen verbannen, wird es …«

Jetzt war Jesse an der Reihe, ihn zu unterbrechen. »Wie lange wird diese Situation Ihrer Ansicht nach noch anhalten?«

Der Kapitän schniefte. »Nicht mehr lange.«

»Einen Tag? Zwei Tage? Eine Woche? Wie lange? Weiß überhaupt irgendjemand, dass wir hier liegen geblieben sind?«

»Die Lage ist unter Kontrolle, Dottore

Schwachsinn. Das Cola, von dem Jesse sich ernährt hatte, verwandelte sich in seinem Bauch in Säure. »Sind wir verschollen? Ist es das?«

Der Blick des Kapitäns verhärtete sich. »Wir sind nicht verschollen.«

»Warum ist dann noch niemand gekommen, um nachzusehen, wo zum Teufel wir uns befinden?« Es musste irgendeine Möglichkeit geben, das Schiff ausfindig zu machen, obwohl der Strom und die Kommunikationssysteme ausgefallen waren. Die Beautiful Dreamer war nach niemandes Maßstäben ein hochmodernes Schiff, aber es war sicher mit Transpondern und Notfunkbaken ausgerüstet.

»Im Heimathafen herrscht schlechtes Wetter. Es wird bald jemand kommen.«

»Dann haben Sie also mit dem Ground Support Kontakt aufgenommen?«

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis Hilfe hier ist.«

Herrgott! Jesse schluckte einen Kloß in seinem Hals hinunter. Er war sich nicht sicher, ob der Kapitän ihm reinen Wein einschenkte oder nicht. »Sehen Sie, ich möchte doch nur, dass die Passagiere über das Virus informiert und angehalten werden, die Sondermüllsäcke auf hygienische Art und Weise zu entsorgen, und dass die Speisenzubereitung überwacht und eingeschränkt wird. Und jeder, der erste Symptome einer Viruserkrankung zeigt, sollte in seiner Kabine bleiben müssen. Das ist unerlässlich.«

»Wo sollen wir sie denn unterbringen, Doktor?«, fuhr ihn der Hitzkopf an. »Die unteren Kabinen sind unbewohnbar.«

Der IT-Mann schnaubte. »Ja, und der Großteil der Crew sieht überall auf dem gottverdammten Schiff Gespenster.«

Ram warf dem Mann einen warnenden Blick zu.

»Viele Crewmitglieder sind abergläubisch, da ist das zu erwarten«, sagte der Kapitän. »Es gibt keine Grundlage für dieses … ungewöhnliche Phänomen.«

Wie zum Beispiel tote junge Frauen, die von innen gegen die Leichenaufbewahrung hämmern? Oder vielleicht Schlaganfallpatientinnen, die Gedanken lesen können?

»Können wir die Passagiere wenigstens bitten, sich nicht in großen Gruppen zu versammeln?« Jesse wandte sich an Damien. »Die Vorstellung im Theater sollte sofort abgesagt werden.«

Damien schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein. Das beschäftigt die Leute und lenkt sie ab. Da dürfen wir nicht einschreiten.«

»Die werden noch beschäftigt genug sein, wenn sie sich die Seele aus dem Leib kotzen.«

Damien schüttelte abermals den Kopf. Eine Ziege. Eine kleine Ziege. Ja. Das war es, woran Damien ihn erinnerte. Gespaltene Hufe und hervortretende böse Augen. »Kommt überhaupt nicht infrage. Wir können keine von Celine del Rays Veranstaltungen absagen. Oder von unseren anderen Veranstaltungen. Die Passagiere sind auf sie angewiesen.«

Der Kapitän hob die Hand. »Genug. Dottore, Ihre Besorgnis wissen wir natürlich zu schätzen. Wir werden das Küchenpersonal zu besonderer Wachsamkeit anhalten. Wir werden den Chlorgehalt in der, äh, Putzflüssigkeit erhöhen. Und wir werden zusätzliche Handdesinfizierer aufstellen.«

Jesses Gesicht wurde heiß, und ein Rinnsal Schweiß kitzelte ihn hinten am Ohr. »Captain, ich muss darauf bestehen …«

»Mehr können wir momentan nicht für Sie tun. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Der Kapitän drehte sich von ihm weg, und Jesse stand da und starrte seinen Rücken an. Ram ging einen Schritt auf ihn zu, und da er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, verließ er die Brücke. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Er schaffte es gerade einmal bis zum Eingang zum I-95, als ein Piepton zu hören war und Damiens Stimme aus den Lautsprechern drang.

»Guten Tag, meine Damen und Herren, hier spricht Damien, Ihr Kreuzfahrtdirektor. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, wir werden uns weiterhin darum bemühen, dass Sie sich so sicher und behaglich wie möglich fühlen. Wir wissen Ihre Geduld wirklich zu schätzen. Bitte denken Sie daran, die Handdesinfizierer, die sich am Eingang zu allen Gemeinschaftsbereichen befinden, bei jeder Gelegenheit zu benutzen. Und vergessen Sie nicht, dass Celine del Ray in fünf Minuten im Dare to Dream Theatre auftritt. In fünf Minuten, meine Damen und Herren.«

Mistkerl. Es war beinahe so, als wollte dieses Arschloch, dass die Leute krank wurden.

Jesse genügte das nicht. Wenn sie nichts unternahmen, würde er es eben selbst tun. Zumindest konnte er mit Celine del Ray sprechen – oder wer auch immer die Verantwortung für die Veranstaltung hatte – und versuchen, sie zur Vernunft zu bringen. Weder der Kapitän noch Damien, die Ziege, konnte ihn daran hindern.

Ohne stehen zu bleiben, um Martha über sein Treffen mit dem Kapitän zu informieren, flog er den I-95 entlang und die Treppe zum Atrium hinauf. Wenn ihm ein Passagier begegnete, beschleunigte er jedes Mal und setzte sein Medizinischer-Notfall-Gesicht auf. Die unteren Türen des Theaters waren abgeschlossen, deshalb ging er eine Etage höher. Nur eine Seitentür war offen, vor der sich einige Senioren tummelten. Zwei Frauen und ein Mann, der mit einem schicken Tweedanzug und einer violetten Krawatte bekleidet war, begrüßten ihn freundlich.

»Hallo, Doktor«, sagte der elegante Mann mit einem Grinsen. »Kommen Sie, um sich die Show anzusehen?«

»Nein.« Jesse erklärte seine Bedenken, was die Ausbreitung des Virus im Theater betraf.

»Oh, um uns brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Doktor«, sagte der Mann. »Aus Celines Gruppe ist niemand krank. Die Toiletten, die wir benutzen, werden zweimal täglich mit Chlorlösung geschrubbt, und wir benutzen alle die Handdesinfizierer.«

»Wir wissen, was zu tun ist«, warf eine Frau spanischer Abstammung in den Fünfzigern ein. »Ich habe schon mal eine Kreuzfahrt gemacht, auf der sich ein Virus ausgebreitet hat. Wir benutzen sogar extra Abfalleimer für die Tüten.«

Er hatte schon einige Patienten wie diese Frau gehabt. Alleswisser. Überzeugt, dass sie seinen Job besser hätten machen können als er selbst.

»Das ist alles wunderbar, aber ich würde trotzdem gerne mit Mrs del Ray sprechen.«

»Sie kommuniziert gerade mit dem Geist.«

»Ich gehe einfach mal rein und sehe nach, ja?« Jesse lächelte und schob sich an ihr vorbei.

Er brauchte einen Moment, um sich an die düsteren Tiefen des Theaters zu gewöhnen. Die Atmosphäre war so schwer und trist, dass er den Eindruck hatte, eine Kathedrale zu betreten. Er ging langsam den Gang zwischen den Sitzreihen entlang. Das Theater war fast voll: Passagiere und etliche Angehörige des einfacheren Personals füllten die Nischen und Sitze, unterhielten sich im Flüsterton und starrten erwartungsvoll zur Bühne. Er konnte sich nur vorstellen, wie schnell das Virus hier drin brüten konnte. Sein Blick fiel auf ein bekanntes Gesicht, und er blieb stehen. Alfonso saß zusammengesunken auf einem Sitz in der Mitte einer Reihe. Die ältere Frau neben ihm hielt sein Handgelenk umklammert und flüsterte ihm ins Ohr, doch er starrte nur geradeaus, ohne zu reagieren. Jesse zog in Erwägung, zu ihm hinzugehen, doch das war nicht der Grund, weshalb er hier war. Er würde Baci wissen lassen, wo er seine vermisste Vaterfigur finden konnte, nachdem er mit Mrs del Ray gesprochen hatte. Alfonso war kein Gefangener. Er konnte ihn nicht dazu zwingen, wieder zu arbeiten und das verdammte Schiff zu reparieren, oder? Mehrere Leute, die außen in den Reihen saßen, schenkten ihm ein einladendes Lächeln, und Paulo, sein Steward, der neben einem Kasten mit Wasserflaschen und einer Kiste Bananen stand, winkte ihm zu.

Donnerwetter. Hier war man wirklich gut ausgerüstet.

Man hörte ein Klicken, und dann erstrahlte die Bühnenbeleuchtung. Als Jesse sich näherte, erkannte er etwas, das aussah wie eine komplizierte Anordnung von Autobatterien – wahrscheinlich von den Gabelstaplern an der Laderampe –, an die Halogen-Stehlampen angeschlossen waren. Clever.

Ohne großes Trara fuhr Celine del Ray in ihrem Rollstuhl in die Mitte der Bühne. Sie räusperte sich, strahlte das Publikum an und sagte: »Nur ein paar Worte vorweg. Ich möchte alle unsere neuen Freunde willkommen heißen, vor allem diejenigen, die sehr hart gearbeitet haben, um dafür zu sorgen, dass wir es hier sauber und gemütlich haben. Jetzt wollen wir ihnen helfen, indem wir das Unsere tun.« Jesse war erstaunt, wie deutlich ihre Stimme ohne Mikrofon zu hören war. »Also, nachdem uns allen diese Situation seit einiger Zeit zu schaffen macht, möchte ich Sie fragen, alte Freunde und neue, habe ich Sie im Stich gelassen?«

Die Zuschauermenge murmelte im Einklang ein in die Länge gezogenes »Neiiiiiiin«. Verunsichert schlich Jesse zur Seitenwand des Theaters.

»Habe ich Sie angelogen?«

»Nein.«

»Nein, das habe ich nicht. Einige von Ihnen sagen, sie hätten auf dem Schiff seltsame Dinge gesehen und wären verängstigt. Es besteht kein Grund, Angst zu haben. Sie müssen wissen, das ist nur der Geist, der Sie zu mir lotst, damit ich Ihnen dabei helfen kann, zusammenzukommen und diese Sache durchzustehen. Manche von Ihnen möchten wissen, woher ich meine Gabe habe und wie es möglich ist, dass ich mit dem Geist in Kontakt treten kann. Sie müssen wissen, was ich tue, ist nichts Böses. Ich bin genauso im Einklang mit Gott – was auch immer Ihre Vorstellung von ihm oder ihr ist –, wie Sie es sind. Sie alle kommen aus vielen verschiedenen Religionen, und ich bitte Sie dringend, sich jetzt auf sie zu stützen. Blicken Sie in Ihr Herz, bitten Sie Ihre eigenen Geistführer und Ihre verstorbenen Angehörigen um Unterstützung.«

Celine hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und neigte den Kopf, und Jesse hatte den Eindruck, dass sie ihn direkt anstarrte, was ihm ein Kribbeln auf der Haut bereitete. »Moment … ich muss mich selbst unterbrechen, da Archie sich meldet und mich wissen lässt, dass es für jemanden hier eine Nachricht gibt. Ich empfange … ja, ein junges Mädchen tritt vor. Das Mädchen weint.« Celine fasste sich an den Hals. »Oh. Ich habe Schmerzen im Bauch, sagt sie. Schlimme Schmerzen. Ich empfange … Sie trägt eine Art Uniform. Eine Schuluniform. Blau. Ergibt das für irgendjemanden hier einen Sinn?«

Jetzt war er sich absolut sicher, dass sie ihn direkt anstarrte.

»Sie sagt … sie sagt, wie sie gestorben ist, wäre zu vermeiden gewesen. Sie sagt, es war kein Unfall.«

Das Kribbeln auf seiner Haut wurde stärker. Und für einen Augenblick, nur für einen kurzen Augenblick, hatte er einen Schnappschuss vom Gesicht des Mädchens vor Augen. Sie war unmittelbar nach der Schule zu ihm gekommen. Sie hatte geschworen, dass sie nicht sexuell aktiv sei, aber woher hätte er wissen sollen, dass sie log? Er hätte ihre Mutter bitten sollen, bei ihm im Behandlungszimmer zu bleiben, oder die Krankenschwester anweisen sollen dabeizubleiben. Er hatte nicht klar denken können, da seine Pethidin-Abhängigkeit damals schon recht fortgeschritten war.

Jesse taumelte den Gang zwischen den Sitzreihen nach oben und wäre beinahe mit einem kräftig gebauten Mann zusammengeprallt, der jetzt mit verschränkten Armen vor der Tür stand.

»Hey, vorsichtig, Freundchen.«

Mit erhitztem Gesicht marschierte Jesse blind zurück zur Treppe und schüttelte die Passagiere ab, die ihm im Gehen eine Predigt halten wollten. Als er beim Atrium angelangte, hielt er sich am Geländer fest und atmete tief durch die Nase ein.

Entspann dich, verdammt noch mal. Doch es gab nur eines, was ihn wirklich entspannte, oder nicht?

Nein.

Er ließ sich nur von diesem beschissenen Tag runterziehen, das war alles. Celine konnte die Geschichte auch aus dem Internet haben. Nur, dass es kein Internet gab, nicht wahr? Vielleicht hatte sie ihn gegoogelt, bevor sie überhaupt an Bord gegangen war, hatte Recherchen zu so vielen Crewmitgliedern und Passagieren wie möglich angestellt. Hatte deren Geschichten ausgegraben.

Unwahrscheinlich, aber an irgendetwas musste er sich schließlich klammern. Plausibler war, dass sie einfach nach Informationen gefischt hatte, dass sie ihre Netze ausgeworfen hatte, bis sie fündig geworden war. Ja. Das musste es sein. Jeder Arzt hatte irgendetwas Zwielichtiges in seiner Vergangenheit: eine Fehldiagnose, einen Patienten, der überraschend gestorben war. Und wie detailliert hatte sie sich schon geäußert? Nicht besonders detailliert. Eine Schuluniform – und wenn schon.

Das war alles gewesen.

Vielleicht suchte er ja nur nach einer Ausrede, um sich den Reizen von Lady Dolantin hingeben zu können. Nein. Er hatte es einfach mit der Angst zu tun bekommen und war auf die betrügerischen Tricks einer alten Frau hereingefallen.

Martha war nicht da, als er auf die Krankenstation zurückkehrte, aber er fand ein Sandwich, eine Dose Cola und eine Nachricht auf dem Empfangstresen: »Noch einer.«

Großartig.

Er machte die Coladose auf und legte die Füße auf den Tisch. Eigentlich hätte er zum Theater zurückgehen und Alfonso von dort loseisen sollen. Das Ganze hatte ihn an eine Art Sekten-Veranstaltung erinnert. Zumindest sollte er Baci informieren. Wenn es Alfonso so gut ging, dass er den Behandlungsraum hatte verlassen und den Weg in die Fänge dieser unheimlichen alten Frau und ihrer Gefolgsleute hatte finden können, dann ging es ihm auch so gut, dass er seinen Arsch in den Generatorraum schwingen und das beschissene Schiff wieder in Gang bringen konnte. Sie alle aus dieser Situation herausbekommen konnte.

»Doc?«

Jesse drehte sich um und sah Bin in der Tür stehen. Seine Haut spannte sich über seinen Knochen, und seine Augen wirkten eingesunken. Herrgott, Jesse hoffte, dass er nicht am Norovirus erkrankt war. »Wir haben ein Problem, Doc.«

Wie oft hatte er das heute schon gehört? »Was ist denn jetzt los?«

»Die junge Frau in der Leichenaufbewahrung. Sie …«

Oh, zum Teufel noch mal. »Nicht das schon wieder. Das war nur das Metall, das sich in der Hitze ausgedehnt hat.«

»Doc … sie sagen, sie werfen ihren Leichnam über Bord.«

Sarah Lotz - Tag Vier - Band 2
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