Die Helferin der Hexe
Das Licht war vor zehn Minuten ausgegangen, und Maddie hoffte noch immer, dass es wie durch ein Wunder wieder angehen würde. Unter ihren Füßen wand sich das Schiff und knarrte. Selbst bei geschlossener Balkontür drangen die Schreie vom Deck über ihr nach unten.
Xavier stöhnte, und dann hörte sie sein flüssiges Husten, als er sich erneut übergab. Sie hatte ihm ein paar von ihren Tabletten gegen Reiseübelkeit gegeben, doch die hatten nichts genützt. Und es schien, als habe die Beautiful Dreamer sie von ihrer Überempfindlichkeit geheilt. Jetzt, im Dunkeln, wo alles lauern konnte (Lizzie Bean vielleicht?) hatte sie Schlimmeres zu befürchten, als dass jemandem schlecht wurde.
Das Schiff sackte ab und ließ ein Gefühl von Leere in ihrem Bauch zurück. Luft, frische Luft, das würde helfen. Sie torkelte seitwärts zur Balkontür und trat auf den Balkon hinaus, wo sie zum Geländer eilte, um sich festzuhalten. Regen peitschte ihr ins Gesicht; unter ihr hob und senkte sich das Meer. Und noch etwas: Lichter. Im Wasser befanden sich Lichter. Sie blinzelte, wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. Boote, da draußen waren Boote.
Sie stürzte zur Tür. »Xavier! Da sind Boote. Sie sind da!«
»Hm?«
»Da sind Boote im Wasser! Jemand kommt uns retten.«
Sie hörte ihn stöhnen und zur Balkontür torkeln. Vorsichtig schleppte er sich zu ihr nach draußen. Das Meer türmte sich auf, und jetzt konnte sie einen dreieckigen Umriss ausmachen – ein aufblasbares Boot? –, bevor er wieder von den Wellen verschluckt wurde.
Xavier packte sie an der Schulter. »Maddie, das sind keine Boote, die uns retten wollen. Das sind Rettungsboote.«
Eine kalte Welle der Panik. »Aber … aber ich habe kein Signal für eine Evakuierung gehört.«
Er packte sie am Handgelenk.
Sie taumelten gemeinsam zur Tür, durchquerten die Suite und stolperten in den Korridor hinaus. Das einzige Licht kam von den Fluchtwegmarkierungen auf dem Boden und an der Decke. Sie klammerte sich an der Wand fest, als das Schiff abermals absackte. Gestalten rückten vom anderen Ende des Korridors näher, und das Bruder-und-Schwester-Pärchen trampelte an ihnen vorbei. Die beiden hielten sich aneinander fest. »Sie müssen hier raus!«, kreischte die Frau sie an. »Oh, gütiger Himmel. Verlassen Sie das Schiff!«
Maddie hämmerte an Helens und Elises Tür. »Helen! Helen!« Keine Antwort.
»Kommen Sie!«, schrie Xavier.
Sie drehte sich zu ihm. »Wo ist denn Ihre Sammelstation?«
»Scheiß drauf. Wir gehen zum Hauptdeck, wo die verdammten Rettungsboote sind.«
Sie stützten sich an der Wand ab und taumelten an den Aufzügen vorbei und quer durchs Atrium. Die Tür zum Hauptdeck wollte sich zunächst nicht öffnen lassen, da der Wind von außen dagegen drückte, doch dann ließ der Druck plötzlich nach, und Maddie stolperte hindurch, rutschte auf dem Deck aus und fiel beinahe hin.
Chaos. Pures Chaos begrüßte sie. Matratzen waren in den Pool gerutscht, und das Wasser darin schwappte heftig hin und her. Ein Liegestuhl war in einer seltsamen Umarmung um die Reling gewickelt, und das Deck war mit glitzernden Glasscherben übersät. Zu ihrer Linken durchwühlten Passagiere die Kisten mit Rettungswesten und drängelten und schubsten sich dabei gegenseitig weg. Sie erspähte das Bruder-und-Schwester-Pärchen bei der Bar. Er war offenbar ausgerutscht und hingefallen, und seine Frau kauerte neben ihm und hielt seinen Kopf an ihre Brust. Sollte sie den beiden helfen? Scheiße – sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie blickte sich nach Xavier um, entdeckte ihn aber nirgendwo. Salzwasser stach in ihren Augen.
Ein schrilles Pfeifen ertönte, dann explodierte der Himmel in rotem Licht (Leuchtkugeln, sie mussten Leuchtkugeln abgeschossen haben), und auf dem Deck war es ein paar Sekunden lang taghell. Die Leute kämpften darum, auf die Seitendecks zu gelangen, wo sich die Rettungsboote befanden, ihre Gesichter verzerrte Masken voller Panik und Schmerz. Das Schiff rollte abermals, und einige von ihnen verloren den Halt und fielen nach hinten auf andere.
Jemand rempelte Maddie an, und als sie sich umdrehte, sah sie Ray, der die Hand einer zierlichen Frau hielt. »Maddie! Komm mit! Wir müssen … Rettungsbooten!«
Ein Wachmann eilte an ihnen vorbei und schrie: »Halt! Die Davits können nicht bedient werden …« Der Wind riss seine Stimme fort.
Sie blickte sich erneut nach Xavier um. Die Ansammlung in Panik geratener Passagiere, die den Bereich um die Kisten mit Rettungswesten verstopften, löste sich auf, und sie entdeckte ihn. Er kniete und balgte sich um zwei Rettungswesten.
»Maddie!«, brüllte Ray abermals.
»Weiß Celine Bescheid?«, schrie sie zurück.
»Maddie, du musst … Crew … Schiff.«
»Was ist mit Celine?«
»Scheiß auf sie, Maddie.«
»Aber was ist mit den Freunden?« Mit Jacob und Eleanor und Leila und Jimmy und Anabeth und …
Die junge Frau, die bei ihm war, zog an seiner Hand. »Kommen Sie mit uns mit!«, schrie sie Maddie zu.
Doch sie konnte nicht. Sie konnte die Freunde nicht einfach im Stich lassen. Maddie konnte es einfach nicht. Zumindest musste sie sich vergewissern, dass es dringend erforderlich war, sich zu den Rettungsbooten zu begeben. Sie drehte sich um und schlitterte zur Glastür zurück, wobei sie gegen die Flut von Menschen ankämpfte, die versuchten, vom Schiff zu kommen.
Als sie bei der Haupttreppe angelangte, neigte sich das Schiff erneut, und zwar so stark, dass es sich anfühlte, als würden sich ihre Füße nach oben in ihre Knie drücken. Ein Rauschen in ihren Ohren. Ein Knirschen, dann ein metallisches Kreischen. Sie nutzte das Geländer, um sich abzustützen, rannte halb, stürzte halb die Stufen zum Promenade-Dreamz-Deck hinunter und war dabei froh um den grünlichen Schein der Notausgang-Schilder. Die Türen zum Theater schlugen immer wieder auf und zu, doch die Stufen davor waren menschenleer. Sie schleppte sich zum Eingang hinauf, trat die Tür auf und kroch hinein. Das Rauschen in ihren Ohren hörte vorübergehend auf, und sie hörte Celine rufen: »Wer geht, wird sterben. Es ist Ihre eigene Entscheidung!«
»Es gibt keinen Tod«, dachte Maddie – oder vielleicht sagte sie es auch laut, sie war sich nicht sicher, denn dann verschwand der Boden unter ihr.