Die Selbstmord-Schwestern

Helen konnte das Gesicht der Frau nicht sehen, die sich auf allen vieren auf dem anderen Bett befand. Ihr Haar hing ihr über die Augen, und ihre Finger krallten sich ins Kopfkissen. Doch Jaco sah sie direkt an. Stoßend und lächelnd. Stoßend und lächelnd. Helen wandte den Blick ab.

Hörte ihn lachen.

Elise verbrannte regelrecht, sie spürte die Hitze, die sie durch ihr Nachthemd verströmte. Helen betete, dass sie schlief und nicht aufwachen würde, solange diese widerwärtige Darbietung andauerte.

Jaco gab inzwischen grunzende Geräusche von sich, und die junge Frau kreischte im Takt mit.

Sie hätte es jetzt tun können, hätte von ihrem Bett springen und ihm ihren Laptop auf den Kopf schlagen können. Zack. Ihn dem Mistkerl mit einem befriedigenden Krachen gegen den Kiefer rammen. Sie hatte bereits viele Male darüber nachgedacht. Doch die beiden waren kräftiger als sie und würden sie im Handumdrehen überwältigen. Und sie zerbrach sich seit Stunden den Kopf, ob sie die Suite verlassen und Hilfe holen sollte oder nicht. Sie wagte es allerdings nicht, Elise mit den beiden alleine zu lassen. Womöglich würden sie sich verbarrikadieren, und was wäre, wenn sie niemanden fand, der ihr half? Die Situation draußen wurde sicher immer verzweifelter.

Gefangen in ihrer eigenen Kabine. Ein Gefängnis.

Doch was konnte sie sonst tun? Elise war noch nicht kräftig genug, um verlegt werden zu können. Vergangene Nacht hatte Helen versucht, ihr ins Bad zu helfen, doch Elise hatte es kaum aus dem Bett geschafft, als ihre Beine unter ihr zusammengeklappt waren. Jaco und Lulia hatten Helen widerwillig dabei geholfen, sie wieder hochzuhieven, doch sie waren grob gewesen, und sie wollte nicht riskieren, dass es noch einmal dazu kam.

Sie hasste die beiden. Sie verabscheute sie mit einer Intensität, von der sie nicht wusste, dass sie dazu in der Lage war.

Die beiden hatten sich geschickt angestellt. Hatten sie hereingelegt. Zunächst war sie ihnen dankbar gewesen. Ja! Dankbar. Jaco war hinunter in die Crew-Kantine gegangen, um ihr ein Sandwich und zusätzliche Flaschen Wasser zu holen, und hatte ihr damit erspart, Elise alleine lassen und sich am Lido-Büfett in der Schlange anstellen zu müssen. Lulia hatte die Dusche und das Bad geputzt, und obwohl Helen ihrer detaillierten Beschreibungen jeder Show, an der sie jemals mitgewirkt hatte, bald müde geworden war, hatte sie die Hilfe zu schätzen gewusst. Sich alleine um Elise zu kümmern war hart, ermüdend. Und es war eine Erlösung gewesen, sich über die möglichen Gründe zu unterhalten, warum noch keine Hilfe eingetroffen war. Jaco hatte darauf beharrt, dass im Hafen ein Sturm tobe und die Küstenwache nicht in der Lage sei, Rettungsschlepper auszusenden; Lulia hatte gehört, dass das Schiff aus kommerziellen Gewässern getrieben sei und dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie vom Radar irgendeines anderen Schiffs entdeckt werden würden. Lulia hatte sogar versprochen, auf Elise aufzupassen, während Helen schlief. Helen hatte zunächst gezögert, dann aber doch eingewilligt. Sie hatte stundenlang geschlafen, einen tiefen, traumlosen Schlaf. Nachdem sie aufgewacht war, hatte die Stimmung dann langsam umgeschlagen. Während sie schlief, hatten sich Jaco und Lulia die beiden Flaschen Champagner unter den Nagel gerissen, die Elise und Helen mit an Bord genommen hatten. Den Champagner, den sie trinken wollten, kurz bevor sie sich vom Heck des Schiffs stürzten.

Helen hatte etwas gesagt wie: »Sie hätten wenigstens fragen können«, woraufhin Jaco mit ausdrucksloser giftiger Stimme erwidert hatte: »Ich könnte Sie auf der Stelle rauswerfen, Sie alte Schachtel.« Das war genauso schockierend und unvermittelt gewesen wie eine Ohrfeige.

Helen hatte ihn aufgefordert zu gehen.

Er hatte sie aufgefordert, ihn doch »zum Gehen zu bringen«.

Helen hatte Lulia Hilfe suchend angesehen, von ihr jedoch nur ein Lachen geerntet.

Sie hatte es aufgegeben, die beiden zu bitten. Sie war eloquent, konnte sich aus allem herausreden, doch es war offensichtlich, dass die beiden sich nicht umstimmen ließen, und außerdem waren sie betrunken. Helen war auf Elises Bett umgezogen, um ihr näher zu sein, und hatte beschlossen, auf Leben und Tod zu kämpfen, falls die beiden versuchen sollten, ihre Freundin aus der Kabine zu werfen. Und sie nahm an, die beiden hatten die Entschlossenheit in ihrem Gesicht gesehen. Sie hatte gebetet, dass Althea oder Maddie oder der Arzt auftauchen würde, und hatte den ganzen Vormittag auf glühenden Kohlen gesessen und auf ein Klopfen an der Tür gewartet. Jaco hatte das Schild »Bitte nicht stören« an die Tür gehängt, was womöglich eine Erklärung dafür war, aber sie war trotzdem auch auf sie wütend, dass sie all das zuließen. Warum war niemand gekommen, um nach ihnen zu sehen? Ihre Freundin lag im Sterben. Daran bestand für sie kein Zweifel. Elise lag im Sterben, und sie hatte es verdient, in Frieden und mit Würde zu sterben, und nicht mit zwei Rohlingen in einem Raum eingesperrt. Sie hatte in Erwägung gezogen, den beiden zu sagen, dass sie nur wenig tun konnten, was einen Unterschied machen würde. Sie war bereits so weit unten gewesen, wie man es sein konnte. Sie hatte dem Tod unmittelbar in die Augen gesehen und gewonnen, doch das war eine Lüge. Schließlich hatte sie die Tabletten nie genommen und war nie auf dem Tranquility-Deck über die Reling geklettert. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die wenigen Menschen, die von der Golden Gate Bridge gesprungen waren und überlebt hatten, ihre Entscheidung im Fallen bereut hätten.

»Ah.« Jaco war fertig. »Hey, Helen. Hat Ihnen die Vorstellung gefallen?«

Lulia lachte.

»Hey, Helen. Ich spreche mit Ihnen.«

Gegen ihren Willen drehte sie sich um und sah ihn an. Er wischte sich am Bettlaken ab und grinste sie selbstgefällig an. Sie fand nicht, dass er eine gute Figur hatte. Graham war der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hatte, doch sie waren einmal an einem FKK-Strand gewesen, wo man alle möglichen Vergleiche hatte anstellen können. Jacos Bauch war zu rundlich, und seine Beine waren zu dünn. Er stampfte Richtung Bad, und Helen versuchte, das Plätschern auszublenden, als er sich erleichterte.

Du hast Hausbesetzer am Hals, Mädchen, hörte sie Graham unmissverständlich sagen.

Das war so unerwartet, dass sie lachen musste.

»Was ist denn so witzig?«, fauchte Lulia sie an. »Lachen Sie über mich?«

»Nein.«

»Ich finde, Sie sollten jetzt dann abhauen. Die alte Frau stirbt doch so oder so.«

»Lulia, Sie wissen doch, dass Elise nirgendwo anders hingebracht werden kann.«

»Ich will nicht, dass sie wieder hier reinpisst und reinkackt.«

»Das wird nicht passieren.«

»Wenn es passiert, dann werde ich …« Lulias Mund klappte zu. Ihre Augen weiteten sich, und sie stieß ein leises Jaulen aus, das den Lauten, die sie noch ein paar Minuten zuvor von sich gegeben hatte, nicht unähnlich war. Helen folgte ihrem starren Blick. Ein Mann, ein großer Mann, stand in einer Ecke des Raums neben dem Fernseher, sein Gesicht im Schatten, und rang die Hände. Helen konnte nicht beurteilen, ob er das aus Bestürzung tat oder ob es sich um eine Drohgebärde handelte. Sie stellte fest, dass es ihr egal war.

Und sie stellte fest, dass sie keine Angst hatte.

»Jaco!«, kreischte Lulia. Die blanke Panik in ihrer Stimme erfüllte Helen mit Schadenfreude. Gut, dachte sie. Gut.

Jaco kam mit lächerlich schlenkerndem Penis aus dem Bad geschossen. »Was ist?«

»Da, schau!« Sie deutete auf die dunkle Gestalt.

Jaco zuckte zusammen. »Ah!« Das Ganze war beinahe komisch. »Wie ist er hier reingekommen, verdammt?«

Der Mann trat vor.

»Helen«, flüsterte Elise, und Helens Herz machte einen Satz: Sie sprach! Gott sei Dank. »Das Summen. Hörst du es?«

»Nein.« Doch dann hörte sie es ebenfalls. Es war dieselbe Melodie, die sie schon einmal gehört hatten. Die Melodie, die sie aus Celines Bad gehört hatten, als sie an dem Abend, an dem das Schiff stehen geblieben war, bei ihr gesessen hatten.

Der Schrank ging mit einem Quietschen auf.

»Hast du ihn reingelassen?«, wollte Jaco von Lulia wissen. »Na, hast du?«

»Nein.«

Der Mann ohne Gesicht machte einen weiteren schlurfenden Schritt nach vorne.

»Ich bleibe nicht hier drin!«, kreischte Lulia. »Jaco …«

Irgendetwas von der Größe eines großen Hundes krabbelte auf dem Teppich auf Lulia zu.

»Helen«, flüsterte Elise. »Helen.«

Helen wendete sich von den Geschehnissen im Raum ab, zog Elise an sich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Sie glühte tatsächlich; ihre Haut verströmte einen scharfen Schweißgeruch.

Lulia schluchzte inzwischen und stammelte irgendetwas in ihrer Muttersprache.

Jemand schrie – Helen hoffte, dass es Jaco war, und dann rief er: »Wir hauen ab! Wir hauen ab, okay?«

Peng, peng.

Die Tür schlug zu.

Das Summen verstummte, und erst dann blickte Helen auf.

Der Raum war leer.

Sarah Lotz - Tag Vier - Band 2
titlepage.xhtml
C9E51F2B20E84A39A87C43EC8174201C.xhtml
7CE296BDB48040D29ACED22A29369DED.xhtml
8484875253404DAFA8861797A8720BCF.xhtml
A0869C781D104A2481B6AC4D24801CA1.xhtml
CD158C42B1834DDEA24B336800D3C43B.xhtml
893BA9768FDD4464818D0DF5B52BF72F.xhtml
EDECEB3F11FE4E849143C0183CC5467D.xhtml
ABE5B3F563ED4956A2BA24CE83C06E50.xhtml
C81FF718900740078FC53A6B4B4C1B66.xhtml
7CA5778476B1413EAC5841499D6920C6.xhtml
312EAE0C508549E0824684590F53773B.xhtml
17A20276ADFF49B299BF49A9AB8B30DD.xhtml
2B8349305E7F42E986A53C51B282017C.xhtml
C127FD1ED524492D808D0D540F862641.xhtml
584D3147DC4346A084465D9C490942A5.xhtml
A53EC9B0DCB64A0188E6E1F75C2BFAD3.xhtml
0199F587E7E049938F8421DC0016DF9F.xhtml
8FBBB958695A4395923B2A98E626A07B.xhtml
F79A81E000CA4176A872FBD2C05D951B.xhtml
0643F117DB574B3BA0C65899E17BD27C.xhtml
2756D7D77B6244B7946ED1EE9C51BFAD.xhtml
D4D183582D1849E8BF2E248699C1D243.xhtml
96BD649A17134E64A2C630106FD5DEEE.xhtml
2E6B23B4C5FD460CA8D1A7B15B25B637.xhtml
B8ECD9C471FC4424AAAD70AE80A4FFDD.xhtml
0EAE5B977CEC466AAD6EEE991E061C32.xhtml
DA5B79B87A16449FBF771025D13A9FD2.xhtml
7C53147940B348E88B4BE3689738611F.xhtml
CFD5953090C54549A9682A07493BBB77.xhtml
F84E3B1041F74306B884AB0145755C31.xhtml
F4198426E6634F35AA35B45011D7F032.xhtml
38D3A0B7B1CF4C7AB394B8EC5EF97898.xhtml
A9B61049F32D47A4B4101C2FC8E8D23A.xhtml
8B218AB38B4C4F14B8A2565C6C6121EC.xhtml
7CFA0C28B625452D9E4D2D0D5FF78C90.xhtml
02D3AC6EA53F4176888D63E5D5CF3790.xhtml
B83342F948E3425BB277B3A67EC7EF49.xhtml
5DD5A90EF1FF496CB1F3823E9FDDBB9B.xhtml
91EE2E0C782F4FA79CDCB6341E6A60D2.xhtml
4B642B8E50F5430BA7FC79F4543E625A.xhtml
32F17B0E78CE40E5AD5F8607C8802CA4.xhtml
34A479C55920462BA3D33FB37B9F8528.xhtml
91985CC96C61464CA14C1A5E2C8D4067.xhtml
68D25FB220554C999C23F1AEA9D9EEA6.xhtml
3881FF8B14964982AFD5DEB8F87B8465.xhtml
6819755CFFE54EB2A85F4C1976453F21.xhtml
A94D5EA87EED49DE8EE38DDA4002B196.xhtml
0BD67EC3732842A58195C06F0915C346.xhtml
55050A821B0A4F41A6F829CE87672E1D.xhtml
AFA4AC6C68194671887EF75BA1CC5583.xhtml
03C6BAB48D154CBD8949189BF52ABA17.xhtml
610488AE46A24ED88921542074EF3717.xhtml
5A9853EA122640DE89E1DEDF3485F7F5.xhtml
D1DADDF5C614448FA89147FDDF7F1B2B.xhtml
2061100E7B184254B49A6EC67B74B7F4.xhtml
692C23D60AC14180BE5A146339D9C7B0.xhtml
3F90CD3185C540E5A4C96148E30FC49C.xhtml
3D20EEE4FCC741EEBE1B75372D925DFF.xhtml
0E01DBBD65584878814350AFAEEC142A.xhtml
714E899E62E84F17AC93B61C0F2CCB20.xhtml
974A802C9EA942199AFFDFC70D7B13BE.xhtml
3A16143294CE43F3BA4E10A400F179E0.xhtml
630A70D69378406B9C0CED8E3124AE0C.xhtml
45BC29700CC14F6285C9AF0C3EDDA8F6.xhtml