Die Selbstmord-Schwestern
Die Durchsagen des Kreuzfahrtdirektors kamen im Minutentakt, wobei jede von ihnen hirnverbrannter war als die vorangegangene. »Die Dusche ist fein, wenn man muss klein, zur roten Tüte greift bloß, wer weiß, er muss groß.« Helen hatte den Verdacht, dass er die Situation aus irgendeinem verqueren Grund genoss. Und es war ihr nicht entgangen, dass es an echten Informationen mangelte. Bislang hatte es weder eine Nachricht vom Kapitän gegeben noch eine Erklärung, warum von Foveros niemand kam, um sie zu bergen oder an Land zu schleppen. Sie warf einen Blick auf die roten Plastiktüten, die jemand Elise und ihr hingelegt hatte, während sie unterwegs gewesen waren. Ihre Toilette funktionierte glücklicherweise noch, hatte jedoch ein beunruhigendes mahlendes Geräusch von sich gegeben, als sie das letzte Mal gespült hatte.
»Helen?«, rief Elise von ihrem Bett aus. »Könntest du mir bitte ein Glas Wasser bringen?«
»Natürlich. Wie fühlst du dich?«
Elise schenkte ihr ein tapferes Lächeln. »Besser, danke. Mir hat nur die Hitze zu schaffen gemacht.«
Als sie auf dem Lido-Deck fürs Frühstück angestanden hatten, war Elise schwindelig geworden. Helen hatte ihr zurück zu ihrer Suite geholfen und ihr zugeredet, sich eine Weile hinzulegen. Sie sah nicht gut aus; ihr Gesicht war gerötet, und sie konnte nur mit Mühe die Augen offen halten.
»Bist du dir sicher?«
»Hm. Ich glaube, ich döse noch fünf Minuten. Ist das okay?«
»Natürlich.« Helen schenkte ihr ein Glas lauwarmes Wasser ein – ihr Minibar-Kühlschrank funktionierte nicht mehr – und stellte es neben das Bett. Ruhelos räumte sie in der Kabine auf, dann nahm sie ihren Laptop und ihren E-Reader mit auf den Balkon hinaus. Hier draußen war es einige Grad kühler als in der Kabine; die Hitze hatte ihnen entgegengeschlagen, als sie vom Hauptdeck zurückgekehrt waren. Trotzdem gehörten sie zu denjenigen, die sich glücklich schätzen konnten. Immerhin bot ihnen ihre Balkon-Suite ein Mindestmaß an frischer Luft – wenngleich der Ausblick zum Teil von einem Rettungsboot verdeckt wurde. Das Schiff krängte noch immer und schien sich überhaupt nicht zu bewegen. Das Meer lag vollkommen still da, und das Wasser war von einer schmierigen Haut bedeckt, die sie an die Oberfläche einer vergessenen Tasse Tee erinnerte.
Sie setzte sich hin und fuhr ihren Laptop hoch. Ihr Abschiedsbrief befand sich noch immer auf dem Bildschirm und wartete darauf, kopiert und in eine E-Mail eingefügt zu werden. Sie hatte Wochen gebraucht, um die drei Zeilen zu formulieren, die sie an ihre Freunde und an Grahams Neffen schicken wollte, die sie auf Facebook auf dem Laufenden hielten, was ihr Leben anbetraf. Sie nahm an, sie konnte ihren Facebook-Status jederzeit in »tot« ändern.
Nicht witzig.
Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr leben möchte. Ich bin bei gesundem Verstand. Bitte fühlt euch nicht schuldig an meinem Entschluss, den ich nicht leichtfertig getroffen habe.
Das war natürlich eine Lüge. Sie war ein Mensch, der nichts leichtfertig tat, doch diese Entscheidung war – sie suchte nach einem Wort, mit dem sie sich beschreiben ließ – beinahe fahrlässig gewesen.
Die Idee war ihr zufällig an einem für die Jahreszeit ungewöhnlich feuchten Tag im Juni gekommen. Sie hatte im Garten gearbeitet und sich wie immer im Geiste mit Graham unterhalten. Sie hatte einen Stängel gestutzt und sich dann gedacht: Wozu die Mühe? Wen interessierte es schon, ob die Hecke geschnitten war oder nicht? Der Rest des Tages lag bedrohlich vor ihr, mit militärischer Präzision geplant, damit sie nicht zu viel Zeit hätte, um nachzugrübeln. Gartenarbeit von zehn bis zwölf, dann ein ausgedehnter Ausflug in den Supermarkt, ein Treffen mit der örtlichen Gesellschaft zum Schutz von Dachsen, für die sie als Sekretärin arbeitete, anschließend würde sie von drei bis fünf Uhr nachmittags lesen, ein paar Stunden fernsehen, sich ein einsames Abendessen für eine Person kochen, eine Schlaftablette nehmen und am nächsten Tag wieder genau dasselbe machen. Sie hatte es satt, von einer Stunde zur nächsten zu leben und dabei zu versuchen, die Kluft zu füllen. Sie hatte natürlich ihre Freunde, doch ihr lag ungemein viel daran, niemandem zur Last zu fallen, und sie waren mit ihrem eigenen Leben und mit ihren Enkelkindern beschäftigt. Mit einer seltsamen Euphorie hatte sie sich die Erde von den Händen gewischt, war ins Haus geeilt und hatte ihren Laptop eingeschaltet. Sie war erstaunt über die Menge von Informationen, die für potenzielle Selbstmörder verfügbar waren. Da waren natürlich Exit International und Dignitas, aber auch Dutzende Beratungsdienste sowie Hunderte von Websites, auf denen die Top Ten der narrensicheren Methoden zur Ausübung der Tat aufgelistet waren. Sie war zwanzig Stunden am Stück wach geblieben und schließlich auf Bettertogether.com gelandet, einem Forum für »diejenigen, die nicht alleine sterben möchten«. Ein Beitrag von »Frisch verwitwet« stach ihr ins Auge, ein bittersüßer Bericht darüber, wie die Verfasserin versuchte, ihre Tage zu füllen: Wie sie neue Möglichkeiten fand, um ihre Einkaufsbummel auszudehnen, wie sie sich bei jeder örtlichen Wohltätigkeitsveranstaltung, die sie ausfindig machen konnte, als freiwillige Helferin betätigte, wie sie sich für Fernkurse einschrieb, um Spanisch und Französisch zu lernen. Eine Gleichgesinnte. Helen hatte Stunden gebraucht, um eine Antwort zu formulieren, und hatte die Seite in der Hoffnung auf eine Reaktion alle dreißig Sekunden neu geladen. Zehn Minuten später war die Reaktion gekommen: »Wie reizend, einen anderen Schwan kennenzulernen!« So bezeichnete Elise sie beide: als Schwäne. Für immer im Schwebezustand der Trauer um ihre andere Hälfte gefangen.
Die beiden hatten wochenlang jeden Tag online miteinander gechattet – hatten nicht nur die Details ihres Alltags ausgetauscht, sondern auch freimütige Gespräche darüber geführt, warum sie beide auf der Website gelandet waren. Obwohl sie sich jetzt leibhaftig hatten, vermisste sie es seltsamerweise, von Elise E-Mails zu bekommen, und Elise gab zu, dass sie Helens Nachrichten ebenfalls vermisste. Schriftwechsel besaß eine Intimität, die persönlicher Interaktion irgendwie fehlte, wenngleich sie sich nicht beklagen konnte. Es war merkwürdig, wenn sie sich daran erinnerte, wie nervös sie gewesen war, bevor sie Elise zum ersten Mal getroffen hatte. Sie hatten geplant, vor der Kreuzfahrt ein paar Tage gemeinsam in einem Hotel in South Beach zu verbringen, und als sie in der Bar darauf gewartet hatte, dass Elise eintraf, hatte sie Schmetterlinge im Bauch gehabt, als würde sie sich mit einem Liebhaber treffen. Was in gewisser Weise auch zutraf, denn was hätte intimer sein können, als mit jemandem zu sterben? Sie war inzwischen auf ihren täglichen Austausch angewiesen und befürchtete, dass sich von Angesicht zu Angesicht womöglich alles ändern würde. Schließlich hätten sie auf dem Papier nicht unterschiedlicher sein können: Elise, die Hausfrau aus Pennsylvania; Helen, die pensionierte Steuerfachanwältin. Helen: britisch, belesen und reserviert (sie wusste, dass sie in ihrer Kanzlei hinter ihrem Rücken die Eiskönigin genannt worden war); Elise: offen, warmherzig und ungeniert süchtig nach Schundromanen und Fernseh-Soaps. Helen, die lebenslange Atheistin; Elise, die regelmäßige Kirchgängerin. Keine von beiden hatte Kinder, doch im Gegensatz zu Elise, von der sie wusste, dass sie diesen Aspekt ihres Lebens betrauerte, hatte Helen nie einen Sinn darin gesehen, ihre Gene weiterzugeben. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt ein gemeinsames Gesprächsthema fanden. Doch als sie sich trafen, verfielen sie sofort in die unkomplizierte Kameradschaft, die online zwischen ihnen geherrscht hatte – der Beweis dafür, dass sich Gegensätze ausgleichen konnten.
Sie ließ den Cursor über dem Löschsymbol schweben.
Eigentlich hätte sie schon gestern – vor elf Stunden – tot sein sollen. Sie beugte die Finger. Ihre Uhr war jetzt offiziell abgelaufen.
Ich möchte, dass ein gut aussehender Schiffsarzt meine Hand hält, wenn ich sterbe, nachdem ich eine vergiftete Weintraube gegessen habe.
Woher konnte Celine gewusst haben, dass Helen früher am Abend an dieses Zitat gedacht hatte? Sie hatte keine Buchausgabe von Endstation Sehnsucht dabei, und ihr E-Reader befand sich immer in ihrer Handtasche. Die Musik, die sie im Bad gehört hatten, und die Schatten, die sie im Glas-Balkongeländer gesehen hatte. Es gab für alles eine Erklärung, doch die Angst, die sie verspürt hatte – das instinktive Bedürfnis davonzulaufen –, verursachte ihr noch immer Unbehagen. Sie klappte ihren Computer zu, fächelte sich Luft zu und versuchte dann, wieder in Überredung abzutauchen. Vielleicht war das ihre letzte Gelegenheit, es zu lesen, und sie empfand plötzlich Bedauern, dass auf ihrem E-Reader so viele Bücher gespeichert waren, die sie niemals lesen würde. Sie brachte ein paar Minuten damit zu, die peinlicheren Titel zu löschen – zwischen ihren Graham Greenes, Jose Saramagos und David Mitchells lauerte ein gedeihendes Nest von schlüpfrigen historischen Liebesromanen. Da sie einfach nicht zur Ruhe kam, ging sie zurück in die Kabine.
Elise murmelte etwas im Schlaf, zuckte und öffnete dann die Augen. Sie blickte sich verschlafen um, als versuche sie herauszufinden, wo sie sich befand.
»Wie fühlst du dich?« Helen lächelte auf sie hinunter.
»Helen, ich habe von ihm geträumt. Er hat mit mir gesprochen.«
»Peter?«
Elise nickte und holte tief Atem. »Es war so echt, Helen.«
»Ich weiß.« Doch Helen wusste es nicht. Sie träumte nicht von Graham, aber manchmal, nur manchmal, glaubte sie, morgens seinen Geruch auf dem Kopfkissen wahrzunehmen.
»Er hat gesagt, ich soll aufhören, mich schuldig zu fühlen.«
»Schuldig? Weswegen denn?«
»Dass ich aus dem Haus gegangen bin, bevor er starb. Ich war nicht bei ihm.«
Noch eine Gemeinsamkeit von ihnen beiden: Auch Helen war nicht bei Graham gewesen, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. »Das ist nicht deine Schuld.«
»Ich weiß, meine Liebe. Helen, willst du es immer noch tun?«
Wollte sie? Helen ging abermals in sich. Ihre einzige Alternative war, nach Hause zu fahren. Sie hatte den Tauchsieder ausgeschaltet, hatte den Kühlschrank und die Gefriertruhe geleert. Sie stellte sich vor, wie sie in Heathrow in ein Taxi stieg, abends bei Nieselregen vor ihrer Haustür ankam, ihre Schlüssel auf den Tisch im Flur legte, wo Graham seinen geheimen Zigarettenvorrat aufbewahrt hatte, weiter in die kalte Küche ging, der jegliche persönliche Note fehlte, der jegliche Spur von ihm fehlte.
»Ja, ich will es immer noch tun. Und du?«
»Ja, meine Liebe. Ich will.«
Elises Situation war in vieler Hinsicht weitaus schlimmer als ihre eigene: Peters Arztrechnungen hatten sie ruiniert. Helen hätte ihr gerne geholfen, wenn Elise sie jemals darum gebeten hätte, doch das hatte sie nicht. Und warum hätte sie sie auch bitten sollen? Schließlich brauchte sich Elise keine Sorgen zu machen, sich womöglich noch weiter zu verschulden. Was ihre Pläne anbelangte, waren sie beide fest entschlossen gewesen. Helen, die keine Kinder und keine engen lebenden Verwandten hatte, hatte in Erwägung gezogen, ihre beträchtlichen Ersparnisse einer wohltätigen Einrichtung zu vermachen – einem Heim für Katzen vielleicht –, doch gab es so etwas heutzutage überhaupt noch? In Momenten wie diesen hörte sie Grahams Stimme deutlich – beinahe so, als stünde er vor ihr und unterhalte sich mit ihr. Sei doch nicht so verdammt bescheuert, Mädchen.
»Ich schlafe ein wenig, Helen«, sagte Elise, der die Augen bereits wieder zufielen. Helen hielt Elises Hand, bis deren Atmung gleichmäßig wurde. Liebe. Das war es, was sie für Elise empfand. Und sie wusste, dass ihre Empfindung erwidert wurde. Einmal hatten sie darüber gesprochen zusammenzuziehen, ihren Lebensabend vielleicht in einer Eigentumswohnung in Florida zu verbringen oder in einem Cottage in St. Ives. Doch das hätte das Unvermeidliche nur hinausgezögert. Es war besser, es jetzt gleich zu tun, solange sie beide noch mobil und voll zurechnungsfähig waren.
Sie stand auf und ging auf und ab. Klaustrophobie nagte an ihr, da sie es nicht gewohnt war, so untätig zu sein. Sie fand zwar keinen großen Gefallen an der Vorstellung, alleine auf dem Schiff herumzuwandern, aber ein kleiner Spaziergang konnte nicht schaden. Sie kritzelte eine Nachricht für Elise hin und ging vorsichtig nach draußen; langsam gewöhnte sie sich an die Schlagseite des Schiffs. Sie ging zur Galerie und blickte ins Atrium hinunter. Der Gästeservice-Schalter war inzwischen geschlossen, und einige Passagiere wanderten in dem Bereich ziellos umher wie nicht angebundene Ballons. Sie ging die Haupttreppe nach unten und vorbei am IT-Raum und an den Shops, in denen es dunkel war und deren Türen verschlossen waren. Sie hatte darin nicht eine einzige Sache gefunden, die sie gerne besessen hätte, während Elise einigen Schnickschnack bestaunt und dann gescherzt hatte, dass sie dort, wohin sie ging, keine Korallenohrringe brauchen würde.
Sie bog willkürlich ab und schlenderte in die Bibliothek, deren Einrichtung an einen viktorianischen Salon erinnern sollte. Die Atmosphäre war nicht gänzlich unbehaglich; das gedämpfte Licht passte zum dunklen – und offensichtlich unechten – »antiken« Mobiliar, und irgendwie fühlte es sich hier drinnen kühler an. Sie ließ den Blick über die Bücher schweifen, die in Vitrinen eingeschlossen waren. Zum größten Teil handelte es sich dabei um ramponierte Jeffrey-Archer- und Jodi-Picoult-Taschenbücher. Sie wollte sich gerade auf einem der Ledersessel niederlassen, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht alleine war. In einer Nische scharte sich eine Gruppe von Leuten um einen Tisch, die die Augen geschlossen hatten und sich an den Händen hielten. Irgendeine Art von Gebetskreis. Da Helen das unangenehme Gefühl hatte zu stören, nahm sie ein Exemplar von Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen in die Hand, das einsam und verlassen auf einem der Couchtische lag, und verließ den Raum.
Als Nächstes wanderte sie an dem geschlossenen Kasino und der verbarrikadierten Bar vorbei und nickte Jaco zu, der sich gerade darauf vorbereitete, auf der kleinen Bühne neben der Bar zu singen. Sie empfand erneut einen Anflug von Mitleid für ihn; er hatte kein Publikum außer ein paar Crewmitgliedern, die das Inventar polierten. Sie ging weiter, kam am Dreamscapes Dining Room vorbei, der geschlossen war, und schlüpfte in eine Sitznische vor dem Duty-free-Shop neben einem riesigen Panoramafenster, das den trägen Ozean einrahmte. Ein gut gekleidetes Paar in ihrem Alter schlenderte vorbei. Helen spürte, dass die beiden sie ansahen, und tat so, als wäre sie in das Buch vertieft.
»Hallo«, sagte die Frau.
»Hallo.« Helen wünschte sich, die beiden würden weitergehen.
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber Sie wirken ein wenig verloren. Ich habe Sie im Dreamscapes Dining Room gesehen – Sie essen ebenfalls spät, nicht wahr?« Die blauen Augen der Frau wirkten im Kontrast zu ihrer tief gebräunten Haut beinahe radioaktiv.
Helen nickte, richtete den Blick demonstrativ auf ihren Roman und hoffte, die Frau würde die Botschaft verstehen.
Sie verstand sie nicht. »Sie sollten nicht alleine sein.«
»Ich komme schon zurecht. Ich lese.«
»Oh! Sie sind aus England!«
»Ja.« Hau ab.
Die Frau schlüpfte neben sie in die Sitznische, und ihr Begleiter – ein Typ mit dicken Tränensäcken, bei dem es sich vermutlich um ihren Ehemann handelte – setzte sich ihr gegenüber. Die Frau holte ein Smartphone hervor und fing an, darauf zu scrollen. »Ich war letztes Jahr in London. Einfach toll dort. Moment. Sehen Sie sich das an!« Die Frau hielt Helen das Telefon vor die Nase. Auf dem Display war ein Foto ihres Ehemanns zu sehen, der ohne zu lächeln neben Prinzessin Diana posierte. »Wie hieß dieses Museum noch mal, Jimmy?«
»Madame Tussauds.«
»Genau. Madame Tussauds. Ich bin übrigens Annabeth, und das ist mein Mann Jimmy.«
»Helen.«
»Helen! Reizender Name. Ich hatte mal eine Tante, die Helen hieß. Erinnerst du dich noch an sie, Jimmy?« Ein Nicken. »Reisen Sie alleine, Helen?«
»Nein. Eine Freundin begleitet mich. Sie macht gerade ein Nickerchen in unserer Kabine.«
»Ach ja, stimmt. Wenn ich darüber nachdenke, erinnere ich mich, dass ich Sie mit jemandem im Speisesaal gesehen habe. Das kann ich ihr nicht verdenken. Es ist schrecklich heiß, nicht wahr? Jimmy und ich leben in Florida, deshalb brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass wir unseren Rückflug verpassen könnten, aber viele andere sitzen nicht im selben Boot wie wir. Oh, Jimmy, hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?«
Jimmy schenkte ihr ein leidgeprüftes Lächeln.
»Sie sollten sich hier nicht alleine aufhalten, Helen. Einige Leute werden langsam nervös. Und dann die Sache mit den Toiletten, die nicht funktionieren. Warum begleiten Sie uns nicht? Wir sind eine nette Gruppe, und wir passen alle aufeinander auf. Die meisten von uns sind Senioren, obwohl inzwischen auch ein paar Jüngere dabei sind.«
Ein Kellner näherte sich und reichte wortlos jedem von ihnen eine Flasche Wasser. Annabeth packte den Arm des Kellners, dessen Adern unter ihrer gebräunten Haut wie Regenwürmer aussahen. »Danke. Wie geht es Ihnen? Wie geht es dem Rest der Crew?«
»Uns geht es allen gut, danke, Ma’am.«
»Wir wissen zu schätzen, was Sie für uns tun. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nein. Tut mir leid, Ma’am.«
Sie lockerte ihren Griff und tätschelte seinen Unterarm. »Damien lässt uns bestimmt wissen, wann das Schiff repariert wird.«
Der Kellner nickte und entfernte sich.
»Helen, wir nehmen Sie unter unsere Fittiche. Kommen Sie mit uns mit und lernen Sie den Rest der Truppe kennen.«
»Nein. Ich komme schon zurecht. Trotzdem danke.«
»Ich dulde keine Widerrede. Ich kenne euch Engländer – so was von höflich. Kommen Sie schon und lernen Sie alle kennen. Wir sind ein freundlicher Haufen. Und Sie können Celine kennenlernen.«
»Celine del Ray?«
»Ja! Sie kennen sie?«
»Ich habe sie gestern Abend kennengelernt.«
»An Ihrer Sammelstation?«, fragte Jimmy und wirkte beinahe überrascht, dass es ihm gelungen war, auch einmal zu Wort zu kommen.
»Oh, das ist ja wunderbar«, sagte Annabeth lachend. »Deshalb nehmen Jimmy und ich an der Kreuzfahrt teil. Eine Freundin von uns, Leila, hat uns angemeldet, als sie auf Facebook sah, dass Celine mit Foveros auf Reisen geht. Celine hat uns so sehr geholfen, nicht wahr, Jimmy?« Jimmy nickte. »Wir haben nämlich unsere Tochter verloren, wissen Sie?«, erklärte die Frau nüchtern.
»Das tut mir sehr leid.«
»Vor sieben Jahren, Brustkrebs.«
»Das tut mir sehr leid. Wie schrecklich für Sie.«
»Oh, wie nett von Ihnen, das zu sagen. Und ich dachte mir … wenn ich noch einmal mit ihr sprechen könnte und sicher wüsste, dass sie nicht mehr leiden muss, wäre ich in der Lage, mit meinem Leben fortzufahren. Als ich das erste Mal zu einem Medium gegangen bin, hat Jimmy gemeint, ich wäre verrückt. Er glaubte nicht, dass es möglich ist, mit Verstorbenen zu kommunizieren. Und, wissen Sie, ich glaube, ich habe es insgeheim auch nicht für möglich gehalten. Diejenigen, an die wir uns gewendet haben … Man hat gesehen, dass sie nicht wirklich wussten, was sie tun. Und bei Celine hatten wir zunächst auch unsere Zweifel, nicht wahr, Jimmy?« Annabeth beugte sich vor. »Wir hatten die Geschichten gehört.«
Das Kinn des Mannes wackelte. Annabeth griff nach seiner Hand und drückte sie, und die beiden tauschten einen derart hingebungsvollen Blick, dass Helen es sich nicht verkneifen konnte, Rührung zu empfinden. »Aber was sie heute Morgen zu uns gesagt hat … Sie besitzt etwas Besonderes. Eine echte Gabe. Es war, als wäre Julia tatsächlich bei uns. Sie würde bestimmt eine Séance für Sie durchführen, wenn Sie sie darum bitten.«
»Wirklich, ich komme schon zurecht.«
»Es muss doch jemanden geben, mit dem Sie gerne Kontakt aufnehmen würden.«
»Nein, gibt es nicht.« Und selbst wenn es jemanden gegeben hätte, wäre die unfreundliche und verstörende Frau, mit der Elise und sie am Abend zuvor Zeit verbracht hatten, die letzte Person, die sie bitten würde.
»Glauben Sie nicht an den Geist, Helen?«
»Ich bin mir nicht sicher, woran ich glaube.« Eine Lüge. Sie war nur nicht in der Stimmung, sich bekehren zu lassen. Manchmal wünschte sie sich, sie würde an Gott und den Himmel glauben. Hin und wieder beneidete sie Elise, die sich sicher war, dass Peter auf sie warten würde, wenn sie starb. Helen hatte nichts dergleichen, was sie beruhigte. Und was würde sie überhaupt zu Graham sagen, wenn sie ihn wiedersah? Alles war so plötzlich geschehen. Ein Herzinfarkt. Ausgerechnet im Fitnessstudio. Ein Opfer der vierzig Zigaretten am Tag, die er geraucht hatte, seit er sechzehn war. Die Trauer wurde von Wut auf ihn abgelöst, weil er sie verlassen hatte. Graham war immer für sie dagewesen, hatte sie angetrieben, ausgelacht, ihr das Leben leichter gemacht. Es mochte nach einem Klischee klingen, doch er war tatsächlich ihr bester Freund gewesen; sie hatten alles gemeinsam gemacht, hatten niemand anderen gebraucht. Ohne ihn war das Leben … grau. Das war es. Düster.
Helen erhob sich. »Ich sollte wirklich zurück zu meiner Freundin.«
»Fünf Minuten, Helen. Lassen Sie sich nur kurz von uns zeigen, wo Sie uns finden, dann können Sie später immer noch kommen.«
Es war vermutlich leichter, wenn sie die beiden einfach begleitete. Sie hatte ohnehin nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen. Sobald sich das Schiff wieder in Bewegung setzte, konnten Elise und sie ihre Optionen noch einmal prüfen.
Helen gestattete es, sich zum Eingang der Starlight Dreamer Lounge bugsieren zu lassen, wo sie von einer kleinen Gruppe fröhlicher Männer und Frauen mittleren Alters empfangen wurde. Der Raum war gut gefüllt und der Großteil der Klubsessel besetzt. Auf der Bühne fummelte ein untersetzter Mann in den Zwanzigern an einem kleinen tragbaren Notstromaggregat herum. Helen erspähte Maddie, die mit gesenktem Kopf an der Seite saß.
»Ich kenne sie«, sagte Helen zu Annabeth.
»Maddie? Sie ist reizend. Sie kommt ebenfalls aus England. Celine stand an den ersten paar Tagen der Kreuzfahrt etwas neben sich, und sie hat sich richtig gut um uns alle gekümmert.«
»Ich gehe nur mal kurz zu ihr und rede mit ihr. Entschuldigen Sie mich bitte.«
»Sie kommen aber wieder zurück, oder? Ich möchte Sie nämlich allen vorstellen.«
»Oh, ich komme schon wieder«, log Helen. Sie würde kurz mit Maddie sprechen und dann das Weite suchen, bevor Celine auftauchte. Einige der Leute, die auf Stühlen saßen, dösten vor sich hin, doch die meisten lächelten sie freundlich an, als sie an ihnen vorbeiging. Der Raum schien eine Oase des Friedens zu sein: gedämpftes Licht, die Luft weniger stickig als in ihrer Suite, was angesichts der vielen Menschen in der Lounge erstaunlich war. Maddie blickte nicht auf, als sie sich ihrem Tisch näherte, und Helen war gezwungen, sie am Arm zu berühren.
Sie zuckte zusammen und kippte ihre Wasserflasche um. »Helen, was machen Sie denn hier?«
Helen sah zu dem Tisch hinüber, an dem Annabeth und Jimmy saßen und sie beobachteten. »Ich wurde eingeladen.«
»Die Freunde haben Sie gefunden, was? Haben Sie umzingelt.«
»Die Freunde?«
»Die Freunde von Celine. Die Gruppe von Leuten, die einen Aufschlag bezahlt haben, um mit ihr eine Kreuzfahrt unternehmen zu können.« Maddie winkte ab. »Spielt keine Rolle.«
»Wo ist Celine denn?«
»Hinter der Bühne. Sie bereitet sich vor. Ich habe sie machen lassen.«
»Und worauf bereitet sie sich vor?«
»Sie führt noch eine Séance durch. Ihre dritte heute, falls Sie es für möglich halten.«
»Dann fühlt sie sich also auf jeden Fall besser.«
»Oh, ja. Eigentlich würde ich sogar behaupten …«
Ohne Trara oder Ankündigung kam Celine alleine auf die Bühne gerollt. »Und, wie fühlen wir uns alle?«, tönte ihre Stimme durch den Raum. Helen warf einen sehnsüchtigen Blick zum Ausgang. Sie beschloss zu warten, bis das Publikum abgelenkt war, ehe sie sich davonschlich. »Ich möchte zunächst alle unsere neuen Freunde willkommen heißen. Es freut mich sehr, dass Sie uns Gesellschaft leisten können. Wir passen alle aufeinander auf. Das hier ist ein sicherer Ort. Solange wir zusammenhalten, kann uns nichts passieren. Sie müssen wissen: Jeder Einzelne von Ihnen hat seine eigenen Schutzengel und Geistführer, die über ihn wachen. Sie können sie vielleicht nicht sehen, aber Sie können sie spüren, nicht wahr?«
Eine Woge der Zustimmung schwappte durch den Raum. Helen warf Maddie einen Blick zu, doch sie betrachtete ihre Handrücken. Alle anderen starrten Celine gebannt an.
»Sie müssen wissen, Ihre Schutzengel und Geistführer sowie die Seelen derer, die von uns gegangen sind, treten vor. Sie müssen wissen, es gibt keinen Tod.« Celine hielt inne, und Helen war sich beinahe sicher, dass die Frau sie direkt ansah. »Doch das bedeutet nicht, dass das Leben kein wertvolles Geschenk ist.« Ein süffisantes Lächeln. Helen rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Moment … Meine Geistführer – Archie und meine ureigene Lizzie Bean – lassen mich wissen, dass einige wichtige Botschaften übermittelt und einige Verbindungen hergestellt werden müssen.«
Das Publikum schien den Atem anzuhalten.
»Ein Mann … ein Mann tritt vor. Ja. Sie müssen wissen, hier ist jemand anwesend, mit dem er Kontakt aufnehmen möchte. Bedeutet der Buchstabe G irgendjemandem etwas? Moment … Oh, es ist ein großer Mann. Ein gut aussehender Mann. Kleiner Bauchansatz, aber wir sind alle nur Menschen, nicht wahr? Wir können über solche kleinen Nebensächlichkeiten hinwegsehen, habe ich recht, Freunde?«
Aus der Zuschauermenge ertönte gedämpftes Lachen. Helen spürte ein schleichendes Kribbeln auf ihrer Haut. Sie wusste, was gleich kommen würde. »Und Sie müssen wissen, um unseren Körper brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, wenn wir übertreten. Jetzt … empfange ich … Verzeihen Sie, aber ich habe das Bedürfnis zu singen. Meine Stimme ist nicht die beste, aber der Mann, der nach vorne tritt, möchte, dass ich singe. ›She was right next door and I’m such a strong persuader.‹« Celine hielt inne. »Bedeutet das jemandem etwas?«
Eine Hand packte Helens Herz, und für einen Augenblick war sie überzeugt, sich übergeben zu müssen. Beruhige dich, sagte sie sich. Medien und Hellseher waren clever. Sie waren versiert im Cold Reading und im Täuschen.
»Niemand? Ich empfange es jetzt richtig deutlich. Und ich habe das Bedürfnis zu husten, wissen Sie?« Ein tiefes Lachen. »Ich habe schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber ich sage Ihnen, jetzt gerade verspüre ich ein starkes Bedürfnis.«
Helen stand steif auf. »Wir sehen uns später, Maddie«, hörte sie sich sagen.
Maddie blickte auf. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.«
Helen hastete hinaus und schlug sich in ihrer Eile das Schienbein an einem Tisch an. Sie spürte es kaum.
»Helen? Wohin gehen Sie denn?«, folgte ihr Annabeths Stimme.
Helen wischte sich die Tränen aus den Augen – unschlüssig, ob Schock, Wut oder Trauer sie hervorgebracht hatte – und rannte. Sie schoss am Kasino und an den geschlossenen Türen der Sandman Lounge vorbei, wobei ihr hageres Spiegelbild sie für einen Moment erschreckte. Celine konnte diesen Song unmöglich gekannt haben. Sie musste in ihrer Suite gewesen sein. Vielleicht hatte sie auf Facebook nach ihr gesucht: Bei ihr zu Hause hing ein Foto von Robert Gray an der Wand, vom letzten Mal, als Graham und sie ihn vor Jahren live in London hatten spielen sehen. Das war es. Sie entspannte sich langsam. Billige Tricks.
Als sie auf dem Veranda-Deck ankam, war ihre Atmung wieder gleichmäßig, doch sie sammelte sich, bevor sie die Suite betrat. Sie wollte Elise auf gar keinen Fall beunruhigen. »Elise?«
Elises Bett war leer, Kissen und Laken in Unordnung.
»Elise?«
Aus dem Bad ertönte ein erstickter Schrei. Helen riss die Tür auf. Elise lag auf dem Fußboden, ihr Rock nach oben geschoben. »Ich fühle mich nicht gut, Helen. Mir tut der Kopf weh. Ich glaube … Ich glaube, ich …«