Umwege auf dem Wege zu mir selbst

Paris, England, Italien, Spanien, Belgien, Holland, dies neugierige Wandern und Zigeunern war an sich erfreulich und in vieler Hinsicht ergiebig gewesen. Aber schließlich benötigt man doch – wann wußte ich es besser als heute, da mein Wandern durch die Welt kein freiwilliges mehr ist, sondern ein Gejagtsein? – einen stabilen Punkt, von dem aus man wandert, und zu dem man immer wieder zurückkehrt. Eine kleine Bibliothek hatte sich in den Jahren seit der Schule angehäuft, Bilder und Andenken; die Manuskripte begannen sich zu dicken Paketen zu stauen, und man konnte diese willkommene Last schließlich nicht ständig in Koffern durch die Welt schleppen. So nahm ich mir eine kleine Wohnung in Wien, aber es sollte keine wirkliche Bleibe sein, nur ein pied-à-terre, wie die Franzosen so eindringlich sagen. Denn das Gefühl des Provisorischen beherrschte bis zum Weltkrieg in geheimnisvoller Weise mein Leben. Bei allem, was ich unternahm, beredete ich mich selbst, es sei doch nicht das Eigentliche, das Richtige – bei meinen Arbeiten, die ich nur als Proben auf das Wirkliche empfand, und nicht minder bei den Frauen, mit denen ich befreundet war. Damit gab ich meiner Jugend das Gefühl des noch nicht zum Äußersten Verpflichtetseins und gleichzeitig auch das ›diletto‹ des unbeschwerten Kostens, Probens und Genießens. Schon in die Jahre gelangt, da andere längst verheiratet waren, Kinder und wichtige Positionen hatten und mit geschlossener Energie versuchen mußten, das Letzte aus sich herauszuholen, betrachtete ich mich noch immer als den jungen Menschen, als Anfänger, als Beginner, der unermeßlich viel Zeit vor sich hat, und zögerte, mich in irgendeinem Sinne auf ein Definitives festzulegen. So, wie ich meine Arbeit nur als Vorarbeit zum ›Eigentlichen‹, als Visitenkarte betrachtete, die meine Existenz der Literatur bloß ankündigte, sollte meine Wohnung vorläufig nicht viel mehr als eine Adresse sein. Ich wählte sie absichtlich klein und in der Vorstadt, damit sie meine Freiheit nicht durch Kostspieligkeit belasten könnte. Ich kaufte mir keine sonderlich guten Möbel, denn ich wollte sie nicht ›schonen‹, wie ich es bei meinen Eltern gesehen, wo jeder einzelne Fauteuil seinen Überzug hatte, der nur für Besuche abgenommen wurde. Bewußt wollte ich vermeiden, mich in Wien festzuwohnen und dadurch sentimentalisch an einen bestimmten Ort gebunden zu sein. Lange Jahre schien mir dies Mich-zum-Provisorischen-Erziehen ein Fehler, aber später, da ich immer von neuem gezwungen wurde, jedes Heim, das ich mir baute, zu verlassen, und alles um mich Gestaltete zerfallen sah, ist dies geheimnisvolle Lebensgefühl des Sich-nicht-Bindens mir hilfreich geworden. Früh erlernt, hat es mir jedes Verlieren und Abschiednehmen leichter gemacht.

Viele Kostbarkeiten hatte ich in dieser ersten Wohnung noch nicht zu verstauen. Aber schon schmückte jene in London erworbene Zeichnung von Blake die Wand und eines der schönsten Gedichte Goethes in seiner schwungvoll freien Handschrift, – damals noch das Kronstück meiner Sammlung von Autographen, die ich schon im Gymnasium begonnen hatte. Mit derselben Herdenhaftigkeit, wie unsere ganze literarische Gruppe dichtete, hatten wir damals Dichtern, Schauspielern, Sängern ihre Unterschriften abgejagt, die meisten von uns allerdings diesen Sport wie ihre Dichterei zugleich mit der Schule aufgegeben, während sich bei mir die Passion für diese irdischen Schatten genialer Gestalten nur noch steigerte und gleichzeitig vertiefte. Die bloßen Signaturen wurden mir gleichgültig, auch die Quote der internationalen Berühmtheit oder Preisbewertung eines Mannes interessierte mich nicht; was ich suchte, waren die Urschriften oder Entwürfe von Dichtungen oder Kompositionen, weil mich das Problem der Entstehung eines Kunstwerks sowohl in den biographischen wie in den psychologischen Formen mehr als alles andere beschäftigte. Jene geheimnisvollste Sekunde des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Vision und Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt, wo anders ist sie belauschbar, überprüfbar als auf den durchkämpften oder wie in Trance hingejagten Urschriften der Meister? Ich weiß von einem Künstler nicht genug, wenn ich nur sein geschaffenes Werk vor mir habe, und ich bekenne mich zu Goethes Wort, daß man die großen Schöpfungen, um sie ganz zu begreifen, nicht nur in ihrer Vollendung gesehen, sondern auch in ihrem Werden belauscht haben muß. Aber auch rein optisch wirkt auf mich eine erste Skizze Beethovens mit ihren wilden, ungeduldigen Strichen, ihrem wüsten Durcheinander begonnener und verworfener Motive, mit der darin auf ein paar Bleistiftstriche komprimierten Schöpfungswut seiner dämonisch überfüllten Natur geradezu physisch erregend, weil der Anblick mich so sehr geistig erregt; ich kann solch ein hieroglyphisches Blatt verzaubert und verliebt anstarren wie andere ein vollendetes Bild. Ein Korrekturblatt Balzacs, wo fast jeder Satz zerrissen, jede Zeile umgeackert, der weiße Rand mit Strichen, Zeichen, Worten schwarz zernagt ist, versinnlicht mir den Ausbruch eines menschlichen Vesuvs; und irgendein Gedicht, das ich jahrzehntelang liebte, zum erstenmal in der Urschrift sehe, in seiner ersten Irdischkeit, erregt in mir ehrfürchtig religiöses Gefühl; ich getraue mich kaum, es zu berühren. Zu dem Stolz, einige solcher Blätter zu besitzen, gesellte sich noch der fast sportliche Reiz, sie zu erwerben, ihnen nachzujagen auf Auktionen oder in Katalogen; wieviel gespannte Stunden danke ich dieser Jagd, wie viele erregende Zufälle! Da war man um einen Tag zu spät gekommen, dort hatte sich ein begehrtes Stück als Fälschung erwiesen, dann wieder ereignete sich ein Wunder: man besaß ein kleines Manuskript Mozarts und hatte es doch nur mit halber Freude, weil ein Streifen Musik davon weggeschnitten war. Und plötzlich taucht dieser von fünfzig oder hundert Jahren von einem liebevollen Vandalen abgeschnittene Streifen in einer Stockholmer Auktion auf, und man kann wieder die Arie zusammenfügen, genauso wie Mozart sie vor hundertfünfzig Jahren hinterließ. Damals waren meine literarischen Einnahmen freilich noch nicht zureichend, um in großem Stil zu kaufen, aber jeder Sammler weiß, wie sehr es die Freude an einem Stück steigert, wenn man sich eine andere Freude versagen mußte, um es zu erwerben. Außerdem setzte ich alle meine Dichterfreunde in Kontribution. Rolland gab mir einen Band seines ›Jean Christophe‹, Rilke sein populärstes Werk, ›Die Weise von Liebe und Tod‹, Claudel die ›Annonce faite à Marie‹, Gorkij eine große Skizze, Freud eine Abhandlung; sie wußten alle, daß kein Museum ihre Handschriften liebevoller hütete. Wieviel ist heute davon in alle Winde zerstoben mit anderen geringeren Freuden!

Daß das sonderbarste und kostbarste literarische Museumsstück zwar nicht in meinem Schranke, aber doch im gleichen Vorstadthaus sich barg, entdeckte ich erst später durch einen Zufall. Über mir wohnte in ebenso bescheidener Wohnung ein grauhaariges, ältliches Fräulein, ihrem Beruf nach Klavierlehrerin; eines Tages sprach sie mich in nettester Weise auf der Stiege an, es bedrücke sie eigentlich, daß ich bei meiner Arbeit unfreiwilliger Zuhörer ihrer Lehrstunden sein müsse, und sie hoffe, ich werde durch die unvollkommenen Künste ihrer Schülerinnen nicht allzusehr gestört. Im Gespräch ergab sich dann, daß ihre Mutter bei ihr wohnte und, halb blind, das Zimmer kaum mehr verließ, und daß diese achtzigjährige Frau niemand geringerer war als die Tochter von Goethes Leibarzt Dr. Vogel und 1830 von Ottilie von Goethe in persönlicher Gegenwart Goethes aus der Taufe gehoben. Mir wurde ein wenig schwindlig – es gab 1910 noch einen Menschen auf Erden, auf dem Goethes heiliger Blick geruht! Nun war mir immer ein besonderer Sinn der Ehrfurcht für jede irdische Manifestation des Genius zu eigen, und außer jenen Manuskriptblättern trug ich mir an Reliquien zusammen, was ich erreichen konnte; ein Zimmer meines Hauses war in späterer Zeit – in meinem ›zweiten Leben‹ – ein, wenn ich so sagen darf, kultischer Raum. Da stand der Schreibtisch Beethovens und seine kleine Geldkassette, aus der er noch aus dem Bett mit schon vom Tode berührter, zitternder Hand sich die kleinen Beträge für die Dienstmagd geholt; da war ein Blatt aus seinem Küchenbuche und eine Locke seines schon ergrauten Haars. Eine Kielfeder Goethes habe ich jahrelang unter Glas gehütet, um der Versuchung zu entgehen, sie in die eigene unwürdige Hand zu nehmen. Aber wie unvergleichlich diesen immerhin leblosen Dingen war doch ein Mensch, ein atmendes, lebendes Wesen, das noch Goethes dunkles, rundes Auge bewußt und liebevoll angeblickt – ein letzter dünner Faden, der jeden Augenblick abreißen konnte, verband durch dies gebrechliche irdische Gebilde die olympische Welt Weimars mit diesem zufälligen Vorstadthaus Kochgasse 8. Ich bat um die Verstattung, Frau Demelius besuchen zu dürfen; gerne und gütig wurde ich von der alten Dame empfangen, und in ihrer Stube fand ich mancherlei vom Hausrat des Unsterblichen wieder, das von Goethes Enkelin, ihrer Kindheitsfreundin, ihr geschenkt worden war: das Leuchterpaar, das auf Goethes Tisch gestanden, und ähnliche Wahrzeichen des Hauses auf dem Weimarer ›Frauenplan‹. Aber war sie nicht selbst das eigentliche Wunder mit ihrer Existenz, diese alte Dame, ein Biedermeierhäubchen über dem schon dünnen, weißen Haar, deren zerfalteter Mund gerne erzählte, wie sie die ersten fünfzehn Jahre ihrer Jugend in dem Hause am Frauenplan verbracht, das damals noch nicht wie heute Museum war und das die Dinge unberührt seit der Stunde bewahrte, da der größte deutsche Dichter sein Heim und die Welt für immer verließ? Wie immer alte Leute, sah sie diese ihre Jugendzeit mit stärkster Gegenständlichkeit; rührend war mir ihre Empörung, die Goethegesellschaft habe eine schwere Indiskretion begangen, indem sie die Liebesbriefe ihrer Kindheitsfreundin Ottilie von Goethe ›jetzt schon‹ publiziert habe – ›jetzt schon‹ – ach, sie hatte vergessen, daß Ottilie schon ein halbes Jahrhundert tot war! Für sie war Goethes Liebling noch da und war noch jung, für sie waren die Dinge Wahrheit, die uns längst Vorzeit und Legende geworden! Immer fühlte ich geisterhafte Atmosphäre in ihrer Gegenwart. Da wohnte man in diesem steinernen Haus, sprach durchs Telephon, brannte elektrisches Licht, diktierte Briefe in eine Schreibmaschine, und zweiundzwanzig Stufen empor, und man war in ein anderes Jahrhundert entrückt und stand im heiligen Schatten von Goethes Lebenswelt.

Ich bin später noch mehrmals Frauen begegnet, die mit ihrem weißen Scheitel emporreichten in heroische und olympische Welt, Cosima Wagner, der Tochter Liszts, hart, streng und doch großartig in ihren pathetischen Gesten, Elisabeth Förster, Nietzsches Schwester, zierlich, klein, kokett, Olga Monod, Alexander Herzens Tochter, die als Kind oft auf Tolstois Knien gesessen; ich habe Georg Brandes als alten Mann erzählen hören von seinen Begegnungen mit Walt Whitman, Flaubert und Dickens, oder Richard Strauss schildern, wie er Richard Wagner zum ersten Male gesehen. Aber nichts hat mich so berührt wie das Antlitz jener Greisin, der letzten unter den Lebenden, die von Goethes Auge noch angeblickt worden ist. Und vielleicht bin ich selbst wiederum schon der letzte, der heute sagen darf: ich habe einen Menschen gekannt, auf dessen Haupt noch Goethes Hand einen Augenblick zärtlich geruht.

Für die Zeit zwischen den Fahrten war nun der Rastpunkt gefunden. Doch wichtiger war eine andere Heimstatt, die ich gleichzeitig fand – der Verlag, der durch dreißig Jahre mein ganzes Werk bewahrt und gefördert hat. Eine solche Wahl bedeutet eine Entscheidung im Leben eines Autors, und sie hätte für mich nicht glücklicher fallen können. Einige Jahre vorher hatte ein dichterischer Dilettant kultiviertester Art den Gedanken gefaßt, seinen Reichtum nicht auf einen Rennstall zu verwenden, sondern auf ein geistiges Werk. Alfred Walter Heymel, als Dichter selbst eine unbeträchtliche Erscheinung, entschloß sich, in Deutschland, wo das Verlagswesen wie überall hauptsächlich auf kommerzieller Grundlage geführt wurde, einen Verlag zu begründen, der ohne Blick auf materiellen Gewinn, ja sogar in Voraussicht dauernder Verluste, als Maßstab nicht die Verkäuflichkeit, sondern die innere Haltung eines Werkes für seine Veröffentlichung entscheidend machte. Unterhaltungslektüre, so einträglich sie auch sein mochte, sollte ausgeschlossen bleiben, dagegen auch dem Subtilsten und dem Schwerzugänglichen Unterkunft geboten werden. Ausschließlich Werke reinsten Kunstwillens in reinster Form der Darbietung bei sich zu versammeln, war die Devise dieses exklusiven und zuerst nur auf das schmale Publikum der wirklichen Kenner angewiesenen Verlages, der mit der stolzen Absicht der Isolation sich ›Die Insel‹ und späterhin ›Insel-Verlag‹ nannte. Nichts sollte dort gewerbsmäßig gedruckt werden, sondern jeder Dichtung buchtechnisch eine äußere Form gegeben, die ihrer inneren Vollendung entsprach. So wurde jedes einzelne Werk mit Titelzeichnung, Satzspiegel, Type, Papier jedesmal neu zum individuellen Problem; selbst die Prospekte ebenso wie das Briefpapier erhoben sich bei diesem ehrgeizigen Verlage zum Gegenstand passionierter Sorgfalt. Ich erinnere mich zum Beispiel nicht, in dreißig Jahren einen einzigen Druckfehler in einem meiner Bücher gefunden zu haben oder selbst in einem Brief vom Verlag eine korrigierte Zeile: alles, auch die kleinste Einzelheit, hatte die Ambition des Musterhaften.

Das lyrische Werk Hofmannsthals wie Rilkes war im Insel-Verlag vereinigt, und durch ihre Gegenwart war von vornherein das höchste Maß als das einzig gültige aufgestellt. Man mag sich darum meine Freude, meinen Stolz denken, mit sechsundzwanzig Jahren der ständigen Bürgerschaft dieser ›Insel‹ gewürdigt worden zu sein. Diese Zugehörigkeit bedeutete nach außen hin eine literarische Rangerhöhung und zugleich nach innen eine verstärkte Verpflichtung. Wer in diesen erlesenen Kreis trat, mußte Zucht und Zurückhaltung an sich üben, durfte keinerlei literarische Leichtfertigkeit, keine journalistische Eilfertigkeit je sich zuschulden kommen lassen, denn das Signet des Insel-Verlages auf einem Buche bekräftigte von vorneweg für Tausende und späterhin Hunderttausende ebenso Garantie innerer Qualität wie vorbildlicher drucktechnischer Vollendung.

Nun kann einem Autor nichts Glücklicheres geschehen, als jung auf einen jungen Verlag zu stoßen und mit ihm gemeinsam in Wirkung zu wachsen; nur solche gemeinsame Entfaltung schafft eigentlich eine organische Lebensbedingung zwischen ihm, seinem Werk und der Welt. Mit dem Leiter des Insel-Verlags, Professor Kippenberg, verband mich bald herzliche Freundschaft, die noch verstärkt wurde durch beiderseitiges Verständnis für unsere privaten Sammelleidenschaften, denn Kippenbergs Goethesammlung entfaltete sich parallel mit dem Aufstieg meiner Autographensammlung in diesen dreißig gemeinsamen Jahren zur monumentalsten, die je einem Privaten gelungen. Ich fand bei ihm wertvolle Beratung und ebensooft wertvolle Abmahnung, konnte ihm anderseits wiederum durch meine besondere Übersicht über die ausländische Literatur wichtige Anregungen geben; so ist die Insel-Bücherei, die mit ihren vielen Millionen Exemplaren gleichsam eine gewaltige Weltstadt um den ursprünglichen ›elfenbeinernen Turm‹ gebaut und die ›Insel‹ zum repräsentativsten deutschen Verlag gemacht hat, auf einen Vorschlag von mir entstanden. Nach dreißig Jahren fanden wir uns anders, als wir begonnen: das schmale Unternehmen einer der mächtigsten Verlage, der anfangs nur in kleinerem Kreise wirksame Autor immerhin einer der gelesensten Deutschlands. Und wirklich, eine Weltkatastrophe und brutalste Gesetzesgewalt waren nötig, diese für uns beide gleich glückliche und selbstverständliche Verbindung zu lösen. Ich muß gestehen, daß es mir leichter war, Haus und Heimat zu verlassen, als nicht mehr das vertraute Signet auf meinen Büchern zu sehen.

Nun war die Bahn offen. Ich hatte fast unziemlich früh begonnen zu publizieren und doch innerlich die Überzeugung, mit sechsundzwanzig Jahren noch keine wirklichen Werke geschaffen zu haben. Was die schönste Errungenschaft meiner jungen Jahre gewesen, der Umgang und die Freundschaft mit den besten schöpferischen Menschen der Zeit, wirkte sich im Produktiven merkwürdigerweise als gefährliche Hemmung aus. Ich hatte zu gut gelernt, um wirkliche Werte zu wissen; das machte mich zaghaft. Dank dieser Mutlosigkeit beschränkte sich alles, was ich bisher außer Übertragungen veröffentlicht, in vorsichtiger Ökonomie auf kleines Format wie Novellen und Gedichte; einen Roman zu beginnen, hatte ich noch lange nicht den Mut (es sollte noch fast dreißig Jahre dauern). Das erste Mal, daß ich mich an eine breitere Form wagte, war im Dramatischen, und gleich mit diesem ersten Versuch begann eine große Versuchung, der nachzugeben mich mancherlei günstige Zeichen drängten. Ich hatte 1905 oder 1906 während des Sommers ein Stück geschrieben – im Stile unserer Zeit selbstverständlich ein Versdrama, und zwar antikischer Art. Es hieß ›Thersites‹; zu sagen, wie ich heute über dies nur formal noch gültige Stück denke, erübrigt sich durch die Tatsache, daß ich es wie fast alle meine Bücher vor dem zweiunddreißigsten Jahr – nie mehr neu drucken ließ. Immerhin kündigte dieses Drama schon einen gewissen persönlichen Zug meiner inneren Einstellung an, die unweigerlich nie die Partei der sogenannten ›Helden‹ nimmt, sondern Tragik immer nur im Besiegten sieht. In meinen Novellen ist es immer der dem Schicksal Unterliegende, der mich anzieht, in den Biographien die Gestalt eines, der nicht im realen Raume des Erfolgs, sondern einzig im moralischen Sinne recht behält, Erasmus und nicht Luther, Maria Stuart und nicht Elisabeth, Castellio und nicht Calvin; so nahm ich auch damals nicht Achill als die heroische Figur, sondern den unscheinbarsten seiner Gegenspieler, Thersites – den leidenden Menschen statt jenes, der durch seine Kraft und Zielsicherheit den andern Leiden erschafft. Das beendete Drama einem Schauspieler zu zeigen, selbst einem befreundeten, unterließ ich, immerhin schon weltklug genug, um zu wissen, daß Dramen in Blankversen und in griechischen Kostümen, selbst wenn von Sophokles oder Shakespeare, nicht geeignet sind, auf der realen Bühne ›Kassa zu machen‹. Nur der Form halber ließ ich ein paar Exemplare an die großen Theater schicken und vergaß dann ganz diesen Auftrag.

Wie groß war darum meine Überraschung, nach etwa drei Monaten einen Brief zu erhalten, dessen Umschlag den Aufdruck ›Königliches Schauspielhaus Berlin‹ zeigte. Was kann das preußische Staatstheater von mir wollen, dachte ich. Zu meiner Überraschung teilte mir der Direktor Ludwig Barnay, vormals einer der größten deutschen Schauspieler, mit, das Stück habe ihm stärksten Eindruck gemacht und sei ihm deshalb besonders willkommen, weil im Achill endlich die langgesuchte Rolle für Adalbert Matkowsky gefunden sei; er bitte mich also, die Erstaufführung dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin zu übertragen.

Ich erschrak beinahe vor Freude. Die deutsche Nation hatte damals zwei große Schauspieler, Adalbert Matkowsky und Josef Kainz; der erste, ein Norddeutscher, unerreicht durch die elementare Wucht seines Wesens, seine hinreißende Leidenschaft – der andere, unser Wiener Josef Kainz, beglückend durch seine geistige Grazie, seine nie mehr erreichte Sprechkunst, die Meisterschaft des schwingenden wie des metallischen Worts. Nun sollte Matkowsky meine Gestalt verlebendigen, meine Verse sprechen, das angesehenste Theater der Hauptstadt des Deutschen Reiches meinem Drama Patendienste leisten – eine dramatische Karriere unvergleichlicher Art schien sich mir, der sie nicht gesucht hatte, zu eröffnen.

Aber sich nie einer Aufführung erwartungsvoll zu freuen, ehe sich nicht wirklich der Vorhang hebt, habe ich seitdem gelernt. Zwar begannen tatsächlich die Proben, eine nach der andern, und Freunde versicherten mir, daß Matkowsky nie großartiger, nie männlicher gewesen als auf diesen Proben, da er meine Verse sprach. Schon hatte ich den Schlafwagenplatz nach Berlin bestellt, da kam in letzter Stunde ein Telegramm: Verschiebung wegen Erkrankung Matkowskys. Ich hielt es für einen Vorwand, wie er beim Theater üblich ist, wenn man einen Termin oder ein Versprechen nicht einhalten kann. Aber acht Tage später brachten die Zeitungen die Nachricht, Matkowsky sei gestorben. Meine Verse waren die letzten gewesen, die seine wunderbar beredten Lippen gesprochen.

Erledigt, sagte ich mir. Vorbei. Zwar wollten jetzt zwei andere Hoftheater von Rang, Dresden und Kassel, das Stück; innerlich jedoch war mein Interesse erlahmt. Nach Matkowsky mochte ich keinen andern Achill mir denken. Aber da kam eine noch verblüffendere Nachricht: ein Freund weckte mich eines Morgens, er sei von Josef Kainz gesandt, der zufällig auf das Stück gestoßen sei und darin eine Rolle für sich sehe, nicht den Achill, den Matkowsky hatte darstellen wollen, sondern die tragische Gegenrolle des Thersites. Er werde sich sofort mit dem Burgtheater in Verbindung setzen. Der Direktor Schlenther war nun als Bahnbrecher des gerade zeitgemäßen Realismus aus Berlin gekommen und leitete (sehr zum Ärger der Wiener) das Hoftheater als prinzipieller Realist; er schrieb mir sofort, er sehe wohl das Interessante in meinem Drama, leider aber nicht die Möglichkeit eines über die Premiere hinauswirkenden Erfolges.

Erledigt, sagte ich mir nochmals, skeptisch wie ich von je gegen mich und mein literarisches Werk gewesen. Kainz dagegen war erbittert. Er lud mich sofort zu sich; zum erstenmal sah ich den Gott meiner Jugend, dem wir als Gymnasiasten am liebsten Hände und Füße geküßt, vor mir, biegsam der Körper wie eine Feder, geistvoll und von herrlich dunklem Auge beseelt das Gesicht noch im fünfzigsten Jahr. Ihn sprechen zu hören, war ein Genuß. Jedes Wort hatte auch in der privaten Konversation seinen reinsten Umriß, jeder Konsonant die geschliffene Schärfe, jeder Vokal schwang voll und klar; heute noch kann ich manches Gedicht nicht lesen, sofern ich es einmal von ihm habe rezitieren hören, ohne daß seine Stimme mitspricht mit ihrer skandierenden Kraft, ihrem vollendeten Rhythmus, ihrem heroischen Schwung; nie mehr ist es mir so zur Lust geworden, die deutsche Sprache zu hören. Und siehe, dieser Mann, den ich wie einen Gott verehrte, entschuldigte sich vor mir jungem Menschen, daß ihm die Durchsetzung meines Stücks nicht gelungen sei. Aber wir sollten einander von nun an nicht mehr verlorengehen, bekräftigte er. Eigentlich habe er eine Bitte an mich – ich lächelte beinahe: Kainz eine Bitte an mich! – und zwar: er sei jetzt viel auf Gastspielen und habe dafür zwei Einakter. Ein dritter fehle ihm noch, und was ihm vorschwebe, sei ein kleines Stück, womöglich in Versen und am besten mit einer jener lyrischen Kaskaden, wie er sie – einzig in der deutschen Theaterkunst – dank seiner grandiosen Sprechtechnik, ohne Atem zu holen, in einem Guß kristallen niederstürzen lassen konnte auf eine selbst atemlos lauschende Menge. Ob ich ihm nicht einen solchen Einakter schreiben könnte?

Ich versprach, es zu versuchen. Und Wille kann, wie Goethe sagt, manchmal ›die Poesie kommandieren‹. Ich entwarf in der Skizze einen Einakter ›Der verwandelte Komödiant‹, ein federleichtes Spiel aus dem Rokoko mit zwei eingebauten großen lyrisch-dramatischen Monologen. Unwillkürlich hatte ich bei jedem Wort aus seinem Willen heraus gedacht, indem ich mich mit aller Leidenschaft in Kainzens Wesen und selbst Sprachweise hineinfühlte; so wurde diese gelegentliche Arbeit einer jener Glücksfälle, wie sie nie bloße Handfertigkeit, sondern einzig Begeisterung verwirklicht. Nach drei Wochen konnte ich Kainz die halbfertige Skizze zeigen mit der einen schon eingebauten ›Arie‹. Kainz war ehrlich enthusiasmiert. Er rezitierte sofort aus dem Manuskript zweimal jene Kaskade, das zweite Mal schon mit unvergeßlicher Vollendung. Wie lange ich noch brauche? fragte er, sichtlich ungeduldig. Einen Monat. Vortrefflich! Das klappe wunderbar! Er ginge jetzt für einige Wochen zu einem Gastspiel nach Deutschland, nach seiner Rückkehr müßten sofort die Proben beginnen, denn dieses Stück gehöre ins Burgtheater. Und dann, das verspreche er mir: wohin er immer reise, nehme er es in sein Repertoire, denn es passe ihm wie ein Handschuh. »Wie ein Handschuh!« Immer wieder von neuem wiederholte er, mir dreimal herzlich die Hand schüttelnd, dieses Wort.

Offenbar hatte er das Burgtheater noch vor seiner Abreise rebellisch gemacht, denn der Direktor telephonierte mir höchstpersönlich, ich möchte ihm den Einakter schon in der Skizze zeigen und nahm ihn sofort im voraus an. Die Rollen um Kainz wurden bereits den Burgschauspielern zur Lektüre übermittelt. Wieder schien ohne besonderen Einsatz das höchste Spiel gewonnen – das Burgtheater, unser Stadtstolz, und im Burgtheater noch der neben der Duse größte Schauspieler der Zeit in einem Werk von mir: fast zuviel war dies für einen Beginnenden. Jetzt bestand nur noch eine einzige Gefahr, nämlich, daß Kainz vor dem vollendeten Stücke seine Meinung ändern könnte, aber wie unwahrscheinlich war dies! Immerhin war die Ungeduld jetzt auf meiner Seite. Endlich las ich in der Zeitung, Josef Kainz sei von seiner Gastspielreise zurückgekehrt. Zwei Tage zögerte ich aus Höflichkeit, um ihn nicht gleich bei seiner Ankunft zu überfallen. Am dritten Tag aber ermannte ich mich und überreichte dem mir wohlbekannten alten Portier im Hotel Sacher, wo Kainz damals wohnte, meine Karte: »Zu Herrn Hofschauspieler Kainz!« Der alte Mann starrte mich über seinem Zwicker erstaunt an. »Ja, wissen’s denn noch nicht, Herr Doktor?« Nein, ich wußte nichts. »Sie haben ihn doch heute früh ins Sanatorium geführt.« Nun erst erfuhr ich’s: Kainz war schwerkrank von seiner Gastspielreise zurückgekommen, auf der er, die furchtbarsten Schmerzen vor dem nichtsahnenden Publikum heroisch bemeisternd, zum letztenmal seine großen Rollen gespielt. Am nächsten Tage wurde er wegen Krebs operiert. Noch wagten wir nach den Zeitungsbulletins auf eine Genesung zu hoffen, und ich besuchte ihn an seinem Krankenbett. Er lag müde da, abgezehrt, noch größer als sonst schienen die dunklen Augen in dem verfallenen Gesicht, und ich erschrak: über den ewig jugendlichen, den so herrlich beredten Lippen zeichnete sich zum erstenmal ein eisgrauer Schnurrbart ab, ich sah einen alten, einen sterbenden Mann. Wehmütig lächelte er mir zu: »Wird’s mich der liebe Gott noch spielen lassen, unser Stück? Das könnt’ mich noch gesund machen.« Aber wenige Wochen später standen wir an seinem Sarg.

Man wird mein Unbehagen verstehen, weiter im Dramatischen zu beharren und die Besorgnis, die sich fortan meldete, sobald ich ein neues Stück einem Theater übergab. Daß die beiden größten Schauspieler Deutschlands gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich, ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch. Erst einige Jahre später raffte ich mich wieder zum Dramatischen auf, und als der neue Direktor des Burgtheaters, Alfred Baron Berger, ein eminenter Fachmann des Theaters und Meister des Vortrags, das Drama sofort akzeptierte, sah ich mir beinahe ängstlich die Liste der ausgewählten Schauspieler an und atmete paradoxerweise auf: »Gott sei Dank, es ist kein Prominenter darunter!« Das Verhängnis hatte niemanden, gegen den es sich auswirken konnte. Und dennoch geschah das Unwahrscheinliche. Sperrte man dem Unheil die eine Pforte, so schleicht es durch eine andere ein. Ich hatte nur an die Schauspieler gedacht, nicht an den Direktor, der sich persönlich die Leitung meiner Tragödie ›Das Haus am Meer‹ vorbehalten und das Regiebuch schon entworfen hatte, an Alfred Baron Berger. Und tatsächlich: vierzehn Tage ehe die ersten Proben beginnen sollten, war er tot. Der Fluch war also noch in Kraft, der auf meinen dramatischen Werken zu lasten schien; selbst da mehr als ein Jahrzehnt später ›Jeremias‹ und ›Valpone‹ nach dem Weltkrieg in allen denkbaren Sprachen über die Bühne gingen, fühlte ich mich nicht sicher. Und ich handelte bewußt gegen mein Interesse, als ich 1931 ein neues Stück ›Das Lamm des Armen‹ vollendet hatte. Einen Tag, nachdem ich ihm das Manuskript zugesandt, bekam ich von meinem Freunde Alexander Moissi ein Telegramm, ich möchte ihm die Hauptrolle in der Uraufführung reservieren. Moissi, der aus seiner italienischen Heimat einen sinnlichen Wohllaut der Sprache auf die deutsche Bühne gebracht, wie sie ihn vordem nie gekannt, war damals der einzige große Nachfolger von Josef Kainz. Bezaubernd als Erscheinung, klug, lebendig und außerdem noch ein gütiger und begeisterungsfähiger Mensch, gab er jedem Werke etwas von seinem persönlichen Zauber mit; ich hätte mir keinen idealeren Vertreter für die Rolle wünschen können. Aber dennoch, als er mir den Vorschlag machte, regte sich die Erinnerung an Matkowsky und Kainz, ich lehnte Moissi unter einer Ausflucht ab, ohne ihm den wahren Grund zu verraten. Ich wußte, er hatte von Kainz den sogenannten Ifflandring geerbt, den immer der größte Schauspieler Deutschlands seinem größten Nachfolger vermachte. Sollte er am Ende auch Kainzens Schicksal miterben? Jedenfalls: ich für meine Person wollte nicht ein drittes Mal für den größten deutschen Schauspieler der Zeit Anstoß des Verhängnisses sein. So verzichtete ich aus Aberglauben und aus Liebe zu ihm auf die für mein Stück fast entscheidende Vollendung der Darstellung. Und doch, selbst durch meinen Verzicht konnte ich ihn nicht schützen, obwohl ich ihm die Rolle verweigert, obwohl ich seitdem kein neues Stück an die Bühne gegeben. Noch immer sollte ich ohne die leiseste Schuld in fremdes Verhängnis verstrickt sein.

Ich bin mir bewußt, in den Verdacht zu geraten, eine Gespenstergeschichte zu erzählen. Matkowsky und Kainz, dies mag als durch argen Zufall erklärbar gelten. Wie aber Moissi noch nach ihnen, da ich ihm doch die Rolle versagt und kein neues Drama seitdem geschrieben? Das ereignete sich so: Jahre und Jahre später – ich greife in meiner Chronik hier der Zeit voraus – war ich im Sommer 1935 nichtsahnend in Zürich, als ich plötzlich ein Telegramm aus Mailand von Alexander Moissi erhielt, er käme abends eigens meinetwegen nach Zürich und bitte mich, ihn unbedingt zu erwarten. Sonderbar, dachte ich mir. Was kann ihm so dringlich sein, ich habe doch kein neues Stück und bin gegen das Theater seit Jahren recht gleichgültig geworden. Aber selbstverständlich erwartete ich ihn mit Freuden, denn ich liebte diesen heißen, herzlichen Menschen wirklich brüderlich. Er stürzte aus dem Waggon auf mich zu, wir umarmten uns nach italienischer Art, und noch im Auto von der Bahn erzählte er mir in seiner prächtigen Ungeduld, was ich für ihn tun könne. Er habe eine Bitte an mich, eine ganz große Bitte. Pirandello habe ihm eine besondere Ehrung erwiesen, indem er sein neues Stück ›Non si sà mai‹ ihm zur Uraufführung übertragen habe, und zwar nicht bloß für die italienische, sondern für die wirkliche Welt-Uraufführung – sie solle in Wien stattfinden und in deutscher Sprache. Es sei das erste Mal, daß ein solcher Meister Italiens mit seinem Werke dem Ausland den Vorrang gebe, selbst für Paris habe er sich nie entschlossen. Nun liege Pirandello, der befürchte, es könnten in der Übertragung das Musikalische und die Zwischenschwingungen seiner Prosa verlorengehen, ein Wunsch besonders am Herzen. Er möchte gerne, daß nicht ein zufälliger Übersetzer, sondern ich, dessen Sprachkunst er seit langem schätze, das Stück ins Deutsche übertrage. Pirandello habe selbstverständlich gezögert, meine Zeit mit Übertragungen zu vertun! Und so habe er es selbst übernommen, mir Pirandellos Bitte vorzutragen. Nun war tatsächlich Übersetzen seit Jahren nicht mehr meine Sache. Aber ich verehrte Pirandello, mit dem ich einige gute Begegnungen gehabt, zu sehr, um ihn zu enttäuschen, und vor allem bedeutete es für mich eine Freude, einem derart innigen Freund wie Moissi ein Zeichen meiner Kameradschaft geben zu können. Ich ließ für ein oder zwei Wochen die eigene Arbeit; wenige Wochen später war Pirandellos Stück in meiner Übersetzung in Wien zur internationalen Uraufführung angesetzt, die überdies dank politischer Hintergründe besonders groß aufgezogen werden sollte. Pirandello hatte persönlich sein Kommen zugesagt, und da damals Mussolini noch als der erklärte Schutzpatron Österreichs galt, meldeten schon die ganzen offiziellen Kreise mit dem Kanzler an der Spitze ihr Erscheinen an. Der Abend sollte zugleich eine politische Demonstration der österreichisch-italienischen Freundschaft (in Wahrheit des Protektorats Italiens über Österreich) sein.

Ich selbst befand mich in diesen Tagen, da die ersten Proben beginnen sollten, zufällig in Wien. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit Pirandello, ich war immerhin neugierig, die Worte meiner Übertragung in der Sprachmusik Moissis zu hören. Aber mit gespenstischer Ähnlichkeit wiederholte sich nach einem Vierteljahrhundert dasselbe Geschehnis. Als ich frühmorgens die Zeitung aufschlug, las ich, Moissi sei mit einer schweren Grippe aus der Schweiz eingetroffen und die Proben müßten wegen seiner Erkrankung verschoben werden. Eine Grippe, dachte ich, das kann nicht so ernst sein. Aber heftig schlug mir das Herz, als ich mich dem Hotel näherte – Gott sei Dank, tröstete ich mich, nicht das Hotel Sacher, sondern das Grand Hotel! – um den kranken Freund aufzusuchen; die Erinnerung an jenen vergeblichen Besuch bei Kainz ward wie ein Schauer lebendig. Und genau das gleiche wiederholte sich über ein Vierteljahrhundert hinweg an abermals dem größten Schauspieler seiner Zeit. Es wurde mir nicht mehr erlaubt, Moissi zu sehen, das Fieberdelirium hatte begonnen. Zwei Tage später stand ich wie bei Kainz statt bei der Probe vor seinem Sarg.

Ich habe mit der Erwähnung dieser letzten Erfüllung jenes mystischen Bannes, der mit meinen theatralischen Versuchen verbunden war, in der Zeit vorausgegriffen. Selbstverständlich sehe ich in dieser Wiederholung nichts als einen Zufall. Aber zweifellos hat seinerzeit der rasch aufeinanderfolgende Tod von Matkowsky und Kainz bestimmende Wirkung auf die Richtung meines Lebens gehabt. Hätte dem Sechsundzwanzigjährigen damals Matkowsky in Berlin, Kainz in Wien die ersten Dramen auf die Bühne gestellt, ich wäre dank ihrer Kunst, die auch das schwächste Stück zum Erfolg tragen konnte, rascher und vielleicht ungerecht rasch in die breitere Öffentlichkeit vorgetreten und hätte dafür die Jahre des langsamen Lernens und Welterkundens versäumt. Damals habe ich mich verständlicherweise als vom Schicksal verfolgt empfunden, da das Theater mir schon im ersten Beginn Möglichkeiten, die ich nie zu träumen gewagt, erst so verlockend hinhielt, um sie mir dann im letzten Augenblick grausam zu nehmen. Aber nur in ersten Jugendjahren scheint Zufall noch mit Schicksal identisch. Später weiß man, daß die eigentliche Bahn des Lebens von innen bestimmt war; wie kraus und sinnlos unser Weg von unseren Wünschen abzuweichen scheint, immer führt er uns doch schließlich zu unserem unsichtbaren Ziel.

Stefan Zweig - Gesammelte Werke
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