ERSTES BUCH
Karen

Schritt ins Ungewisse

1

Die Person, die das Aufnahmebüro gerade betritt – groß, schön und hellhäutig –, ist Lisa Schönhage, eine betrogene Ehefrau. Sie fürchtet Krankenhäuser und Blutabzapfen, dennoch ist sie hergekommen, weil sie vom Verhältnis ihres Mannes mit einer anderen Frau und einem Kind aus diesem Verhältnis erfahren hat.

In dieser Zufluchtsstätte hofft sie, Hilfe und Lösung ihres Problems zu finden.

An der Türschwelle stolpert sie – mit ihren großen Füßen hat sie immer Schwierigkeiten – und hört die Bemerkung: »Manche Leute sind schneller als ihnen guttut.« Sie lächelt etwas verzerrt und tritt in ein beklemmendes Wartezimmer, in dem an die sechzig Menschen dichtgedrängt in völliger Unordnung sitzen oder stehen. Alle haben Gepäckstücke bei sich und zeigen den verschlossenen Ausdruck verängstigter Menschen. Erst jetzt wird sie sich der Augenpaare bewußt, die sich in Unmut ihr zuwenden.

Das Wartezimmer ist halbrund und hat kleine Fenster mit altmodischen Gardinen in einem für ein Krankenhaus ungewöhnlichen himmelblauen Muster. Durch einen Schalter ruft eine Schwester mit runder Nickelbrille in unregelmäßigen Abständen die Namen und nimmt die Personalien auf. Sie wirkt, diesem Wartezimmer angemessen, unpersönlich.

An diesem Tage hatte Lisa das Frühstück zu gewohnter Zeit gemacht und gewartet, bis ihr Mann aus dem Hause ging. Dann packte sie einen Koffer mit persönlichen Sachen (darunter das mit Spitzen besetzte Nachthemd ihrer Hochzeitsnacht) und schrieb auf einen Zettel:

»Erwin, ich muß ins Krankenhaus. Deine Nylonhemden hängen in der Waschküche, gieße den Orangenbaum zweimal in der Woche, aber bitte mit wenig Wasser. Wo ich mich befinde, wirst du von der Auskunft der Universitätsklinik erfahren. Am Freitagabend kommt Herr Weber (Klempner), um den Wasserhahn im Bad zu reparieren. Lisa.«

Sie scheute sich, Zärtlichkeiten zu Papier zu bringen, auch erwähnte sie mit keinem Wort ihre Kränkung. Als sie an die Schwierigkeiten dachte, mit denen Erwin fertig werden mußte, bedauerte sie beinahe ihren Entschluß, ins Krankenhaus zu gehen. Er war stets von ihr umsorgt worden und gehörte zu den Männern, die zu Hause nichts taten. Seit einer Woche, seit vergangenem Montag, war in Lisa etwas vorgegangen, wodurch ihr ganzes und, wie sie glaubte, glückliches und wohlgeordnetes Leben in Frage gestellt wurde. Und keinem anderen konnte sie sich offenbaren. Ein Gefühl des Ekels hatte sich ihrer bemächtigt, als hätte sie sich mit etwas Schmutzigem, Schmachvollem beschmiert. Sie durchwachte Nächte an der Seite ihres ahnungslosen Mannes, der sein Geheimnis gut gehütet wähnte. Beim Frühstück hatte er ein ausgeschlafenes Gesicht und gute Laune.

Am vierten Tag überwand sie ihre seltsame Schwunglosigkeit und ging zum Hausarzt.

»Sie leiden an Einschlafschwierigkeiten?« erkundigte er sich und schrieb schon, ohne mit weiteren Fragen Zeit zu vergeuden oder sie gar zu untersuchen, ein Rezept aus. »Und Bauchweh«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung, wobei sie auf ihre rechte Bauchseite zeigte. »Hier sticht's immerzu.«

Diesmal blickte der Hausarzt nicht auf, es war erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit er ein Rezept ausschrieb. »Es wird die Gallenblase sein«, meinte er und gab ihr das Rezept. »Nehmen Sie dreimal dreißig Tropfen von diesem Mittel und kommen Sie in drei Tagen wieder. Wenn's nicht besser wird …«

Das Wort Krankenhaus war in diesem Augenblick gefallen und erschien ihr wie die ersehnte Rettung. In der Nacht – sie sagte ihrem Mann nichts davon – verwandelte sich dieser Gedanke zu einer dringenden, nicht zu umgehenden Notwendigkeit. Sie empfand es wie eine Buße vor der Erlösung. Jetzt, nach drei Stunden Warten, kam es Lisa vor, als ob die blaue Gardine sie von ihrem bisherigen Leben auf eine endgültige Weise trennte. Diesem ersten Anflug von Heimweh versuchte sie standzuhalten.

Der Fähigkeit zu leiden ist bei den meisten Menschen eine Grenze gesetzt. Diese Erfahrung stand Lisa Schönhage noch bevor.

Sie ging gedankenlos die hundertfünfzig Meter vom Aufnahmebüro bis zur internen Klinik und dann die drei Stockwerke zu Fuß zur internen 7b-Station. Um diese Zeit war der Aufzug stark beansprucht. Sie trug ihren Koffer und eine Krankengeschichte mit ihren Personalien und der Diagnose des Hausarztes ›unklare Oberbauchbeschwerden‹.

Auf dem zweiten Treppenabsatz angelangt, fiel ihr auf, daß die Klinik ein Altbau war mit einer breiten Treppe und geräumigen Absätzen vor schwingenden Türen. Die Treppenwand war frisch geweißt, mit einem grasgrünen Sockel. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und Arzneien wurde immer durchdringender.

Ein Stockwerk höher sah sie als Wegweiser zu den Krankenstationen schwarze Pfeile auf einer Tafel angebracht. Die interne 7b-Station befand sich im zweiten Querflur links.

Der Chefarzt
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