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Monate waren vergangen. In diesem Winter hielten sie sich meist in Malvinas Wohnung auf. Sie war schon vor Jahren von zu Hause weggezogen und bewohnte eine schöne Dreizimmerwohnung in der Stadt. Von ihrer Verbindung wußte inzwischen alle Welt. Sie wurden überallhin eingeladen, gingen oft aus. Sie waren ein aufsehenerregendes Paar. Er wirkte vital und männlich, seine Anwesenheit beunruhigte die Frauen. Einmal sagte die spitzfindige und als geistvoll geltende Ursula Neff-Koch tief verwundert: »Er ist ja häßlich, dieser Bertram!«

Malvina schien seine bloße Anwesenheit den fehlenden Rahmen zu geben, sie wirkte neben ihm schmiegsam und anmutig.

Bald standen sie im Mittelpunkt des Gesellschaftslebens. Keine Gastgeberin, die etwas auf sich hielt, ließ sich durch ihre Ausreden beeindrucken. Sie gingen hin auf einen Drink und es wurden Nächte daraus.

Er wachte am nächsten Tag mit schmerzendem Kopf und belegter Zunge auf, seine Augen brannten, er war mutlos und hatte ein schlechtes Gewissen wegen seiner Arbeit. »Diese verdammten Partys!«

»Du siehst mitgenommen aus …«

»Ist das ein Wunder? Wir verbringen unsere Nächte, um uns zu besaufen, wir rauchen uns zu Tode … Ich versuche nett zu sein zu Menschen, die mir gleichgültig sind und mich langweilen. Am nächsten Tag bin ich erschlagen und kann mich bei meiner Arbeit nicht konzentrieren. Seit Monaten schlafe ich nur ein paar Stunden. Ich habe mich erwischt, wie ich heimlich meine Leber abtastete. Es ist lächerlich … deine Art zu leben widert mich an!«

»Meine Art?«

»Meine ist es jedenfalls nicht. Meine Hände zittern, wenn ich das Instrument in den Magen eines Patienten einführe. Ich träume davon, einmal zeitig ins Bett zu gehen, mit einem Buch …«

»Du übertreibst. Wir könnten zu Hause bleiben, eine Flasche Wein miteinander trinken und uns lieben, wenn uns danach zumute ist.«

Der Ärger mit ihr war, sie konnte nicht zu Hause bleiben. Sie war ein Nachtmensch und blühte erst richtig am Abend auf. Es gab kaum einen Abend, an dem sie nicht ein volles Programm absolvierten, sogar, wenn sie ausnahmsweise keine Einladungen hatten. Malvina gehörte zu den Menschen, die in einem Restaurant zu Abend essen und dann auf einen Drink gleich mehrere Bars aufsuchen.

»Ja«, sagte er resigniert. »Wir könnten es, aber wir tun es nicht. Übrigens, wir haben es schon mal versucht!«

»Du brauchst nicht bitter zu werden.«

»Ich werde nicht bitter. Ich habe einen Katzenjammer …« Sie lächelte und räkelte sich genüßlich im Bett. Ihr schien dieses Leben nichts auszumachen, ihr Gesicht war jung und frisch, was er von sich nicht behaupten konnte. Dann küßte sie ihn.

»Nein«, wehrte er ab. »Jetzt nicht.«

»Bitte«, sagte sie betroffen. »Vielleicht möchtest du lieber zur Sonntagsmesse.«

»Dein Gedanke ist nicht abwegig, obwohl …«

»Sprich dich ruhig aus.«

»Dort bekommt man keine Cocktails …«

»Jetzt verstehe ich, du suchst Streit. Cleo hat's dir angetan!«

»Was soll denn das schon wieder?«

»Deine Unschuldsmiene beeindruckt mich nicht. Cleo Bauenberg ist die Rothaarige, mit der du geschäkert hast, die Cleopatra. Du warst es, der nicht nach Hause wollte!«

»Das weiß ich nicht mehr nach all dem Zeug, das wir in uns hineingeschüttet haben. Eines weiß ich sicher: Ich habe in der vergangenen Nacht mit keiner geschäkert. Was du von dir nicht behaupten kannst …«

Sie war rasend eifersüchtig, ihre Szenen fürchtete er. Doch es kam noch schlimmer. Er, der nie eifersüchtig war, wurde unruhig, wenn sie einem anderen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Er wurde reizbar und streitsüchtig, was nicht seinem Charakter entsprach, und suchte nach einem Vorwand, um sie aus der Nähe dieses Mannes wegzubringen. Eines Tages, als sie einen anderen mit demselben Lächeln anlächelte, das er für sich beanspruchte, verspürte er einen Schmerz in der Magengrube und gestand sich seine Eifersucht.

Jetzt lag sie neben ihm und spielte die Verletzte. Er richtete sich ruckartig im Bett auf, die Haut seines nackten Oberkörpers war feucht und klebrig. Er kratzte an seinem unrasierten Bart, der am Kinn bläulich schimmerte, und sagte angeekelt: »Die Männer anderer Frauen mit den Frauen anderer Männer, immer dieselbe alberne Geschichte. Verdammte Partys!«

In der darauffolgenden Nacht betrank sich Bertram zum erstenmal in seinem Leben besinnungslos (»Ab morgen fangen wir ein neues Leben an, Hannes, laß uns heute noch zu Noldens gehen. Wir können unmöglich absagen. Hedda Nolden hat ihren Pariser Couturier eingeladen, den möchte ich schon lange für mich haben. Bitte, Liebling …«). Am nächsten Tag sagte er seine Termine ab und blieb im Bett, er grübelte nach. Am späten Nachmittag hatte er seinen Entschluß gefaßt. Er stand auf, seine Beine gehorchten ihm kaum. Malvina war zum Friseur gegangen, und er nutzte ihre Abwesenheit, packte in eine Aktentasche das Notwendigste und fuhr in die Zweizimmerwohnung zurück, die er nach seiner Rückkehr aus Amerika gemietet hatte.

Zum erstenmal seit Monaten ging er früh ins Bett, ohne Malvina.

Die nächsten vier Tage kam er sich heldenhaft vor, dann war die Selbstbeweihräucherung verflogen. Er zuckte bei jedem Läuten des Telefons. Nach einer Woche hatte Malvina noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben, am zehnten Tag fragte er sich kleinlaut, ob er die Sache nicht doch übertrieben habe. Er kritisierte sie in der festen Überzeugung, daß seine Lebensauffassung richtig sei. Hätte sie ihm nicht denselben Vorwurf machen können? Schließlich, sagte er sich, muß es einen würdigeren Abgang geben zwischen zivilisierten Menschen, als einfach davonzulaufen.

Bei dem Gedanken, sie anzurufen, meldete sich sein Stolz, dennoch spürte er, wie seine wilde Entschlossenheit dahinschmolz.

Eines Tages ging er nach einem erschöpfend langen Arbeitstag freudlos nach Hause. Als er die Türe seiner Junggesellenwohnung aufschloß, fiel ihm Malvina um den Hals. Die neue Erfahrung machte ihn versöhnlich und kompromißbereit. Zum erstenmal sprachen sie von einer gemeinsamen Zukunft, sie wollten sich nie mehr trennen. An diesem Abend faßten sie den Entschluß, ihr Leben grundlegend zu ändern. Sie wollten heiraten.

Bald zerstritten sie sich wieder. Aus einem nichtigen Anlaß und in blinder Wut lief er wieder davon, kehrte in seine Junggesellenwohnung zurück, wo sie am nächsten Tag voller Reue erschien.

Sie versuchten, sich wieder zu vertragen, und es klappte wieder nicht. Seit sie die Erfahrung gemacht hatten, daß sie einander brauchten, klappte es immer weniger. Sie strengten sich an, und es ging eine Zeit gut, nur war der Friede trügerisch. Eines Abends überraschte er sie, wie sie sich beim Tanzen von einem anderen leidenschaftlich küssen ließ. Er wußte, daß sie die Hölle erreicht hatten. Es war die Art Liebe, die tötete oder selbst starb.

Der Chefarzt
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