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Professor Auerbach hatte einen Schlaganfall bekommen, die rechte Körperseite war gelähmt. Bertrams Erscheinen in der Klinik wurde von seinen früheren Kollegen, Holländer voran, mit Mißfallen registriert, das bald in eine offen zur Schau getragene Feindseligkeit umschlug; dem Recht Auerbachs, seinen behandelnden Arzt selber zu bestimmen, mußten sie sich beugen.
Der alte Professor lag in einem Krankenzimmer seiner eigenen Privatstation, die jetzt von seinem Vertreter, Professor Holländer, geführt wurde. Bald sah sich Bertram in seinen Entscheidungen allein gelassen. Nur zu gut wußte er, welche moralischen Folgen Auerbachs Tod für ihn haben würde. Am Tag seiner Ankunft ließ er eine Couch in Auerbachs Krankenzimmer stellen. Fortan übernachtete er bei ihm.
In den darauffolgenden Tagen wurde Bertram, der seinen Patienten ständig beobachtete, in der Annahme bestärkt, daß es sich bei ihm um einen Verschluß eines Gehirngefäßes handelte. Er verzichtete auf eine Kontrastdarstellung der Gehirngefäße, weil er sich davon wenig für die Behandlung versprach. Der weitere Verlauf sollte Bertram recht geben. Der Patient zeigte eine rasche Besserung. Die Sprachstörungen verschwanden vollständig, die Lähmungserscheinungen bildeten sich bis auf einen geringen Rest zurück. Es blieb für Uneingeweihte unbemerkt.
Dennoch war der nächste Anfall nur eine Frage der Zeit. Die Veränderungen in seinen Gefäßen waren nicht wieder zu beheben. Der Patient könnte in absehbarer Zeit seine gewohnte Tätigkeit in kleinerem Umfang vorsichtig wieder aufnehmen. Doch würde es bei einem Versuch bleiben. Wenn er Glück hatte, könnte es noch zwei oder drei Jahre dauern. Aber seine Zeit war abgelaufen.
›Ein Ordinarius der inneren Medizin‹, sagte sich Bertram, ›kann sich eine Menge Krankheiten leisten, nur diese nicht!‹
Wie quälend sein Verlangen nach Malvina gewesen war, erfuhr er bei ihrem Wiedersehen.
Er entdeckte sie auf dem Flur gegenüber dem Krankenzimmer ihres Vaters. Sie lehnte aus dem geöffneten Fenster und blickte zu den Kastanienbäumen im Park. Mit einem überraschenden Windstoß kündigte sich ein Sommergewitter an. Ihr langes Blondhaar wehte im Wind.
Einen Augenblick blieb er unschlüssig hinter ihr stehen. Dann legte er die Hand auf ihre Schulter und sie wirbelte herum mit einem unterdrückten Aufschrei. Er sah, wie sich ihre Pupillen bewegten, mühsam hielt sie sich in der Gewalt, dann versuchte sie zu lächeln. Es war ein kläglicher Versuch. Sie flüsterte: »He …«
»He …«, murmelte er.
Mit demselben gequälten Lächeln sagte sie: »Ich danke dir, daß du gekommen bist.«
»Es war eine Selbstverständlichkeit.« Er beobachtete, wie sie ihr Gleichgewicht wieder erlangte. Sie versuchte, Konversation zu machen. »Ich finde es anständig von dir, daß du meinem Hilferuf gefolgt bist.« Hastig fügte sie hinzu: »Er ließ sich nicht davon abbringen. Von allen seinen Schülern, sagte er, vertraue er nur dir.«
»Schon gut«, unterbrach er sie; jegliche Art Anerkennung rief in ihm ein Gefühl des Unbehagens hervor. Er fragte: »Wie geht es dir?« Ihr betroffenes Gesicht verwirrte ihn.
»Gut geht es!« Sie lachte etwas schrill. »Mir geht es blendend!«
»Warum weinst du, Malvina?«
Ihre Augen öffneten sich weit, sie schwankte und legte mit einer spontanen Geste den Kopf an seine Brust: »Entschuldige, ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Die Freude des Wiedersehens.« Es sollte ein Scherz sein, es war keiner, sie lehnte sich schluchzend an ihn und zitterte am ganzen Körper, Tränen rannen ihr übers Gesicht. In diesem Augenblick wußte Bertram, daß sein langes Suchen soeben beendet war, der Kreis schloß sich. »Die Freude, gewiß …« Unerwartet trat Malvina einen Schritt zurück, für kurze Zeit spürte er noch die Wärme ihres Körpers. Er sah, wie sie sich wieder aufzurichten versuchte. Sie betrachtete ihre Nase im Spiegel einer ovalen Puderdose, die sie aus ihrer Handtasche nahm, und diese, schon unzählige Male gesehene Geste gab ihm einen Stich ins Herz. Lippenstift und Puder, eine uralte Handlung der Frauen, um ihre Gefühle zu ordnen. Sie versuchte, tapfer zu sein nach der Grundregel ihrer Erziehung: Jeder muß mit seinen Schwierigkeiten allein fertig werden. Arme Malvina.
»Ich glaubte keinen Augenblick daran, daß du kommen würdest, als ich dir das Telegramm schickte.« Über seine Schulter hinweg lächelte sie eine vorbeigehende Schwester an.
»Es lag nahe, daß ich kommen würde. Warum …«
»Weil du meinen Vater hassen mußtest, wie du auch mich haßt!«
»Unsinn …«
»Nein, nein, gib es zu, du haßt mich! Du hast mich immer gehaßt, vom ersten Augenblick an! Warum gibst du es nicht zu?! Du bist so eingebildet und hochnäsig, sogar deine Überlegenheit kotzt mich an. Warum schweigst du? Wer gibt dir das Recht, so arrogant zu sein? Hast du dir je die Frage gestellt, was ich durchgemacht habe, seit du mich verlassen hast? Nein? Warum auch, so eine wie ich!«
»Hör auf, Malvina …«
»Schweig!« In ihrer Erregung stand sie dicht vor ihm, hatte ihre Fäuste gegen sein Gesicht erhoben, als sie seinen Blick sah. Wie gebannt starrte sie in seine Augen und besann sich. Ihr verzerrtes Gesicht entspannte sich langsam, sie betrachtete verwundert ihre immer noch erhobenen Fäuste, dann sagte sie leise und verzweifelt: »Mein Gott, was soll aus uns werden?«
»Ich empfinde eine große Zärtlichkeit für dich. Daher trete ich in den Hintergrund. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich glaube.«
»Jetzt, wo ich älter geworden bin, habe ich meine Erfahrung«, sagte sie gewichtig.
Sie befanden sich in ihrer Wohnung. Sie hatte ihre ihm gut bekannte Stimmung, die nach Geständnissen verlangte. Er lag auf dem Rücken und rauchte eine Zigarette,
Malvinas Haar kitzelte die Haut seiner nackten Schulter. »Weil wir gerade dabei sind«, sagte er vorsichtig, »wie wäre es, wenn wir uns aussprächen. Was ist geschehen, seit wir …«
»Ich kann es mir denken, was du wissen willst. Frag mich.«
»Es gibt noch … jemand in deinem Leben?«
»Ja.«
»Wer ist es?«
»Schmidt.« Er war Staatssekretär im Kultusministerium mit guten Aussichten, eines Tages Minister zu werden. Bertram kannte ihn.
»Liebst du ihn?«
»Es ist leicht, Schmidt zu lieben.« Sie richtete sich ruckartig auf ihren Ellbogen auf, jetzt war ihr Gesicht über seinem. »Für eine Weile«, sagte sie nachdenklich, »habe ich diesen Zustand gekannt. Ich war sogar glücklich auf eine ganz gewöhnliche Weise. Ich war eine Frau und er ein Mann. Ich konnte mich so geben, wie ich war, ich brauchte nicht besser oder anders zu sein. Am Anfang fand ich es himmlisch. Verstehst du, er war ein Durchschnittsmensch, unkompliziert und sehr verständnisvoll, und er machte mich auch dazu …«
Mit ihren Lippen berührte sie sein Ohrläppchen und sagte leise: »Es gab Zeiten, wo ich meine Seele dafür hergegeben hätte, um von dir loszukommen. Und du?«
Er starrte mit verkrampftem Gesicht an die Decke; wenn er seine Kiefer zusammenpreßte, kamen die Kaumuskeln zum Vorschein, ein Zeichen, daß er mit seiner Beherrschung rang. Vorsichtig fragte Malvina: »Ist es dir auch so ergangen?«
»Ich bin allein mit meiner Rache geblieben.«
»Ich will dir alles sein, Frau und Geliebte«, sagte sie. »Ich bin eine Hure.«