Das Karussell dreht sich

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Dem ursprünglichen Vorhaben Bertrams, im zweiten Jahr ihrer Ehe ein Haus zu bauen, stand nichts mehr im Wege. Mit dem sehr aufwendigen Bau sollte im Frühjahr begonnen werden, als Malvina Bertram – bis dahin Feuer und Flamme – grundlos den Baubeginn verzögerte. Ohne sich um die Proteste des Architekten zu kümmern, verlegte sie den Beginn auf Ende Juni.

Zu Ostern erfuhr er den Grund ihres Zögerns. Errötend verriet sie ihm, daß das Kerckhoffsche Haus von der Bank zum Verkauf angeboten werde.

Elisabeth Kerckhoff hatte das für sie zu groß gewordene Barockhaus vor Jahren an einen Bauunternehmer und Grundstücksspekulanten verkauft, der inzwischen Konkurs angemeldet hatte. Ein Teil seines Vermögens, darunter das Haus, ging auf die Bank über.

Behutsam teilte ihm Malvina ihre Idee mit, das Haus zu erwerben. Er zuckte innerlich zusammen. Es war nicht nur die Erinnerung an Karen, er fand es geschmacklos, im Hause seiner verstorbenen Verlobten mit einer anderen zu leben.

Der Familienrat führte zunächst zu keinem Ergebnis. Malvina argumentierte mit Zahlen und Rechenbeispielen, sie tat es völlig leidenschaftslos, womit sie bewies, wie gut sie ihn kannte.

Wirtschaftlich gesehen hatte sie die Vernunft auf ihrer Seite, sagte er sich, solche Häuser werden heutzutage nicht mehr gebaut. Diese solide Bauweise gehört endgültig der Vergangenheit an, vom Geschmack ganz abgesehen, man brauchte sich nur die dicken Kellermauern anzusehen. Dieser Kauf wäre ein Glücksfall. Schließlich erwarben sie das Haus nicht von Gräfin Kerckhoff, inzwischen hatte es einem Fremden gehört.

Elisabeth selbst bestand darauf, daß sie das Haus kauften. Sie wohnte jetzt in einer Zweizimmerwohnung in der Nähe der Universität. Er besuchte sie, so oft er konnte. Sie hatte kaum an Vitalität eingebüßt, und sie plauderten lange miteinander. Die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen war eher größer geworden.

»Dich in diesem Haus zu sehen«, sagte sie, als er ihr etwas stotternd von Malvinas Vorhaben berichtete, »war Karens sehnlichster Wunsch.«

Am Tag darauf erklärte sich Bertram mit dem Kauf des Hauses einverstanden. Drei Monate später zogen sie ein. Im Laufe der Zeit wandelten sich seine Gefühle. Die Erinnerungen an Karen, die ihn in den ersten Monaten in diesem Hause überfielen, verblaßten; bald schwanden sie ganz. Er liebte das Haus. Nach weiteren zwei Jahren vergaß er fast völlig, daß einst Karen hier gelebt hatte.

Das Karussell in seiner Sprechstunde drehte sich weiter: Die Gräfin Schöndorf bat ihn, ihre Freundin Baronin Grappentin zu untersuchen, diese ihrerseits legte ihm ihren Schwager – in der hiesigen Gesellschaft als der junge Werther bestens bekannt – ans Herz. Er wurde zeitweise vom unwiderstehlichen Drang befallen, seine sechsjährige Tochter zu erwürgen. An solchen Tagen traute er sich nicht heim, übernachtete er bei Freunden. Der Staatssekretär Klose empfahl den Ministerialdirektor Hummer, der anschließend um einen Termin für seinen Chef, den Justizminister, bat, der neu im Kabinett war und Bertram noch nicht kannte. Die Opernsängerin Hochrhein machte sich Sorgen um einen gutaussehenden Musikstudenten und beglich seine Arztrechnungen, der zweite Mann der Tochter des Industriellen Hansch litt an hartnäckigen Potenzstörungen, die politischen Freunde Lothar Hessels kamen zu ihm, ihre Töchter und ihre Schwiegersöhne, Malvinas Freundinnen und ihre Ehemänner; bald war seine Zeit völlig verplant.

Er, der immer stolz darauf war, sich für jeden einzelnen Patienten genügend Zeit zu nehmen, beeilte sich jetzt immer mehr. Er straffte die Zeit für die Vorgeschichte, beschränkte sich auf kurze Fragen und einsilbige Antworten, bald begann er selbst die körperliche Untersuchung schneller und lässiger durchzuführen. Eines Tages reichte auch dies nicht mehr. Die Wartezeiten für seine Sprechstunden wurden immer länger, die Termine waren schon Monate im voraus ausgebucht. Der Kreis hatte sich geschlossen. Professor Bertram nahm kaum neue Patienten an, nur aus Gefälligkeit. Fortan sah man in seiner Praxis immer dieselben Gesichter, die von einer Kontrolluntersuchung zur anderen in regelmäßigen Abständen erschienen, zum Teil waren es dieselben Gesichter, die er ebenso regelmäßig in seinem gesellschaftlichen Kreis sah. Er kannte ihr Leben im Detail, ihre Ehepartner und ihre Liebschaften, was sie zu sein vorgaben und was sie wirklich waren, er kannte ihre Familientragödien, ihre Lügen und ihre Depressionen. Sie berauschten sich vor ihm in masochistischen Selbstbezichtigungen und nutzten seine Schweigepflicht aus, sie täuschten Reue vor, die sie nicht empfanden, es war eine Art Beichte, ohne auf die Vergebung ihrer Sünden angewiesen zu sein. Es deprimierte ihn.

Er hatte ein großes Haus und einen Park mit altem Baumbestand, gepflegte Rasenflächen und Hecken und einen Swimmingpool, er hatte einen Gärtner, der zugleich Chauffeur war, und vier weitere Hausangestellte; er hatte ein Jagdrevier, und wenn er nicht regelmäßig zum Golfspielen ging, dann nur, weil er die Zeit dafür nicht erübrigen konnte. Er gehörte verschiedenen Ausschüssen und exklusiven Clubs an, die Spitze einer politischen Partei zählte zu seinen Freunden und seine Patienten zur Creme der Gesellschaft; er hatte eine hübsche, begehrenswerte Frau. Johannes Bertram hatte alles erreicht, wogegen er sich in seinem jugendlichen Idealismus gesträubt hatte. Er machte die überraschende Erfahrung, daß er diese Art Leben als recht angenehm empfand. Er genoß es.

Der Chefarzt
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