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Erst wenn man reinen Tisch machen will, merkt man seine Abhängigkeit. Zunächst spürte Bertram eine Erleichterung. Doch sie war nur von kurzer Dauer. Bald überfielen ihn Erinnerungen und das Bedauern, an der Vergangenheit zu hängen. Er träumte wieder von Karen, ihr Gesicht war verschwommen und ähnelte sonderbarerweise Malvinas. Mit Bedauern dachte er an Elisabeth Kerckhoff und verspürte eine verspätete Reue, weil er sich die letzten Jahre kaum um sie gekümmert hatte. Er dachte an Stephan und sah ihre Freundschaft zum erstenmal ernsthaft gefährdet, dachte an seine frühere Klinik und an Holländers unaufhaltsamen Aufstieg.
Es ist im späten Frühjahr. Wenn er abends nicht zu spät aus der Klinik kommt, geht er mit der tschechischen Ärztin Hana Komarova in ein kleines Gartenrestaurant; ihr Tisch steht unter einem blühenden Kirschbaum. Die würzige Abendluft ist schwer vom Geruch der Erde.
Sie sprechen offen miteinander. Er erzählt ihr von Stephans Besuch, von Auerbachs Vorschlag, ihm seine Nachfolge zu sichern, und erwähnt am Rande Malvina.
Sie hört ihm zu, ihre Mandelaugen wirken bei dem flackernden Licht der Kerze undurchsichtig, und sie überlegt eine Weile, nachdem er seine Erzählung beendet hat. Dann versucht sie mit gezwungener Sachlichkeit ihn zu überzeugen, daß er unbedingt von hier fort muß. Er müsse seinen weiteren Weg an der Seite dieser unglücklichen Malvina Auerbach gehen, die ihn über alles liebe.
»Bist du verrückt?« fragt er erstaunt und kann die Zärtlichkeit in seiner Stimme nicht verbergen. Dann wird sein Gesicht verschlossen: »Sie ist für mich gestorben, ich werde nie mehr zurückkehren.«
»Sie liebt dich.«
»Du sprichst wie eine … eben eine Frau«, sagte er.
Die Stadt liegt unter ihnen; keine hundert Meter entfernt beginnt das Tal. Er sieht die Hügel in der Dämmerung. Lange, nachdem es im Tal bereits dunkel geworden ist, werden die Bergspitzen von den letzten Strahlen der Sonne erhellt. Eine schöne Stimmung.
»Du hast mir nie gesagt, was ich gern wüßte …«, murmelt Hana und ihr blasses Gesicht verliert seine gewohnte Sicherheit. Verschämt fragt sie: »Liebst du mich?«
»Was für eine Frage«, murmelt er ebenso und vermeidet dabei, ihr in die Augen zu sehen.
Um diese Zeit stellte er sie seinen Eltern vor, nicht ohne die heimliche Genugtuung eines Seitenhiebes auf Malvina. Nach Karen und Malvina war Hana die dritte, die er mit nach Hause brachte. Auf Anhieb verstand sie sich mit seinem Vater, was ihn nicht überraschte (Cornelius Bertram hatte eine Schwäche für schöne Frauen, was er nie zugab). Seine Mutter, von Natur aus zurückhaltend und abwartend, wurde von Hana nicht so schnell erobert, dafür um so nachhaltiger. Bei Karen war sich seine Mutter wegen ihrer Herkunft nicht sicher, Malvina hatte sie nie akzeptiert. Jetzt fand Rosa Bertram in dieser jungen, sehr fraulich wirkenden Tschechin, die ihren Sohn bis zur Selbstverleugnung liebte, die Schwiegertochter ihrer Träume.
Sie verbrachten zur Freude seiner Eltern, die ihn selten sahen, eine ganze Woche zu Hause. Die Oberpfalz gefiel Hana sehr und sie unternahmen lange Ausflüge. Er zeigte ihr seine Heimat mit einem Gefühl des Stolzes, den er bei sich nicht vermutete. Hana wollte immer mehr wissen, sie ermutigte ihn, und bald ertappte er sich, wie er sie durch seine Kindheit führte, er erlebte sie noch einmal mit den Augen des Erwachsenen, neben ihm eine aufmerksame, verständnisvolle Zuhörerin. Später sprach er plötzlich von Heirat. Hana, die gerade dabei war, ihm die Ähnlichkeiten der Oberpfalz mit der Hohen Tatra zu schildern, hörte mitten im Satz auf.
Einmal ausgesprochen, war dieses Wort nicht mehr wegzudenken. Von der Begeisterung der anderen mitgerissen, fand er diese Heirat als einzig würdigen Ausweg aus seiner jetzigen Situation; zu ihm gehörte eine Frau wie sie.
Bald machte die ganze Familie Hochzeitspläne, und es gab die ersten Differenzen zwischen seinen Eltern wegen der Zahl der Einzuladenden.
Als er sich an die Tage erinnerte, dachte er, daß dies die einzige Zeit war, wo er die Gemeinsamkeit des einfachen Familienlebens erlebt hatte. Am Ende dieser glücklichen Woche fuhren sie zurück, nachdem sie versprochen hatten, in einem Monat wiederzukommen. Dann sollte auch der endgültige Termin der Hochzeit festgelegt werden.
Hanas Abschied von seinen Eltern war herzlich, zum zweitenmal, seit er sie kannte, sah er Tränen in ihren Augen. Die nächsten zwei Wochen verliefen ruhig.
Eines Abends, er fuhr bereits aus der Klinik, wurde ihm von einem Postboten vor dem Pförtnerhaus ein Telegramm überreicht. Er saß im Auto und las bei laufendem Motor: »Papa schwer erkrankt. Will dich an seinem Bett haben. Malvina.«