6

Bertram bekam erst später Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung, die Universitätskarriere anzustreben, als seine Position gefestigt war und sein Verhältnis zu Auerbach eine Änderung erfuhr, die auf gegenseitiger Achtung beruhte. Bertram erfreute sich bei seinen Patienten allgemeiner Beliebtheit, er ließ sich genug Zeit für jeden und gab den kranken Menschen das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Er hatte seine überaus geliebte Arbeit im Labor, seine Freundschaft mit Stephan, und er hatte Karen.

Die Unzufriedenheit kommt oft zu einer Zeit, wo man alle Gründe hat, glücklich zu sein.

Besorgt sah Bertram, wie die Zeit auf eine endgültige Entscheidung drängte. Wenn er sich erst einmal habilitiert hatte, stand ihm der lange, beschwerliche Weg eines Hochschullehrers bevor. Er beobachtete die zunehmende Spezialisierung, eine Tendenz, die aus Amerika kam und zweifelsohne ihre Vorteile hatte. Nur wurde die Medizin dadurch immer mehr zersplittert, und die Ärzte, jeder in sein kleines Gebiet eingeengt, waren nicht mehr in der Lage, die Zusammenhänge im menschlichen Körper zu erkennen. Sein Idealbild eines Internisten, der in der gesamten inneren Medizin zu Hause war, war im Schwinden, die Zeit der großen Kliniker vorüber.

Sollte er sein restliches Leben an der Universität verbringen, um den Studenten beschränkte Aufsatzthemen zu stellen und in solchen Aufsätzen pedantisch unwichtige Kleinigkeiten zu ihren (und zu seinem) Lebensinhalt werden zu lassen? Sollte er in der überflüssigen Perfektion der Subspezialisierung, die den Menschen zu einem Organträger degradierte, gewissermaßen nach Kommata und Buchstaben forschen und sein Leben – mit kleinen Ausnahmen – inmitten uninteressanter Existenzen verbringen?

Von einem plötzlichen Heimweh übermannt, dachte Bertram gefühlvoll an sein Elternhaus und seine Kindheit. Bräuchten die Menschen auf dem Lande nicht dringender gute, erfahrene Ärzte? Die meisten Ärzte ließen sich in den Großstädten nieder, das Leben auf dem Lande behagte ihnen oder ihren Gattinnen nicht.

Er dachte öfter an seinen Vater, an sein einfaches, erfülltes Leben. Vor seinem geistigen Auge defilierten die Provinzhonoratioren vorüber: der Bürgermeister, der Pfarrer, der Apotheker, der Filialdirektor der Raiffeisenkasse, der Inhaber des einzigen Elektrogeschäftes am Ort. Die Maiers, die Müllers … Es war eine schuldbewußte Gedankenkoketterie in der schmerzvollen Erkenntnis seiner Entfremdung vom Elternhaus. Als er scherzhaft vor Stephan erwähnte, er würde eines Tages doch Landarzt werden, zuckte Stephan wortlos die Schulter, als ob er an seinem Verstand zweifelte. Wäre Karen ihm gefolgt?

Eines Tages kam eine junge, blonde Frau ins Stationszimmer. Sie hatte ein angenehm offenes Gesicht, das ihm bekannt vorkam.

»Mein Name ist Auerbach«, sagte sie. »Ich bin die Neue.« Ihre Haltung war jovial, ohne einer Spur von Koketterie. Dr. Malvina Auerbach hatte ihre erste Assistentenstelle ausgerechnet auf seiner Station bekommen. Der Gedanke, mit der Tochter seines Chefs zusammenzuarbeiten, war im unangenehm.

Der Chefarzt
content001.xhtml
content002.xhtml
content003.xhtml
content004.xhtml
content005.xhtml
content006.xhtml
content007.xhtml
content008.xhtml
content009.xhtml
content010.xhtml
content011.xhtml
content012.xhtml
content013.xhtml
content014.xhtml
content015.xhtml
content016.xhtml
content017.xhtml
content018.xhtml
content019.xhtml
content020.xhtml
content021.xhtml
content022.xhtml
content023.xhtml
content024.xhtml
content025.xhtml
content026.xhtml
content027.xhtml
content028.xhtml
content029.xhtml
content030.xhtml
content031.xhtml
content032.xhtml
content033.xhtml
content034.xhtml
content035.xhtml
content036.xhtml
content037.xhtml
content038.xhtml
content039.xhtml
content040.xhtml
content041.xhtml
content042.xhtml
content043.xhtml
content044.xhtml
content045.xhtml
content046.xhtml
content047.xhtml
content048.xhtml
content049.xhtml
content050.xhtml
content051.xhtml
content052.xhtml
content053.xhtml
content054.xhtml
content055.xhtml
content056.xhtml
content057.xhtml
content058.xhtml
content059.xhtml
content060.xhtml
content061.xhtml
content062.xhtml
content063.xhtml
content064.xhtml
content065.xhtml
content066.xhtml
content067.xhtml
content068.xhtml
content069.xhtml
content070.xhtml
content071.xhtml
content072.xhtml
content073.xhtml
content074.xhtml
content075.xhtml
content076.xhtml
content077.xhtml
content078.xhtml
content079.xhtml
content080.xhtml
content081.xhtml
content082.xhtml
content083.xhtml
content084.xhtml
content085.xhtml
content086.xhtml
content087.xhtml
content088.xhtml
content089.xhtml
content090.xhtml
content091.xhtml
content092.xhtml
content093.xhtml
content094.xhtml
content095.xhtml
content096.xhtml
content097.xhtml
content098.xhtml
content099.xhtml