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Sosehr Lisa nach einer schlaflosen Nacht auf ein wenig Besserung gehofft hatte – es ging ihr schlechter als zuvor. Der Tag fing nicht gerade erheiternd an. Zunächst verweigerte man ihr den Frühstückskaffee, und sie mußte sich im Untersuchungszimmer der Station auf eine Couch mit durchgesessenen Federn legen, wo ihr ein bärtiger Medizinalassistent den Arm mit einem Gummischlauch abschnürte und Blut abzapfte. Dieses Untersuchungszimmer war ein düsteres Kämmerchen, in dem ein Glastisch auf Rädern, vollgepackt mit Röhrchen, und die Couch, auf der Lisa lag, gerade Platz hatten. Die Mehrzahl der Röhrchen, wie Soldaten in Plastikständern aufgereiht, war bereits mit Blut gefüllt, das Werk des bärtigen Medizinalassistenten. Ein Schild über der Couch verkündete: »Bitte die Wand nicht mit Blut bespritzen.«
Lisas abgeschnürter Arm verfärbte sich bläulich, aus der Kanüle in ihrer Vene lief dunkles Blut in das Röhrchen, das der Medizinalassistent hielt.
Von der Teilnahmslosigkeit der letzten Tage übermannt, ließ es Lisa mit sich geschehen. Die unbeantworteten Fragen der durchwachten Nacht berührten sie sonderbarerweise nicht mehr. Als handele es sich um eine zwar bekannte, ihr aber fremde Person, dachte Lisa emotionslos: ›Du glaubst, du bist was Besonderes, weil du deinen Mann verloren hast, dabei hast du gar kein richtiges Leben mit ihm gehabt. Nur wer von seiner Aufregung erfüllt ist, kostet sein Leben völlig aus!‹
Sie fragte sich: ›Vor wem bist du geflüchtet? Doch nicht vor Erwin? Wovor fürchtest du dich? Daß du krank bist? Vielleicht ist – wer weiß – dein Leben bald zu Ende.‹ Was Lisa an diesem Morgen als leidenschaftliche Kaffeetrinkerin am meisten vermißte, war eine Tasse Kaffee. Die Hoffnung, daß sie mit der Blutentnahme ihr Programm absolviert hatte und endlich zu ihrem Frühstück kommen würde, erwies sich als trügerisch. Gegen Mittag lag sie immer noch mit nacktem Bauch und Rücken auf einem eiskalten Röntgentisch. Man spritzte ihr ein Kontrastmittel in die Vene und schoß mehrere Bilder hintereinander. Dann verschwand die MTA mit den Röntgenkassetten und nach ihr der Arzt. Lisa lag auf der harten Tischplatte und glaubte, man hätte sie vergessen. Sie wandte ihren Kopf und sah durch die Fensterscheibe welkes Laub und Gestrüpp.
Endlich kam der Arzt wieder und schoß noch eine Unzahl neuer Bilder. Er sprach vom rechten oberen Nierenpol und gebrauchte den Ausdruck ›unklare Verhältnisse‹. Dann war man fertig und schickte sie zurück ins Zimmer, wo das Mittagessen inzwischen ausgeteilt war.
Gerade als sie am Tisch vor einem Teller Tomatensuppe saß, kam eine Schwester mit einem Katheter und forderte sie auf, sich aufs Bett zu legen. Als Lisa ihren Befehl befolgt hatte, mußte sie die Beine grätschen, und die Schwester führte den Katheter in die Harnblase. Das andere Ende befand sich in einer sterilen Flasche, die sich schnell mit Urin füllte.
An diesem Tag mußte Lisa noch zum EKG gehen und dann zu einer frauenärztlichen Untersuchung, wo ihr der Arzt mit groben, dicken Fingern weh tat. Als sie zurück ins Zimmer kam, war es kurz vor sechs und Zeit für die abendliche Temperaturmessung.
Für kurze Zeit herrschte im Zimmer ungewohnte Stille, sie lagen alle acht da, jede mit einem Thermometer im After, und die alte Frau neben ihr, die einen schwachen Schließmuskel hatte, entleerte geräuschvoll ihren Darm ins Bett.
Am Abend dieses unglücklichen Tages kam Dr. Fritsch vorbei und drückte nochmals auf Lisas Bauch, um festzustellen, ob der Tumor atemverschieblich war. Er bemühte sich nach Kräften – wobei Lisa tief atmen mußte, bis ihr schwindlig wurde –, einmal erschien er ihm atemverschieblich, dann wieder nicht. Den Gedanken, Ohlhaut zu Rate zu ziehen, verwarf er. Wenn Bertram so viel daran lag – er selbst hielt es eher für eine Spitzfindigkeit –, sollte er es gefälligst selbst herausfinden.
»Mein Gott, noch so'n Tag«, sagte Schwester Leopoldine Stein laut vor sich hin, während sie der Hast der letzten Stunden zu entfliehen suchte, dem Hin und Her in den Krankenzimmern, dem Geklappere von Urinflaschen und Bettschüsseln, dem Erbrochenen auf dem Boden, das sie wegen der vorgerückten Zeit selber wegwischen mußte. Eine übliche Schweinerei der Verwaltung, die Stationsmädchen nur bis fünf Uhr beschäftigte, um Überstunden nicht bezahlen zu müssen. Den Boden zu wischen, welch eine Aufgabe für eine Schwester.
Sie ließ den Blick im Raum umherwandern, nachdem sie sich in den ledernen Drehsessel von Bertrams Sekretärin niedergelassen hatte, und empfand ein ungewohntes Gefühl des Neides. Dieses Zimmer hier, das Vorzimmer von Professor Bertrams Büro, schmeichelte ihren Augen mit den dunklen Mahagonimöbeln im weichen Licht mehrerer Stehlampen nach dem harten Weiß der eisernen Krankenbetten und den nackten Birnen draußen. Es war eine geschmackvolle, eine teure Welt.
In ihrem Mund hatte sie noch den Geschmack des schalen Biers, das sie eilig in der Stationsküche getrunken hatte. Eigentlich war ihr Tag zu Ende, jetzt vertrat sie Bertrams Sekretärin, machte Überstunden von sieben bis zehn, eine Zeit, wo der Klinikchef noch arbeitete. Neben der verdeckten elektrischen Schreibmaschine lag ein Zettel, der für sie bestimmt war: »Der Chef pflegt seinen Tee um acht Uhr zu trinken, ohne Zitrone, natürlich keinen Zucker. Um diese Zeit haßt er Telefonanrufe, stellen Sie nach neun kein Gespräch mehr durch. Bleiben Sie im Zimmer, er wird ungehalten, wenn er zweimal nach Ihnen läuten muß.« Diese Unverfrorenheit belustigte sie. Wieder eine, die ihr Leben lang in ihren Chef verknallt ist. »Bleiben Sie im Zimmer …« Diese Ziege. Und wenn man mal muß? So lange wird sich der Herr Professor schon gedulden müssen. Da merkte Leopoldine, wie die Doppeltüre aufging, auf der Schwelle seines Zimmers stand Professor Bertram. Sie strich ihren Kittel glatt, der über die Knie hochgerutscht war, und stand auf. Sollte sie sein Läuten überhört haben?
Wie jeder vom Personal, fürchtete sie Bertram. Und weil er schwieg, fragte sie: »Möchten Sie etwas trinken, Herr Professor?« Sein Ausdruck war der eines Menschen, der sich nicht mehr erinnerte, was er wollte.
»Einen Tee vielleicht.«
In der Stationsküche, wo sie sich den Tee holte – sie haßte jegliche Art hausfraulicher Tätigkeit, dazu gehörte auch Teekochen –, beklagte sie sich bei der Nachtschwester: »Der Mann hält einen auf Trab.«
Sie hatte inzwischen ein halbes Dutzend Telefongespräche abgewimmelt, eilige Unterschriften geholt und Bertrams Frau mitteilen müssen, der Herr Professor sei verhindert, er bedaure, die gnädige Frau möchte allein zu Noldens Empfang gehen. Eine Party bei Noldens, darüber stand jedesmal etwas in der Klatschspalte der Zeitung, die Leopoldine las. Karl Nolden war Stardirigent, und seine Frau Hedda galt als die eleganteste Erscheinung in der Stadt. Wie man zu einem so tollen Ereignis nicht hin wollte, verstand Leopoldine nicht. Der Professor drückte sich, das stand außer Zweifel. Von wegen unabkömmlich. Nur, dachte sie, wenn ein Mann so aussieht, vertut er seine Abende nicht mit nutzlosem Papierkram. Vielleicht stimmte es in der Ehe nicht, und er saß in seinem Arbeitszimmer noch lange, nachdem alle Ärzte mit Ausnahme der diensthabenden die Klinik verlassen hatten, um den Abend nicht mit ihr verbringen zu müssen.
»In ihrer Haut möchte ich nicht stecken«, sagte sie zur Nachtschwester, als sie wegging.
»In welcher?«
»Na, in der Haut seiner Frau. Schönen Dank für den Tee.«
Daraufhin bemerkte die Nachtschwester vernünftig: »Sie hat ja das Geld.«
Die Nachtschwester verfolgte noch eine Weile diesen Gedanken und fügte dann hinzu, wobei sie Bertram meinte: »Der ist gut. Der kann so bleiben.« Aber Leopoldine hörte sie nicht. Mit dem Tablett beladen verschwand sie mit ihrem für die stramme rundliche Figur etwas zu schwungvollen Gang um die Ecke des langen, matt beleuchteten Flurs. Erst im Vorzimmer schien der weiche, flauschige Teppichboden ihr etwas von ihrem Schwung zu nehmen. Sie klopfte an Bertrams Tür, während sie in Gedanken noch bei seiner Frau war: ›Wenn ich sie wäre, würde ich die Augen offenhalten.‹
Um zehn vor zehn nahm Leopoldine Stein ein Ferngespräch entgegen.
»Hier ist Büro Hessel in Bonn«, sagte eine forsche Frauenstimme. »Herr Hessel wünscht Herrn Professor zu sprechen.«
Unschlüssig sah Leopoldine auf die Uhr. Was tat er noch in seinem Zimmer? Das letzte Mal, als sie bei ihm war, studierte er die Personalakte Dr. Fritsch. ›Ein hübscher Junge.‹
»Beeilung!« empörte sich die Frauenstimme. »Was ist los?«
Über die Sprechanlage fragte Leopoldine: »Sind Sie fürs Büro Hessel zu sprechen, Herr Professor?«
Lothar Hessel war der stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei.
»Stellen Sie durch«, sagte Bertram. Er hob den Hörer ab, und fast gleichzeitig dröhnte Hessels Stimme in seinem Ohr: »Bist du allein, Hannes?«
»Ja.« Bertram hielt den Hörer etwas weg. »Ist etwas passiert?«
»Du kennst Bruno Meier?«
»Es gibt zwei …«
»Ich spreche von dem Bundestagsabgeordneten.«
»Ich kenn' ihn flüchtig.«
»Meine Frage an dich: Auf welche Weise kann man einen Gemütskranken in die Nervenheilanstalt bringen!«
»Du meinst, in eine geschlossene Abteilung?«
»Ja.«
»Gegen seinen Willen?«
»Ja.«
»Seit wann ist Meier gemütskrank? Das ist mir neu. Wer behandelt ihn?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Nach dem Gesetz kann seine Frau bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine vorübergehende Entmündigung beantragen. Wenn dem stattgegeben wird, kann die Polizei ihn in eine geschlossene Abteilung bringen. Später kommt die Sache vors Vormundschaftsgericht.«
»Für diesen Antrag ist ein ärztliches Zeugnis notwendig, nehme ich an.«
»Es ist eine Voraussetzung. Worauf willst du hinaus?«
»Der Mann ist verrückt, er ist nicht geschäftsfähig. Aus völlig unerklärlichen Gründen ist er auf die schiefe Bahn geraten. Es hat sich herausgestellt, daß er seit Jahren ein Doppelleben führt. Schmiergelder, Frauengeschichten und ähnliches, dabei ist der Kerl Mitglied in etlichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, ein schöner Saubermann …«
»Was sagt sein Psychiater dazu?«
»Es gibt keinen Psychiater. Der geht doch nicht zum Arzt.«
»Weiß seine Frau schon davon?«
»Wir haben mit ihr gesprochen. Sie hat gezögert, aber jetzt will sie die Entmündigung beantragen. Der Mann ist untragbar!«
»Und wenn er nicht krank ist? Habt ihr daran gedacht?« Bertram wirkte kühl. »Diese Möglichkeit ist durchaus vorhanden.«
»Diese Entscheidung bleibt dir überlassen … Wir wollen jetzt nicht über Gewissensfragen sprechen. Woran mir liegt, ist Diskretion.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« In Bertrams Stimme war eine Bitternis, die Hessel nicht verstand. Der Ärger mit Hessel war, er erwartete von einem immer das Richtige. Was richtig war, bestimmte allerdings er.
Im Vorzimmer bekam Schwester Leopoldine Stein den Auftrag, den Chef mit Frau Meier zu verbinden.
Eine Woche darauf erschien in den Zeitungen eine sachliche Notiz über Meiers bedauerliche Erkrankung. Mit einer Erklärung distanzierte sich die Bundesgeschäftsführung der Partei vom Abgeordneten Meier.