Eine Pfingstfahrt in den Teltow
Es reist sich schön an einem Pfingstsonnabend in die Welt hinein, es sei, wohin es sei. Die Natur lacht und die Menschen auch; die Sonne geht in Strahlen unter, die Rapsfelder blühn, und selbst die Windmühlenflügel schwenken einen grünen Maienbusch in die Luft.
Rixdorf rüstete sich zum Fest. Die Mägde, kurzärmlig und aufgeschürzt, standen auf den Höfen und wuschen und scheuerten, die kupfernen Kessel blinkten wie Gold, und ein paar Kinder, die gerad aus dem Tümpelbade kamen, liefen nackt über den Weg und wirbelten den Staub auf. Der Tümpel blieb ja für ein zweites Bad.
In Rudow schnitten die Jungen Kalmus; über Waltersdorf spannten die Linden ihren Schirm; Kiekebusch aber, als schäm er sich seinen Namens, kuckte nicht mehr aus Busch und Heide, sondern aus hohen Roggenfeldern hervor.
Und nun Heidereviere; dann wieder freies Feld, bis plötzlich die Höhe, darauf wir fahren, steil abfällt und ein von Waldungen eingefaßtes Kesseltal vor uns liegt, in das wir hinunterrollen. Die Postillone blasen (wir haben drei Beichaisen), einzelne Häuser schimmern hinter Bäumen und Sträuchern hervor, jetzt werden ihrer mehr, die Leute vor den Türen richten sich auf, und die Straßenjugend wirft ihre Mützen in die Luft und schreit Hurra. Es ist ein Lärm, der einer Residenz zur Ehre gereichen würde, und doch ist es nur Wusterhausen, in das wir einfahren. Freilich Wusterhausen zu Pfingsten.
1. Königs Wusterhausen
Finstrer Ort und finstrer Sinn,
Nun blühen die Rosen drüber hin.
Wir halten vor einem Gasthofe, darin alles reich und großstädtisch ist, und während mir zwei Lichter auf den Tisch gesetzt werden, richt ich unwillkürlich die Frage an mich: Ist dies dasselbe Wusterhausen, von dem wir jene klassische, wenn auch wenig schmeichelhafte Beschreibung haben, die eine der besten Seiten in den Memoiren der Markgräfin von Bayreuth, der Lieblingsschwester Friedrichs des Großen, füllt? Laß doch sehen, was die Markgräfin in ihrem berühmten Buche, dem sozusagen »ältesten Fremdenführer von Wusterhausen«, erzählt. Und ich las wie folgt:
»Mit unsäglicher Mühe hatte der König an diesem Ort einen Hügel aufführen lassen, der die Aussicht so gut begrenzte, daß man das verzauberte Schloß nicht eher sah, als bis man herabgestiegen war. Dieses sogenannte Palais bestand aus einem sehr kleinen Hauptgebäude, dessen Schönheit durch einen alten Turm erhöht wurde, zu dem hinauf eine hölzerne Wendeltreppe führte. Der Turm selber war ein ehemaliger Diebswinkel, von einer Bande Räuber erbaut, denen dies Schloß früher gehört hatte. Das Gebäude war von einem Erdwall und einem Graben umgeben, dessen schwarzes und fauliges Wasser dem Styxe glich. Drei Brücken verbanden es mit dem Hof in Front des Schlosses, mit dem Garten zur Seite desselben und mit einer gegenüberliegenden Mühle. Der nach vornhin gelegene Hof war durch zwei Flügel flankiert, in denen die Herren von des Königs Gefolge wohnten. Am Eingang in den Schloßhof hielten zwei Bären Wacht, sehr böse Tiere, die auf ihren Hintertatzen umherspazierten, weil man ihnen die vorderen abgeschnitten hatte. Mitten im Hofe befand sich ein kleiner Born, aus dem man mit vieler Kunst einen Springbrunnen gemacht hatte. Er war mit einem eisernen Geländer umgeben, einige Stufen führten hinauf, und dies war der Platz, den sich der König abends zum Tabakrauchen auszuwählen pflegte. Meine Schwester Charlotte (später Herzogin von Braunschweig) und ich hatten für uns und unser ganzes Gefolge nur zwei Zimmer oder vielmehr zwei Dachstübchen. Wie auch das Wetter sein mochte, wir aßen zu Mittag immer im Freien unter einem Zelte, das unter einer großen Linde aufgeschlagen war. Bei starkem Regen saßen wir bis an die Waden im Wasser, da der Platz vertieft war. Wir waren immer vierundzwanzig Personen zu Tisch, von denen drei Viertel jederzeit fasteten, denn es wurden nie mehr als sechs Schüsseln aufgetragen, und diese waren so schmal zugeschnitten, daß ein nur halbwegs hungriger Mensch sie mit vieler Bequemlichkeit allein aufzehren konnte … In Berlin hatte ich das Fegfeuer, in Wusterhausen aber die Hölle zu erdulden.«
So die Markgräfin, die frühere Prinzessin Wilhelmine. Ich schlug das Buch zu und trat an das offene Fenster, durch das der heitere Lärm schwatzender Menschen zu mir heraufdrang. Das Zimmer lag im ersten Stock, und die Kronen der abgestutzten Lindenbäume ragten bis zur Fensterbrüstung auf, so daß ich meinen Kopf in ihrem Blattwerk verstecken konnte. Drüben, an der andern Seite der Straße, zog sich einer der Kavalierflügel des Schlosses entlang. Er war ganz in weiß’ und roten Rosen geborgen und seine Oberfenster geöffnet; Licht und Musik drangen hell und einladend zu mir herüber. In schräger Richtung dahinter standen Pappeln und hohe Baumgruppen, und zwischen ihrem Laubwerk wurd ich des alten Schloßturms ansichtig, »des Diebswinkels, von einer Räuberbande erbaut«. War es wirklich so arg mit ihm? Er stand da, mondbeschienen, mit der friedlichsten Miene von der Welt, eher an Idyll und goldene Zeiten als an Fegfeuer und Hölle gemahnend.
Es war noch nicht spät und der Weg nicht zwei Minuten weit. So beschloß ich, noch einen Abendbesuch zu machen und die jetzt freilich von holdem Dämmer umwobene Wirklichkeit des Schlosses mit der Beschreibung seiner ehemaligen Bewohnerin zu vergleichen. Ich trat in den weiten Vorhof ein. Da lagen die Flügel rechts und links, vor mir Brück und Graben und dahinter, großenteils versteckt, das Schloß selbst. Die Bären fehlten, der Springbrunnen auch. Keine Stufen zeigten sich mehr, auf denen irgendwer seine Abendpfeife hätte rauchen können; nur eine weiße Pumpe stand inmitten eines Fliederbosquets und nahm sich besser aus, als Pumpen sonst wohl pflegen.
Ich näherte mich der Brücke, von der aus ich die Fundamente des Schlosses in dunklen Umrissen, die Giebel aber, auf die das Mondlicht fiel, in scharfen Linien erkennen konnte. Was zwischen Giebel und Grundmauer lag, blieb hinter Bäumen versteckt. Der »Styx« existierte nicht mehr; halb zugeschüttet, war aus dem Graben ein breiter Streifen Wiesenland geworden. Allerlei blühende Kräuter würzten die Luft, und im Rücken des Schlosses, wo die Notte fließt, hört ich deutlich, wie das Wasser des Flüßchens über ein Wehr fiel.
Ich kehrte nun in die Straße zurück und setzte mich unter die Linden des Gasthauses. Das war keine »Hölle«, was ich gesehn, oder aber die Beleuchtung hatte Wunder getan.
Der Wirt setzte sich zu mir, und angesichts des Schlosses, dessen Turmdach uns argwöhnisch zu belauschen schien, plauderten wir von Wusterhausen.
In alten, wendischen Zeiten stand hier ein Dorf namens »Wustrow«, eine hierlandes sich häufig findende Lokalbezeichnung. Als die Deutschen ins Land kamen, gründeten sie das noch existierende Deutsch Wustrow, zum Unterschiede von Wendisch Wustrow, schließlich aber wurden beide Worte durch ein angehängtes »hausen« germanisiert, und Deutsch und Wendisch Wusterhausen waren fertig.
Wendisch Wusterhausen, nur mit diesem haben wir es zu tun, wurd eine markgräfliche Burg. Sie verteidigte – wie »Schloß Mittenwalde«, von dem wir in einem der nächsten Kapitel sprechen werden – den Notte-Übergang und war eine der vielen Grenzburgen zwischen der Mark und der Lausitz.
Wendisch Wusterhausen blieb markgräfliche Burg bis gegen 1370, und es ist eher wahrscheinlich als nicht, daß der alte, von der Prinzessin als »Diebswinkel« bezeichnete Turm bis in jene markgräfliche Zeit zurückdatiert. Etwa 1375 kamen die Schlieben in den betreffenden Besitz, eine Familie, die damals in der Umgegend reich begütert war. Sie besaßen es ein Jahrhundert lang, auch während der Quitzow-Zeit, ohne daß besondere »Räubertaten« aus dieser ihrer Besitzepoche bekannt geworden wären. 1475 kauften es die Schenken von Landsberg, damalige Besitzer der Herrschaft Teupitz, aus deren Händen es, kleiner Mittelglieder zu geschweigen, 1683 an den Kurprinzen Friedrich, den späteren König Friedrich I., kam. Dieser aber überließ es 1698 seinem damals erst zehn Jahr alten Sohne, dem späteren König Friedrich Wilhelm I.
Friedrich Wilhelm I. nahm Wendisch Wusterhausen von Anfang an in seine besondere Affection und hielt bei dieser Bevorzugung aus bis zu seinem Tode. Was es jetzt ist, verdankt es ihm, dem »Soldatenkönig«; Straßen- und Parkanlagen entstanden, und mit Recht wechselte der Flecken seinen Namen und erhob sich aus einem Wendisch Wusterhausen zu einem Königs Wusterhausen.
Königs Wusterhausen ist vielleicht mehr als irgendein anderer Ort, nur Potsdam ausgeschlossen, mit der Lebens- und Regierungsgeschichte König Friedrich Wilhelms I. verwachsen. Hier ließ er als Knabe seine »Kadetten« und einige Jahre später seine »Leibcompagnie« exerzieren. Hier übte und stählte er seinen Körper, um sich wehr- und mannhaft zu machen, und hier, nach erfolgtem Regierungsantritte, fanden jene weidmännischen Festlichkeiten statt, die Wusterhausen recht eigentlich zum Jagdschloß par excellence erhoben.
Hier auf dem Schloßhof, den jetzt die friedliche Pumpe ziert, war es, wo jedesmal nach abgehaltener Jagd den Hunden ihr »Jagdrecht« wurde. Das war die Nachfeier zum eigentlichen Fest. Der zerlegte Hirsch ward wieder mit seiner Haut bedeckt, an der sich noch der Kopf samt dem Geweih befinden mußte. So lag der Hirsch auf dem Hof, während hundert und mehr Parforcehunde, die durch ein Gatter von ihrer Beute getrennt waren, laut heulten und winselten und nur durch Karbatschen in Ordnung gehalten wurden. Endlich erschien der König, der Jägerbursche zog die Haut des Hirsches fort, das Gatter öffnete sich, und die Meute fiel über ihr »Jagdrecht« her, während die Piqueurs im Kreise standen und auf ihren Hörnern bliesen.
Wenigstens zwei Monat alljährlich wohnte König Friedrich Wilhelm I. in Wusterhausen. Spätestens am 24. August traf er ein, und frühestens am 4. oder 5. November brach er auf. Die ersten acht Tage gehörten der Rebhuhnjagd, vorzüglich auf der Großmachnower Feldmark; später dann folgten die Jagden auf Rot- und Schwarzwild. Zwei Festlichkeiten im größeren Stil gab es herkömmlich während der Wusterhausener Saison: die Jahresfeier der Schlacht bei Malplaquet am 11. September und das Hubertusfest am 3. November. Bei Malplaquet war der König, damals noch Kronprinz, zum ersten Mal im Feuer gewesen; das erheischte, wie billig, ein Erinnerungsfest. Das Hubertusfest war zugleich das Abschiedsfest von Wusterhausen. Nur einmal fiel es aus, am 3. November 1730. Am 28. Oktober, sechs Tage vor dem Hubertustag, hatte das Kriegsgericht in Schloß Köpenick gesessen, das über Kronprinz Friedrich und Katte befinden sollte.
Hier in Wusterhausen spielten später die Hof- und Heiratsintriguen, und hier schwankte die Waage bis zuletzt, ob der Erbprinz von Bayreuth oder der Prinz von Wales (wie so sehr gewünscht wurde) die Braut heimführen würde; hier endlich, nachdem die Ungewitter sich verzogen und ruhigeren Tagen Platz gemacht hatten, teilte der früh alternde König, wenn Gicht und Podagra das Jagen verboten, seine Zeit zwischen Tonpfeife und Palette, zwischen Rauchen und Malen.
Der andere Morgen war Pfingstsonntag. Ich brach früh auf, um das »verzauberte Schloß«, das damals (1862) noch keine Restaurierung erfahren hatte, bei hellem Tageslichte zu sehn. Ich fragte nach dem Kastellan – tot; nach der Kastellanin – auch tot; endlich erschien ein Mann mit einem großen alten Schlüssel, der mir als der Herr »Exekutor« vorgestellt wurde. Dies ängstigte mich ein wenig. Es war ein ziemlich mürrischer Alter, der von nichts wußte, vielleicht auch nichts wissen wollte.
Wir traten durch eine Seitentür auf den Schloßhof. Es war schon heiß, trotz der frühen Stunde; die Sonne schien blendend hell, und die Bosquets samt der weißen Pumpe waren nicht ganz mehr, was sie den Abend vorher gewesen waren.
Wir umschritten zunächst das Schloß, dann nahm ich einen guten Stand, um mir die Architektur desselben einzuprägen. Es ist gewiß ein ziemlich häßliches Gebäude, aber doch noch mehr originell als häßlich und in seiner Apartheit nicht ohne Interesse. Der ganze Bau, bis zu beträchtlicher Höhe, ist aus Feldstein aufgeführt woraus ich den Schluß ziehe, daß der König die dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert angehörige Grundform des Schlosses: ein Viereck mit vorspringendem Rundturm, einfach beibehielt und nur die Gliederung und Einrichtung völlig veränderte. Der Rundturm wurde Treppenturm. Von diesem aus zog er eine Mauerlinie mitten durch das Feldsteinviereck hindurch und teilte dadurch den Bau in zwei gleiche Hälften. Jede Hälfte erhielt ein Giebeldach, so daß wer sich dem Schlosse jetzt nähert, zwei Häuser zu sehen glaubt, die mit ihren Giebeln auf die Straße blicken. In Front beider Giebel und an beide sich lehnend steht der Turm.
Dieser Turm ist sehr alt; König Friedrich Wilhelm I. aber hat ihm einen modernen Eingang gegeben, ein Portal in Mannshöhe, dessen Giebelfeld etwa ein Dutzend in Holz geschnittene Amoretten zeigt. Einige sind wurmstichig geworden, andere haben sonstigen Schaden genommen.
Beim Eintreten erblickt man zuerst ein paar verliesartige Kellerräume, darin etwas Stroh liegt, als wären es eben verlassene Lagerstätten. Von hier aus führt eine Treppe von zehn oder zwölf Stufen ins Hochparterre, danach eine zweite, höhere Treppe bis ins erste Stockwerk. Wir verweilen hier einen Augenblick. Ein schmaler Gang scheidet zwei Reihen Zimmer voneinander, deren Türen, etwa in Mittelhöhe (mutmaßlich des besseren Luftzugs halber), kleine Gitterfenster haben, infolgedessen die Zimmer aussehen wie Gefängniszellen. Es sind dies ersichtlich dieselben Räume, darin die Prinzessinnen schlafen mußten, wenn sie nicht in den kleinen Giebelstuben untergebracht wurden. Die Gitterfenster gönnen überall einen Einblick. In einem der Zimmer lagen Aktenbündel ausgebreitet, weiße, grüne, blaue, wohl achtzig oder hundert an der Zahl. Mutmaßlich eine alte Registratur der Herrschaft Königs Wusterhausen.
Wir stiegen nun ins Hochparterre zurück. Hier befindet sich die ganze Herrlichkeit des Schlosses auf engstem Raum zusammen. Man tritt zuerst in eine mit Hirschgeweihen ausgeschmückte Jagdhalle, die, wie der Flurgang oben, zwischen zwei Reihen Zimmern hinläuft. Die frühere große Sehenswürdigkeit darin ist derselben verlorengegangen. Es war dies das 532 Pfund schwere Geweih eines Riesenhirsches, der 1636, also zur Regierungszeit George Wilhelms, in der Köpnicker Forst, vier Meilen von Fürstenwalde, erlegt worden war. Über dies Geweih ist auch in neuerer Zeit noch viel gestritten und obige Gewichtsangabe, wie billig, belächelt worden. Nichtsdestoweniger muß das Geweih etwas ganz Enormes gewesen sein, da Friedrich August II. von Sachsen dem Könige Friedrich Wilhelm I. eine ganze Compagnie langer Grenadiere zum Tausch dafür anbot, ein Anerbieten, das natürlich angenommen wurde. Das Geweih existiert noch und soll sich auf dem Jagdschloß Moritzburg bei Dresden befinden.
Rechts von der Halle sind zwei Türen. An der einen, zunächst der Treppe, standen mit Kreide die Worte: »Wachtstube der Artillerie«. Bei Manövern, Mobilmachungen etc. muß nämlich das Wusterhausener Schloß wohl oder übel mit aushelfen und erhält vorübergehend eine kleine Garnison. Auch stehen in der Tat die meisten dieser Räume, wenigstens in der Gestalt in der ich sie noch sah, auf der Stufe von Kasernenstuben.
Das erste Zimmer hinter der mit Kreide beschriebenen Tür war ehedem das Schlafzimmer Friedrich Wilhelms I. Es befindet sich in demselben das große Waschbecken des Königs, etwas höchst Primitives, eine Art festgemauertes Waschfaß. Aus Gips gefertigt, gleicht es den Abgußsteinen, die man in unseren Küchen findet und hat in der Tat eine Öffnung zum Abfluß des Wassers, in der ein steinerner Stöpsel steckt, halb so lang wie ein Arm und halb so dick. Beim Anblick dieses Waschfasses glaubt man ohne weitere Zweifel, was vom Soldatenkönig berichtet wird, daß er einer der reinlichsten Menschen war und »sich wohl zwanzigmal des Tages wusch«.
Die andere Tür, ebenfalls zur Rechten der Halle, führt in den Speisesaal. Er mißt fünfzehn Schritt im Quadrat. In der Mitte desselben ist ein hölzerner Pfeiler angebracht, der vielleicht mehr schmücken als stützen soll. Ein großer Kamin, neben dessen einem Vorsprung einst eine Treppe direkt in die Küche führte, vollendet die Herrichtung. Es ist dies derselbe Saal, in dem, wie schon hervorgehoben, an jedem 11. September der Tag von Malplaquet und an jedem 3. November das Hubertusfest gefeiert ward. Es ging dann viel heitrer hier her, als man jetzt wohl beim Anblick dieser weißgetünchten Öde glauben möchte. Frauen waren ausgeschlossen. Es war ein Männerfest. Zwanzig bis dreißig Offiziers, meist alte Generale, die unter Eugen und Marlborough mitgefochten hatten, saßen dann um den Tisch herum, und Rheinwein und Ungar wurden nicht gespart. Der »starke Mann« mußte kommen und seine Kunststücke machen; zuletzt, während die Lichter flackerten und qualmten und die Piqueurs auf ihren Jagdhörnern bliesen, packte der König den alten Generallieutenant von Pannewitz, der von Malplaquet her eine breite Schmarre im Gesicht hatte, und begann mit ihm den Tanz. Dazwischen Tabak, Brettspiel und Puppentheater, bis das Vergnügen an sich selbst erstarb.
Wir treten nun aus diesem Eßsaal wieder in die Halle zurück. Zur Linken derselben befinden sich ebenfalls zwei Zimmer, die Zimmer der Königin. Sie sind verhältnismäßig noch wohlerhalten und geben einem ein deutliches Bild von der »Élégance« jener Tage. Beide Zimmer sind durch eine Tür von Eichenholz miteinander verbunden, wie denn auch niedrige Eichenholzpaneele die Wände bekleiden, während in den vier Ecken oben vier Lyras angebracht sind, die so geniert dreinsehen, als befänden sie sich lieber woanders. Und doch haben sie wenigstens Gesellschaft: zwei Basreliefs (in jedem Zimmer eins), die sich als Wandschmuck zwischen Kamin und Decke schieben. Das eine stellt eine »Toilette der Venus«, das andere eine »Venus-Feier« dar. Auf jenem erblicken wir nichts als die herkömmlichen Amoretten, schnäbelnde Tauben, Rosenguirlanden etc., das zweite dagegen tut ein übriges, und nackte Gestalten von ganz unglaublichen Formen umtanzen eine Venus-Statue, während ein Satyr von hinten her eine Bacchantin umklammert und die Widerstrebende zum Tanze zwingt. An anderem Orte würde dieser lustige Heidenspuk wenig bedeuten, hier im Schlosse zu Wusterhausen aber nimmt er sich wunderlich genug aus und paßt seltsam zu dem Waschbecken drüben mit dem dicken steinernen Stöpsel.
Das erste dieser Zimmer, das sich mit der »Toilette der Venus« begnügt, führt durch eine Seitentür auf eine Art Rampe, die ziemlich steil nach dem Park hin abfällt. Diesen Weg machte wahrscheinlich der König, wenn er in seinem Gichtstuhl in den Garten hinein- und wieder zurückgerollt wurde. Bekanntlich war Treppensteigen nicht seine Sache.
Wir aber treten jetzt ebenfalls ins Freie hinaus und atmen auf im Sonnenlicht und in dem Wiesendufte, den eine Luftwelle herüberträgt. Eine mächtige alte Linde, hart zu Füßen der Rampe, ladet uns ein, unter ihrem Zweigwerk Platz zu nehmen, und wir sitzen nun mutmaßlich unter demselben Blätterdach, »unter dem die Damen, wenn’s regnete, bis an die Waden im Wasser saßen«. Die Parkwiese liegt vor uns, Hummel und Käfer summen darüber hin, und das Mühlenfließ uns zur Rechten fällt leis über das Wehr. Träume nehmen den Geist gefangen und führen ihn weit, weit fort in südliche Lande, zu Tempeltrümmern und Götterbildern. Aber ein Satyr lauscht plötzlich daraus hervor. Es ist derselbe, der der tanzenden Bacchantin da drinnen im Nacken sitzt und siehe, die Prosabilder von Schloß Wusterhausen schieben sich plötzlich wieder vor die Bilder klassischer Schönheit.
Hatte die Memoirenschreiberin doch recht? Ja und nein. Ein prächtiger Platz für einen Weidmann und eine starke Natur, aber freilich ein schlimmer Platz für ästhetischen Sinn und einen weiblichen esprit fort.
2. Teupitz
Winde hauchen hier so leise,
Rätselstimmen tiefer Trauer.
Lenau
Teupitz verlohnt eine Nachtreise, wiewohl diese Hauptstadt des »Schenkenländchens« nicht das mehr ist, als was sie mir geschildert worden war.
All diese Schilderungen galten seiner Armut. »Die Poesie des Verfalls liegt über dieser Stadt«, so hieß es voll dichterischen Ausdrucks, und die pittoresken Armutsbilder, die mein Freund und Gewährsmann vor mir entrollte, wurden mir zu einem viel größeren Reiseantrieb als die gleichzeitig wiederholten Versicherungen: »Aber Teupitz ist schön.« Diesen Refrain überhört ich oder vergaß ihn, während ich die Worte nicht wieder loswerden konnte: »Das Plateau um Teupitz herum heißt ›der Brand‹, und das Wirtshaus darauf führt den Namen ›Der tote Mann‹.«
Ich hörte noch allerhand anderes. Ein früherer Geistlicher in Teupitz sollte bloß deshalb unverheiratet geblieben sein, »weil die Stelle einen Hausstand nicht tragen könne«, und ein Gutsbesitzer, so hieß es weiter, habe jedem erzählt: »Ein Teupitzer Bettelkind, wenn es ein Stück Brot kriegt, ißt nur die Hälfte davon; die andere Hälfte nimmt es mit nach Haus. So rar ist Brot in Teupitz.« All diese Geschichten hatten einen Eindruck auf mich gemacht. Zu gleicher Zeit erfuhr ich, König Friedrich Wilhelm IV. habe gelegentlich, halb in Scherz und halb in Teilnahme, gesagt: »Die Teupitzer sind doch meine Treusten; wären sie’s nicht, so wären sie längst ausgewandert.«
Dies und noch manches der Art rief eine Sehnsucht in mir wach, Teupitz zu sehen, das Ideal der Armut, von dem ich in Büchern nur fand, daß es vor hundert Jahren 258 und vor fünfzig Jahren 372 Einwohner gehabt habe, daß das Personal der Gesundheitspflege (wörtlich) »auf eine Hebamme beschränkt sei« und daß der Ertrag seiner Äcker eineinviertel Silbergroschen pro Morgen betrage. Angedeutet hab ich übrigens schon, und es sei hier eigens noch wiederholt, daß ich die Dinge doch anders fand, als ich nach diesen Schilderungen erwarten mußte. Wie es Familien gibt, die, trotzdem sie längst leidlich wohlhabend geworden sind, den guten und ihnen bequemen Ruf der Armut durch eine gewisse Passivität geschickt aufrechtzuerhalten wissen, so auch die Teupitzer. Solche vielbedauerten »kleinen Leute« leben glücklich-angenehme Tage, und unbedrückt von den Mühsalen der Gastlichkeit oder der Repräsentation, lächeln sie still und vergnügt in sich hinein, wenn sie dem lieben alten Satze begegnen, daß »geben seliger sei denn nehmen«.
Um zwölf Uhr nachts geht oder ging wenigstens die Post, die die Verbindung zwischen Teupitz und Zossen und dadurch mit der Welt überhaupt unterhielt. Zossen ist der Paß für Teupitz: »es führt kein andrer Weg nach Küßnacht hin«.
Während der ersten anderthalb Meilen haben wir noch Chaussee, deren Pappeln, soviel die Mitternacht eine Musterung gestattet, nicht anders aussehen als andernorts, und erst bei Morgengrauen biegen wir nach links hin in die tiefen Sandgeleise der recht eigentlichen Teupitzer Gegend ein. Es ist ein ausgesprochenes Heideland, mehr oder weniger unsern Wedding-Partien verwandt, wie sie vor hundert oder auch noch vor fünfzig Jahren waren. Selbst die Namen klingen ähnlich: »Sandkrug«, »Spiesberg« und »der Hungrige Wolf«. Immer dieselben alten und wohlbekannten Elemente: See und Sand und Kiefer und Kussel; aber so gleichartig die Dinge selber sind, so apart ist doch ihre Gruppierung in dieser Teupitzer Gegend. Die Kiefer, groß und klein, tritt nirgends in geschlossenen Massen auf, nicht en colonne steht sie da, sondern aufgelöst in Schützenlinien. Und die Dämmerung unterstützt diese Vorstellung eines Heerlagers. Auf der Kuppe drüben stehen drei Vedetten und lugen aus, am Abhang lagert eine Feldwacht, und eine lange Postenkette von Kusseln zieht sich am See hin und reicht einem andern Lagertrupp die Hand. Dazwischen Sand und Moos und dann und wann ein Ährenfeld, dünn und kümmerlich, ein bloßer Versuch, eine Anfrage bei der Natur.
Inzwischen ist es am Horizont immer heller geworden. Das Grau wurde weiß, das Weiß isabell- und dann rosenfarben, und nun schießt es wie Feuerlilien auf. Der Sand verschwindet, Wasser- und Morgenkühle wehen uns an, und während der Sonnenball hinter einem alten Schloßturm aufsteigt, fahren wir in die noch stille Straße von Teupitz ein.
Der Wagen hält vor dem »Goldnen Stern«, an dessen Laubenvorbau der Wirt sich lehnt, seines Zeichens ein Bäcker. Ich nehm es als eine gute Vorbedeutung, denn unter allen Gewerksmeistern steht doch der Bäcker unserm innern Menschen am nächsten. Er weist mich auch freundlich zurecht; ein Lager ist leicht gefunden und dem Müden noch leichter gebettet. Durch das Gazefenster zieht die Luft, die Akazie draußen bewegt sich hin und her, und die Tauben auf dem eingerahmten Geburtstagswunsch am Bettende werden immer größer. Und nun fliegen sie fort, und – meine Träume fliegen ihnen nach.
Aber nicht auf lange. Das Picken des Nagelschmieds von der Ecke gegenüber weckt mich, und während die Frühstücksstunde kommt und die braunen Semmeln neben die noch braunere Kanne gestellt werden, setzt sich die »Sternen«-Wirtin zu mir und unterhält mich von Teupitz und dem Teupitzer See.
»Ja«, so sagt sie, »was wäre Teupitz ohne den See. Wir wären längst ein Dorf, wenn wir das Wasser nicht hätten. Freilich, wir dürfen nicht mehr drin fischen, die Fischereigerechtigkeit ist verpachtet, aber das Wasser ist uns mehr als alles, was drin schwimmt. Mit gutem Winde fahren wir in sechs Stunden nach Berlin, und alles, was wir kaufen und verkaufen, es kommt und geht auf dem See. Wir bringen keine Fische mehr zu Markte, denn wir haben keine mehr, aber Garten- und Feldfrüchte, Weintrauben und Obst und Holz und Torf. Das gibt so was wie Handel und Wandel, mehr, als mancher denkt, und mehr, als wir selber gedacht haben. Große Spreekähne kommen und gehen jetzt täglich, das machen die neuen Ziegeleien. Überall hier herum liegt fetter Ton unterm Sand, und wenn Sie nachts über Groß Köris hinaus bis an den Motzner See fahren, da glüht es und qualmt es rechts und links, als brennten die Dörfer. Ofen und Schornsteine, wohin Sie sehen. Meiner Mutter Bruder ist auch dabei. Er wird reich, und alles geht nach Berlin. Viele hunderttausend Steine. Immer liegt ein Kahn an dem Ladeplatz, aber er kann nicht genug schaffen, so viel, wie gebraucht wird. Ich weiß es ganz bestimmt, daß er reich wird, und andere werden’s auch. Aber daß sie’s werden können, das macht der See.«
Die »Stern«-Wirtin verriet hier eine bemerkenswerte Neigung, sich über die Vermögensverhältnisse von »ihrer Mutter Bruder« ausführlicher auszulassen, weshalb ich, ohne jede Neugier nach dieser Seite hin, die Frage zwischenwarf: wem denn eigentlich der See gehöre, was er Pacht trage und wer ihn gepachtet habe.
»Der See gehört zum Gut. Zum Gut gehören überhaupt zweiunddreißig Seen, aber der Teupitz-See ist der größte. Der Fischgroßhändler in Berlin, der ihn vom Gut gepachtet hat, zahlt 800 Taler, und die Teupitzer Fischer, die hier fischen und die Fische zu Markte bringen, sind nicht viel mehr als die Tagelöhner und Dienstleute des reichen Händlers. Meiner Mutter Bruder…«
»800 Taler«, unterbrach ich, »ist eine große Summe. Ich kenne Seen, die nur vier Taler Pacht bezahlen. Ist der Teupitz-See so reich an Fischen?«
»Ob er’s ist! Die Stadt führt nicht umsonst einen Karpfen im Wappen. Unser See hat viel Fische und schöne Fische; freilich, wenn der Zanderzug fehlschlägt –«
»Der Zanderzug?«
»Ja. Er ist nur einmal im Jahr, und von seinem Ausfall hängt alles ab. In der Regel bringt er 600, oft 1500 Taler, mitunter freilich auch gar nichts. Dann muß das nächste Jahr den Schaden decken. Aber weil es unsicher ist, was der Zanderzug bringen wird, deshalb können unsere Fischer den See nicht pachten.«
»Wann ist der Zug?«
»Im Januar und Februar. Immer im Winter, denn die Netze werden unteren Eis gespannt und gezogen. Es ist jedesmal ein Festtag für Teupitz.«
Die »Stern«-Wirtin begann nun mit vieler Lebhaftigkeit, mir die verschiedenen Phasen des Zanderzuges zu beschreiben, dabei mehr ermutigt als gestört durch meine Fragen, die ganz ernsthaft darauf aus waren, das Verfahren nach Möglichkeit kennenzulernen. Die Handgriffe beim Spannen und Ziehen der Netze blieben mir aber unklar, und nur soviel sah ich, daß es die größte Ähnlichkeit mit einer Treibjagd, und zwar mit einem Kesseltreiben, haben müsse. Die Fischer, wohlvertraut mit dem See, fegen mittelst weitgespannter Netze den Zander in ihnen bekannte Kesselvertiefungen hinein, umstellen ihn hier und schöpfen ihn dann, wie man Goldfischchen aus einem Bassin schöpft, aus der fischgefüllten Tiefe heraus.
Inzwischen erfuhr ich, daß das Boot bereitläge, das mich laut Verabredung auf den See fahren sollte. Gleich vom »Goldnen Stern« aus läuft ein schmaler Gang auf die Anlegestelle zu. Rechts und links standen Hof- und Gartenzäune, sämtlich in jenen seltsamen Biegungen und Wellenlinien, die bemoostes Zaunwerk im Lauf der Jahre zu zeigen pflegt. Über die Zäune hinweg wuchsen die Kronen der Bäume von hüben und drüben zusammen, was sich namentlich in Nähe des Wassers überaus malerisch ausnahm, wo zugleich der See bis zwischen das Plankenwerk vordrang und mal höher, mal tiefer mit seinem gelblichen Schaum eine Grenzmarke zog.
An dieser Stelle lag auch das Boot. Ein Fischermädchen vom andern Ufer stand in der Mitte desselben, und während ihr weißes Kopftuch im Winde flatterte, stießen wir ab.
Der Teupitz-See ist fast eine Meile lang und eine Viertelmeile breit, an einigen Stellen, wo er sich buchtet, auch breiter. Sein Wasser ist hellgrün, frisch und leichtflüssig; Hügel mit Feldern und Hecken fassen ihn ein, und außer der schmalen Halbinsel, die das »Schloß« trägt und sich bis tief in den See hinein erstreckt, schwimmen große und kleine Inseln auf der schönen Wasserfläche umher. Die kleinen Inseln sind mit Rohr bestanden, die größeren aber, auch Werder geheißen, sind bebaut und tragen die Namen der beiden Seedörfer, Egsdorf und Schwerin, denen sie zunächst gelegen sind. Also der Egsdorfer und der Schweriner Werder.
Wir fuhren von Insel zu Insel, von Ufer zu Ufer; abwechselnd mit Ruder und Segel ging es auf und ab, planlos, ziellos. Die Teupitzer Kirche, der alte Schloßturm hinter Pappeln, die roten Dächer der Stadt, das Schilf, die Hügel – alles spiegelte sich in dem klaren Wasser, aber so schön es war, ich hatte doch ein Gefühl, all dies schon einmal gesehn zu haben, nur schöner, märchenhafter, und diese Märchenbilder sucht ich nun in Näh und Ferne. Lächelnd gestand ich mir endlich, daß ich sie nicht finden würde. Noch einmal umfuhr der Kahn die Halbinsel, auf der die Überreste des alten Teupitz-Schlosses gelegen sind; dann trieben wir, durch den Schilfgürtel hindurch, den Kahn wieder ans Land.
Die Stelle, wo wir landeten, lag in dem Winkel, den Ufer und Landzunge bilden, und das alte Teupitz-Schloß oder, mit seinem vollen Namen, »das alte Schloß der Schenken von Landsberg und Teupitz« stieg fast unmittelbar vor uns auf. Ich schritt ihm zu.
Das alte Teupitz-Schloß, das in frühe Jahrhunderte zurückreicht, galt ehedem für sehr fest. Es lag an der Grenze zwischen Mark und Lausitz und scheint abwechselnd eine märkische oder sächsische Grenzfestung gewesen zu sein, je nachdem die Waffen oder die Verträge zugunsten des einen oder andern Teils entschieden hatten. Im dreizehnten sowie in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts waren die Plötzkes Herren von Teupitz, um 1350 aber kam die Herrschaft Tupitz oder Tuptz, wie sie damals genannt ward, in Besitz der Schenken von Landsberg und nahm seitdem den Namen des »Schenkenländchens« an. Dies Ländchen umfaßte vier Quadratmeilen; in seiner Mitte lag Teupitz, die Stadt, mit See und Burg. Die Lehnsverhältnisse des »Schenkenländchens« blieben noch geraume Zeit hindurch verwickelter und schwankender Natur, bis endlich der Einfall der Hussiten in die Mark den Ausschlag gab und die Schenken von Landsberg und Teupitz veranlaßte, sich in den Schutz des brandenburgischen Kurfürsten (Friedrich I.) zu begeben. Zwar geschah dies zunächst noch mit der Bemerkung: »unbeschadet unserer Untertänigkeitsverpflichtung gegen den Kaiser und den Herzog von Sachsen«, diese Hinzufügung indes scheint nicht allzu ernsthaft gemeint gewesen zu sein, da Schenk Heinrich von Landsberg schon wenige Jahre später erklärte, »daß, sintemalen der Kurfürst, sein gnädiger Herr, mit den Herzögen von Sachsen in Fehde stehe, auch er (Schenk Heinrich) mit seinen Helfern und Knechten ihnen, den Herzögen, den Krieg erklären müsse«.
Die Schenken von Landsberg und Teupitz blieben nah an 400 Jahr im Besitz der Herrschaft. Nachdem aber Schloß und Land infolge des Dreißigjährigen Krieges sehr vernachlässigt, die Weinberge verwildert, die Heiden verwüstet waren, ging das ganze Schenkenländchen im Jahre 1718 durch Kauf an König Friedrich Wilhelm I. über. Er bezahlte dafür die geringe Summe von 54 000 Taler, kaufte verlorengegangene Güter zurück, machte das Schloß zu einem »Amt« und stellte das gesamte Schenkenländchen, als Außenwerk der Herrschaft Königs Wusterhausen, unter die Verwaltung einer Amtskammer. Seit einer Reihe von Jahren ist Schloß Teupitz in die Hände von Privaten übergegangen. Der vorige Besitzer war Herr von Treskow, der gegenwärtige ist Herr von Pappart.
Es gibt kein Schloß Teupitz mehr, nur noch ein Amt gleiches Namens.
Zu diesem Amt, sehr malerisch an der Stelle des alten Schlosses gelegen, gehört auch selbstverständlich alles, was noch von Resten einer frühren Zeit vorhanden ist. Es ist dies mehr, als auf den ersten Blick erscheint. Alle Wirtschaftsgebäude der linken Hofseite ruhen auf alten, hoch aufgemauerten Fundamenten, in denen sich mächtige Kellergewölbe bis diese Stunde vorfinden, während der Eingang in den Amtshof durch einen viereckigen Turm, einen sogenannten Donjon, in mittelalterlicher Weise flankiert wird. Dieser Backsteinturm hat noch eine beträchtliche Höhe, was seinem Anblick aber einen ganz besonderen Zauber leiht, ist, daß seine Plattform zu einem völligen Garten geworden. In das Erdreich, das der Regen im Laufe der Jahrhunderte hier niedergeschlagen hat, haben teils die höheren Baumkronen ihre Keime niederfallen lassen, teils haben Wind und Staubwirbel aus dem zu Füßen gelegenen Garten die Samenkörner bis zur Höhe des Turmes emporgetragen. Ein Ebreschenbaum stand in der Mitte desselben, und zwischen den Rosensträuchern wuchs »Unserer Lieben Frauen Bettstroh« in großen gelben Büscheln über die Mauerkrone fort. Das alte Schloß, erzählen einige, habe früher auf einer völligen Insel gestanden, und erst die Anschwemmungen hätten im Lauf der Zeit aus der Insel eine Halbinsel gemacht. Es ist dies möglich, aber nicht wahrscheinlich. Man sieht nirgends eine Bodenbeschaffenheit oder überhaupt Terraineigentümlichkeiten, die darauf hindeuteten, und alles läßt vielmehr umgekehrt annehmen, daß es stets eine Halbinsel war, die, freilich absichtlich, und zwar mittelst eines durch die Landenge gestochenen Grabens, zu einer Insel gemacht wurde.
Außer Turm und Fundamenten ist an dieser Schloßstelle nichts mehr vorhanden, was an die alten Schenken von Teupitz erinnerte. Noch weniger fast bietet die Kirche, die zwischen dem Schloß und der Stadt, am Nordrande der letzteren, gelegen ist.
Vor fünfzig Jahren hätte die Forschung noch manches hier gefunden, jetzt aber, nach stattgehabter Restaurierung, ist alles hin, oder doch so gut wie alles. Die Grundform der Kirche hat zwar wenig unter diesen Neuerungen gelitten, alle Details im Innern aber, alle jene Bilder, Gedächtnistafeln und Ornamente, die vielleicht imstande gewesen wären, der ziemlich grau in grau gemalten Geschichte der Schenken von Teupitz etwas Licht und Farbe zu leihen, sie sind zerstört oder verlorengegangen. Bei Öffnung der jetzt zugeschütteten Gruft unter der Sakristei der Kirche fand man eine bedeutende Anzahl Särge, viele mit Messingtäfelchen, auf denen neben den üblichen Namen- und Zahlenangaben auch einzelne historische Daten verzeichnet waren. Diese Täfelchen, in die Pfarre gebracht, sind später in dem Wirrwarr von Umzug und Neubau verlorengegangen. Der gegenwärtige Geistliche hat nur mit Mühe noch eine kleine Glasmalerei gerettet, die, dem Anscheine nach, einen von der Kanzel predigenden Mönch darstellt. Sonst ist der Kirche aus der »Schenken-Zeit« her nichts geblieben als ein einziger Backstein am Hintergiebel, der die eingebrannte Inschrift trägt: »nobil. v. Otto Schenk v. Landsb.« (nobilis vir Otto Schenk von Landsberg). Wahrscheinlich war er es, unter dem eine frühere Restauration der Kirche (1566) stattfand.
Wir haben den See befahren, das Schloß und die Kirche besucht, es bleibt uns nur noch der Jeesenberg, ein Hügel, am Südrande der Stadt gelegen, von dem aus man das gesamte Schenkenländchen überblickt. Wir erreichen seinen höchsten Punkt und haben in weitgespanntem Bogen eine Kessellandschaft vor und unter uns. Wohin wir blicken, vom Horizonte her dieselbe Reihenfolge von Hügel, See und Heideland und in der Mitte des Bildes wir selbst und der Berg, auf dem wir stehen.
Das Panorama ist schön; schöner aber wird das Bild, wenn wir auf den Rundblick verzichten und uns damit begnügen, in die nach Osten hin sich dehnende Hälfte der Landschaft hineinzublicken. Es ist dies die Hälfte, wo Teupitz und sein See gelegen sind. Der Wind weht scharf vom Wasser her, aber eine wilde Pflaumbaumhecke gibt uns Schutz, während Einschnitte, wie Schießscharten, uns einen Blick in Näh und Ferne gestatten. Ein Kornfeld läuft vor uns am Abhang nieder, am Fuße des Hügels zieht sich ein Feldweg hin, und dahinter breiten sich Gärten und Wiesen; hinter den Wiesen aber steigt die Stadt auf und hinter dieser der See mit seinen Inseln und seinen Hügeln am andern Ufer. Und auch Leben hat das Bild. Wie losgelöste Schollen treiben die Inseln den See entlang (oder scheinen doch zu treiben), ein satter Fischreiher fliegt landeinwärts, und die Tücher der Mägde, die beim Heuen beschäftigt sind, flattern lustig im Winde. Vom nächsten Dorf her kommen Kinder des Wegs und verkürzen sich die Zeit mit Spiel und Neckereien. In Büscheln reißen die Jungen den roten Mohn aus dem Kornfeld, und immer, wenn sie die Mädchen zu haschen und mit den Büscheln zu treffen suchen, stäuben die roten Blätter nach allen Seiten hin durch die Luft.
So liegen und träumen wir hinter der Pflaumbaumhecke, ducken uns vor dem Wind, wenn er zu scharf bergan fährt, und lugen wieder aus, wenn er pausiert und zu neuem Angriff sich rüstet.
In diesem Augenblick aber trägt er die Klänge der Mittagsglocke laut und vernehmbar herüber und mahnt uns zur Rückkehr in die Stadt. Im »Goldenen Stern« erwartet uns ein gedeckter Tisch; ich eile damit und spring ins Boot, um noch einmal über den See zu fahren. Und diesmal allein. Die kurzen Wellen tanzen um mich her, das Wasser zeigt eine leichte Trübe, der Himmel ist grau. Ein Gefühl beschleicht mich wieder, stärker noch als zuvor, als ruhe hier etwas, das sprechen wolle – ein Geheimnis, eine Geschichte. Ich ziehe die Ruder ein und horche. Die Wellen klatschen an den Kiel, und der Wind biegt das Rohr knisternd nieder. Sonst alles stumm. Die Wolken sinken immer tiefer; nun öffnen sie sich, und hinter der grauen Wand, die der niederfallende Regen nach allen Seiten hin aufrichtet, verschwindet die Landschaft, Stadt und Schloß.
So sah ich den Teupitz-See zuletzt und ich habe Sehnsucht, ihn wiederzusehn. Ist es seine Schönheit allein, oder zieht mich der Zauber, den das Schweigen hat? Jenes Schweigen, das etwas verschweigt.
3. Mittenwalde
»Befiehl du deine Wege
Und was das Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt…«
Und kaum das Lied vernommen,
Ist über sie gekommen
Der Friede Gottes aus der Höh.
Schmidt von Lübeck
Teupitz war der äußerste Punkt unserer Pfingstfahrt; auf dem Rückwege lassen wir es uns angelegen sein, an Mittenwalde nicht ohne Ansprache vorüberzugehn.
Im allgemeinen darf man fragen: Wer reist nach Mittenwalde? Niemand. Und doch ist es ein sehenswerter Ort, der Anspruch hat auf einen Besuch in seinen Mauern. Nicht als ob es eine schöne Stadt wäre, nein; aber schön oder nicht, es ist sehenswert, weil es alt genug ist um eine Geschichte zu haben.
Es hat sogar eine Vorgeschichte: Sagen und Traditionen von einem Alt-Mittenwalde, das, in unmittelbarer Nähe der jetzigen Stadt, auf der westlichen Feldmark derselben gelegen war. Und in der Tat, unter Wiesen- und Ackerland finden sich an dieser Stelle noch allerlei Steinfundamente vor, und während das Auge des Fremden über Felder und Schläge zu blicken glaubt, sprechen die Mittenwalder vom »Vogelsang«, vom »Pennigsberg«, vom »Burgwall« etc., als ob all diese Dinge noch sichtbarlich vor ihnen stünden.
Daß hier früher, und zwar in einem enggezogenen Halbkreis um die jetzige Stadt her, ein anderes Mittenwalde stand, scheint unzweifelhaft. Es finden sich beispielsweis allerlei Münzen am »Pennigsberg«, und als Ende der fünfziger Jahre Kanalbauten und Erdarbeiten am »Burgwall« zur Ausführung kamen, stieß man auf Eichenbohlen, die wohl drei Fuß hoch mit Feldsteinen überschüttet waren. Ersichtlich ein Damm, der früher – mitten durch den Sumpf hindurch – erst nach dem Burg wall und von diesem aus nach der inmitten desselben gelegenen Burg führte.
So die Traditionen, und so das Tatsächliche, das jene Traditionen unterstützt. Aber so gewiß dadurch der Beweis geführt ist, daß auf der westlichen Feldmark ein anderer, längst untergegangener Ort existierte, sowenig ist dadurch bewiesen, welcher Art der Ort war und in welchem Verhältnis er zu der Burg und dem Pennigsberge stand. Wie verhielt es sich damit? War die Burg ein Schutz der Stadt oder umgekehrt ein Trutz derselben? Waren Stadt und Burg wendisch, oder waren sie deutsch? Befehdeten sie einen gemeinschaftlichen Feind, oder befehdeten sie sich untereinander? Alle diese Fragen drängen sich auf, ohne daß eine Lösung bisher gefunden wäre. Die Tradition scheint geneigt, einen alten Wendenort anzunehmen, der inmitten des »Burgwalls« seine Burg und auf dem »Pennigsberg« seine Begräbnisstätte hatte. Bevor Besseres geboten ist, ist es vielleicht am besten, dabei zu verharren. Ausgrabungen auf dem westlichen Stadtfelde würden gewiß zu wirklichen Aufschlüssen führen, aber diese Ausgrabungen werden in unbegreiflicher Weise vernachlässigt. Die Kommunen entbehren in der Regel des nötigen Interesses und unsere Vereine der nötigen Mittel.
Indessen, lassen wir das vorgeschichtliche Mittenwalde und wenden wir uns lieber dem mittelalterlichen zu, das, aller Verheerungen ungeachtet, in einzelnen Baulichkeiten immer noch existiert. Da haben wir die Mauer mit ihren Tortürmen, da haben wir die Propsteikirche, und da haben wir vor allem auch den »Hausgrabenberg«, von dessen Höhe herab, nach allgemeiner Annahme, »Schloß Mittenwald« in die Mark und die Lausitz hineinblickte. Die Lage dieses »Hausgrabenberges« im Norden des zu verteidigenden Notte-Flüßchens, dazu das Fortifikatorische der an andere Hügelbefestigungen jener Zeit erinnernden Anlage würden es wie zur Gewißheit erheben, daß das Schloß an diesem Punkt, und nur an diesem, gestanden haben müsse, wenn nicht der eine Umstand, daß, soviel ich weiß, keine Spur von Steinfundamenten innerhalb des Berges gefunden worden ist, das Urteil wieder schwankend machte.
Gleichviel indes, was auf seiner Höhe gestanden haben mag, jetzt steht ein Häuschen auf demselben, das sich in Weinlaub versteckt und über dessen Dach hin, als ob es doppelt geschützt werden sollte, sich die Wipfel alter Birnbäume wölben. Im Spätsommer, wenn die blauen Trauben an allen Wänden hängen und die goldgelben Birnen, entweder vom Wind oder der eigenen Schwere gelöst, polternd über das Dach hin rollen, muß es schön sein an dieser Stelle.
Der » Hausgrabenberg« hat ein reizendes Haus. Aber ein baulich größeres Interesse bietet doch der alte Torturm der Stadt, dem wir uns jetzt zuwenden. Er liegt nach Norden hin, auf dem Wege nach Köpnick und Berlin, und führt deshalb den Namen: das Köpnicker oder Berliner Tor. In alter Zeit, als Mittenwalde noch »fest« war, war dieser Torbau von ziemlich zusammengesetzter Natur und bestand aus einem quer durch den Stadtgraben führenden Steindamm, dessen Mauerlehnen hüben und drüben in einen Außen- und Innenturm ausliefen. Von jenem, dem Außentor, steht noch die Front, ein malerisch gotisches Überbleibsel, das in seiner Stattlichkeit und reichen Gliederung mehr noch an die berühmten Torbauten altmärkischer Städte (beispielsweise Salzwedels und Tangermündes) als an verwandte Bauten der Mittelmark erinnert. Es scheint, daß es ein geräumiges und beinah würfelförmiges Viereck war, das an jedem Eck einen Rundturm und zwischen diesen vier Rundtürmen – und zugleich über sie hinauswachsend – ebenso viele, mit den zierlichsten Rosetten geschmückte Giebel trug.
Aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt die Mittenwalder Propstei- oder Sankt-Moritz-Kirche. Die Kreuzgewölbe sind später. Man sieht deutlich, wie die mächtigen alten Pfeiler in bestimmter Höhe weggebrochen und die alten Tonnengewölbe durch neue, von eleganterer Konstruktion, ersetzt wurden. Um vieles moderner ist der Turm, dem übrigens mit Rücksicht auf das Jahr seiner Entstehung (1781) alles mögliche Lob gespendet werden muß. Er paßt nicht zur Kirche, nimmt sich aber nichtsdestoweniger gut genug aus. Ähnlich wie die schweren alten Steinpfeiler, die jetzt die Kreuzgewölbe tragen, unverändert dieselben geblieben sind, hat auch der Baumeister von 1781 die früheren Turmwände bis zu bestimmter Höhe hin als Unterbau fortbestehen lassen. Dadurch ist etwas ziemlich Stilloses, aber nichtsdestoweniger etwas Anziehendes und Malerisches entstanden. Die sich verjüngenden Etagen erheben sich auf dem mächtigen alten Feldsteinfundamente nach Art einer Statue auf ihrem Piedestal, und die Hagerosen und Holunderbüsche, die zu Füßen dieses aufgesetzten Turmes auf der Plattform des Unterbaues blühn, erfreuen und fesseln den Blick.
Und nun treten wir in das Innere der Kirche, die reich ist an Bildern und Grabsteinen und noch reicher an Erinnerungen. An den Wänden ziehen sich, chorstuhlartig, fünfundvierzig Kirchenstühle der alten Gewerks- und Innungsmeister hin, jeder einzelne Stuhl an seiner Rückenlehne mit den Gewerksemblemen geschmückt. Vor dem Altare liegen die Grabsteine von Burgemeister und Rat, der Altar selbst aber, ein Schnitzwerk aus katholischer Zeit und mit Bildern auf der Kehrseite seiner Türen, ist mutmaßlich ein Geschenk, das von Kurfürst Joachim I. der Mittenwalder Kirche gemacht wurde. Zwischen Altarwand und Altartisch, auf schmalem Raume, begegnen wir noch einem Christuskopf auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika, die Teilnahme jedoch, die wir diesem Bilde zuwenden, erlischt vor dem größeren Interesse, mit dem wir eines Portraits ansichtig werden, das vom Seitenschiffe her und zwischen den Pfeilern hindurch in Lebensgröße herüberblickt. Es ist nicht das Bild als solches, das uns fesselt, es ist der, den es darstellt: Neben der schmalen Sakristeitür, in schlichter Umrahmung, hängt das Bildnis Paul Gerhardts.
Paul Gerhardt war Propst zu Mittenwalde von 1651 bis 1657.
Vor etwa fünfzig Jahren wurde dieses Bildnis Paul Gerhardts nach einem in der Kirche zu Lübben befindlichen Original angefertigt und der Mittenwalder Kirche, zur Erinnerung an die Zeit seines Wirkens allhier, zum Geschenk gemacht. Es ist ein gutes Bild; die Züge verraten viel Milde, doch nichts Weichliches, und die Unterschrift, ebenfalls dem Lübbener Original entnommen, lautet wie folgt:
Paulus Gerhardus theologus in cribro satanae tentatus et devotus postea, obiit Lubbenae anno 1676, aetate 70.
Rechts daneben befinden sich folgende Distichen:
Sculpta quidem Pauli viva est ut imago Gerhardi,
Cuius in ore fides, spes, amor usque fuit,
Hic docuit nostris Assaph redivivus in oris
Et cecinit laudes Christe benigne tuas:
Spiritus aethereis veniet tibi sedibus hospes,
Haec ubi saepe canes carmina sacra Deo.
Also etwa:
Ganz wie er lebte, sind hier Paul Gerhardts Züge zu schauen,
Draus nur Glaube allein, Hoffnung und Liebe gestrahlt;
Ja, er lehrte bei uns, ein wiedererstandener Assaph,
Und er erhob im Gesang, güt’ger Erlöser, dein Lob.
Hoch von den himmlischen Höhn steigt nieder der Heilige Geist uns,
Singen die Lieder wir oft, die er gesungen dem Herrn.
Paul Gerhardt, wie schon hervorgehoben, war sechs Jahre lang Propst an der Mittenwalder Kirche, und es ist höchst wahrscheinlich, daß einige der schönsten Lieder, die wir diesem volkstümlichsten unsrer geistlichen Liederdichter verdanken, während seines Mittenwalder Aufenthaltes, in Leid und Freud des Hauses und des Amtes, gedichtet wurden.
Begleiten wir ihn auf seinem Ein- und Ausgang.
Paul Gerhardt kam spät ins Amt. Er war bereits sechsundvierzig Jahr alt, als die Kirchenvorstände von Mittenwalde, wo der Propst Goede eben gestorben war, sich an das Ministerium der Sankt-Nikolai-Kirche zu Berlin wandten mit dem Ersuchen, einen geeigneten Mann für die Mittenwalder Propsteikirche in Vorschlag zu bringen. Die Kirchenbehörden von Sankt Nikolai waren schnell entschieden; sie kannten Paul Gerhardt, der seit einer Reihe von Jahren als Lehrer und Erzieher im Hause des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold tätig war und durch Lieder und Vorträge längst die Aufmerksamkeit aller Kirchlichen auf sich gezogen hatte. Diesen empfahlen sie. Nach zwanzigjährigem Harren sah sich Paul Gerhardt am Ziele seiner innigsten Sehnsucht, und mit dem Dankeslied »Auf den Nebel folgt die Sonn, auf das Trauern Freud und Wonn« empfing er die Vocation und trat mit dem neuen Kirchenjahr 1651 ins Amt.
Freudig begann er es und voll guten Muts, all der Gegnerschaften und Widerwärtigkeiten Herr zu werden, an denen es von Anfang an nicht ermangelte. Neid, verletztes Interesse, gekränkte Eigenliebe – der seit Jahren an der Mittenwalder Kirche predigende Diakonus Alborn hatte darauf gerechnet, Propst zu werden – erschwerten ihm Amt und Leben, aber wenn er dann abends an dem offenen Hinterfenster seiner Arbeitsstube saß und über die Stadtmauer hinweg in die dunkler werdenden Felder blickte, während von der Propsteikirche her der Abend eingeläutet und eine alte Volksweise vom Turm geblasen wurde, dann ward ihm das Herz weit, und den Atem Gottes lebendiger fühlend, kam ihm selbst ein Lied und mit dem Liede Glück und Erhebung. Es war die Volksweise »Innsbruck, ich muß dich lassen«, die vom Turm herab allabendlich erklang, dieselbe alte Weise, von der Sebastian Bach später zu sagen pflegte: »er gäb all seine Werke darum hin«, und der fromme P. Gerhardt, der wohl wissen mochte, wie seine Gemeinde daran hing, trachtete jetzt danach, der schönen alten Melodie tiefere Textesworte zugrunde zu legen. So entstand das »Abendlied«:
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläft die ganze Welt –
jenes Musterstück einfachen Ausdrucks und lyrischer Stimmung, das durch einzelne daran anknüpfende Spöttereien (zum Beispiel, die ganze Welt könne nie schlafen, weil die Antipoden Tag hätten, wenn wir zur Ruhe gingen) an Volkstümlichkeit nur noch gewonnen hat.
Glaub und Liebe richteten ihn wohl auf, wenn die Kümmernisse des Lebens ihn niederdrücken wollten, aber ein Gefühl der Einsamkeit blieb ihm, und sein Herz sehnte sich nach Genossenschaft, nach einem Herd. Im vierten Jahre seines Amts bewarb er sich um die Hand Maria Bertholds, der ältesten Tochter jenes frommen Hauses, in dem er so viele Jahre glücklich gewesen war, und Propst Vehr von Sankt Nikolai, der beide seit lange gekannt und geliebt hatte, legte beider Hände ineinander. Um die Mitte Februar 1655 zog Maria Berthold in die Mittenwalder Propsteiwohnung ein.
Innige Liebe hatte das Band geschlossen, und Paul Gerhardt glaubte nun den Segen um sich zu haben, der alle bösen Geister von seiner Schwelle fernhalten würde. Neu gekräftigt in seinem Glauben und neu gestimmt zur Dankbarkeit, war es um diese Zeit wohl, daß er den hohen Freudensang anstimmte:
Warum sollt ich mich denn grämen?
Hab ich doch
Christum noch,
Wer will mir den nehmen?
Wer will mir den Himmel rauben,
Den mir schon
Gottes Sohn
Beigelegt im Glauben?
Aber es war anders bestimmt. Die Freudigkeit des Gemüts sollt ihm nicht zufallen, er sollte sie sich erringen in immer schwerer werdenden Kämpfen. Ein Töchterlein, das ihm geboren wurde, starb bald, und die Kränkungen, die das Auftreten Alborns im Geleite hatte, zehrten immer mehr an Gesundheit und Leben seiner nur zart gearteten Frau. Nicht frohe Tage waren diese Mittenwalder Tage, selbst äußere Not gesellte sich, und als der auch jetzt noch in seinem Glauben und Hoffen unerschüttert Bleibende jenes Vertrauenslied anstimmte, das von Strophe zu Strophe die Worte wiederholt: »Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit«, da war das Herz der sonst frommen Frau bereits klein und ängstlich genug geworden, um sich mißgestimmt und bitter fast von einer Glaubenskraft abzuwenden, die weit über die Kraft ihres eigenen schwachen Herzens hinausging. Tiefe Schwermut ergriff sie. Paul Gerhardt selbst aber, in jener Freudigkeit der Seele, wie sie das Vorgefühl eines nahen Sieges und endlicher Erhörung leiht, schlug seine Bibel auf und las die Worte des Psalmisten: »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn: er wird’s wohlmachen.« Und einem Funken gleich fiel das Wort in seine Brust. Er mußte freier aufatmen, die Stube ward ihm zu eng, und auf und ab schreitend in den Gängen des alten Propsteigartens, entquollen ihm die ersten Strophen zu jenem großen Trostes- und Vertrauensliede: »Befiehl du deine Wege«.
Bewegt, aber auch erhoben ging er in das Haus zurück, empfand er sich doch als Träger einer Botschaft, der kein Herz widerstehen könne. Und siehe da, an der schwermütigen Stimmung seiner Frau erprobte das Lied zum ersten Male seine wunderbare Kraft. Alles Leid floß hin in Tränen, alle Trübsal wurde Licht, und eh noch der Rausch gehobenster Empfindung vorüber war, war auch schon die Hülfe da – ein Abgesandter, ein Brief, der den Mittenwalder Propst als Diakonus an die Berliner Nikolaikirche berief. Er reichte seiner Hausfrau das Schreiben und sagte ruhig: »Siehe, wie Gott sorget. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen.«
Paul Gerhardt verließ Mittenwalde im Juli 1657. Dem weitern Gange seines Lebens folgen wir an dieser Stelle nicht, aber die Frage drängt sich auf: Was ist der Stadt, in der einige seiner schönsten Lieder entstanden, aus der Zeit seines Lebens und Wirkens erhalten geblieben? Sind noch Plätze da, die von ihm erzählen, und welche sind es?
Die Stadt bietet nichts. Das Propsteigebäude, das noch vor einigen fünfzig Jahren bewohnt war, ist seitdem abgebrochen, und selbst der Garten, in dessen Gängen er mutmaßlich das »Befiehl du deine Wege« dichtete, liegt, wüst geworden, ohne Zaun und Einfassung zwischen zwei Nachbargärten.
Die Stadt bietet nichts mehr, wohl aber die Kirche. Dicht unter seinem Bildnis, dessen ich bereits ausführlicher erwähnte, sehen wir eine Steintafel in die Wand des Seitenschiffes eingelassen, die folgende Inschrift trägt: »Maria Elisabeth – Pauli Gerhardts, damaligen Propstes allhier zu Mittenwalde, und Anna Maria Bertholds erstgebornes, herzliebes Töchterlein, so zur Welt kommen den 19. Mai Anno 1656 und wieder abgeschieden den 14. Januar Anno 1657 – hat allhier ihr Ruhebettlein und dieses Täflein von ihren lieben Eltern. Genesis 47, Vers 9: ›Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens.‹« Ein grüner Kranz faßt die Inschrift ein, und Engelsköpfe schmücken die vier Ecken.
Neben Bildnis und Stein ist die Sakristeitür. In der Sakristei selbst finden wir das alte Mittenwalder Kirchenbuch, ein großes, nach Art der Bilderbibeln in Leder gebundenes Buch, etwa 300 Jahr alt. Die Registrierungen in diesem Buch aus der Zeit von 1651 bis Neujahr 1657 rühren alle von Paul Gerhardt selber her. Seine Handschrift ist fest, dabei voll Schwung und Schönheit. Seine Aufzeichnungen schließen mit dem 28. Dezember 1656.
Bild und Stein und Buch, sie mahnen an sein Wandeln und Wirken an dieser Stätte; fehlten aber auch diese Dinge, die seinen Namen oder die Züge seiner Hand tragen, die Kirche selber – im großen und ganzen dieselbe geblieben –, sie würde dastehn zu seinem ehrenden Gedächtnis, der protestantischen Welt mehr eine Paul-Gerhardts- als eine Sankt-Moritz-Kirche. Wenig Modernes hat sich seit 200 Jahren hinzugesellt, und wohin das Auge sich wenden mag, sein Auge hat darauf geruht.
Veränderungen sollen vorgenommen werden; mögen sie mit Pietät geschehen.
Paul Gerhardt ist unbestritten der Glanzpunkt in der Geschichte Mittenwaldes, aber es hat der historischen Erinnerungen auch noch andre.
Den 31. August 1730 traf Kronprinz Friedrich unter starker Bedeckung, von Wesel aus, über Treuenbrietzen (wo er die Nacht vorher gewesen war) in Mittenwalde ein, um daselbst, vor seiner Abführung nach Küstrin, ein erstes Verhör zu bestehen. Das Truppenkommando, das ihn bis Mittenwalde geführt hatte, stand unter Befehl des Generalmajors von Buddenbrock, desselben tapferen Offiziers, der zwei Monate später dem mit der Todesstrafe drohenden König mit den Worten entgegentrat: »Wenn Ew. Majestät Blut verlangen, so nehmen Sie meines; jenes bekommen Sie nicht, solang ich noch sprechen darf.«
Kronprinz Friedrich blieb zwei Tage in Mittenwalde, vom 31. August bis 2. September. Das Verhör fand mutmaßlich am 1. statt. Er bestand es vor Generallieutenant von Grumbkow, Generalmajor von Glasenapp, Oberst von Sydow und den Geheimen Räten Mylius und Gerbett und behauptete während desselben eine »kecke und beleidigende Zurückhaltung«. Als Grumbkow ihm seine Verwunderung darüber bezeugte, antwortete er: »Ich bin auf alles gefaßt, was kommen kann, und hoffe, mein Mut wird größer sein als mein Unglück.«
Garnison stand damals noch nicht in Mittenwalde; die Stadt war überhaupt noch klein und zählte (1730) nur 952 Einwohner. In welchem Hause der Prinz bewacht wurde, hab ich nicht mehr ermitteln können; das »Schloß« existierte längst nicht mehr. Das Verhör fand mutmaßlich auf dem Rathause statt.
Das war im September 1730.
Fast siebenzig Jahre später, am Silvesterabend 1799, tritt noch einmal eine historische Figur auf die bescheidene Mittenwalder Bühne, um ihr sechs Jahre lang in Leid und Freud anzugehören. Sechs Jahre lang, wie Paul Gerhardt. Ein Kämpfer wie dieser, nicht mit mächtigeren, aber mit derberen Waffen. Es genügt, seinen Namen zu nennen: Major von Yorck, der spätere »alte Yorck«.
Unterm 6. November hatte der König an den damals in Johannisburg stehenden Major von Yorck geschrieben: »Mein lieber Major von Yorck. Da die jetzt verfügte Versetzung des Major von Uttenhoven vom Regiment Fußjäger als Commandeur zum dritten Bataillon des Regiments von Zenge es notwendig macht, dem Jägerregiment (in Mittenwalde) einen ganz capablen Commandeur zu geben, und Ich Mich überzeuge, daß Ihr die zu diesem wichtigen Posten erforderlichen Eigenschaften in Euch verbindet, so will Ich Euch hierdurch zum Commandeur des Jägerregiments ernennen« etc.
Am Silvesterabend 1799, an der Neige des Jahrhunderts, traf Major von Yorck in seiner neuen Garnison ein und überraschte seine Herren Offiziers auf dem Silvesterball. Die erste Begegnung war gemütlich genug, der dienstliche Ernst kam nach. Das seit 1780 in Mittenwalde stehende Jägerregiment war verwahrlost; er gab ihm einen neuen Geist, und dieser Geist war es, der sich sieben Jahre später erfolgreich in jenen kleinen Kämpfen bewährte, die dem Tage von Jena folgten. Bei Altenzaun am 26. Oktober, dreiviertel Meile südlich der Sandauer Fähre, waren es die Mittenwalder Jäger, die den Elbübergang des Blücherschen Corps zu decken hatten. Sie taten es mit Ruhm und Geschick. Die Jäger kehrten nicht nach Mittenwalde zurück. Yorck selbst nur auf wenige Tage, Januar 1807. Dann rief ihn die Not des Vaterlandes dorthin, wo damals allein noch Preußen war – nach Königsberg. Die Mittenwalder aber waren stolz auf ihren Yorck, und als nach schweren Jahren der Erniedrigung alles Volk in Preußenland zu Gewehr und Lanze griff und »Landwehr« wurde, da griffen die Mittenwalder zur Büchse und wurden – Jäger. Wenigstens deutet darauf die Gedächtnistafel in der Kirche hin, wo die Namen der Gefallenen fast ausnahmslos die Bezeichnung J., F. J. und G.-J., das heißt also Jäger, Freiwilliger Jäger und Garde-Jäger, tragen.
Das Haus, das Major von Yorck bewohnte, existiert noch. Es ist jetzt ein Gasthaus, in der Hauptstraße der Stadt gelegen, und führt wie billig den Namen » Hotel Yorck«. Über der Haustür erblicken wir eine Nische, und an derselben Stelle, wo sonst wohl ein »Mohr« oder ein »Engel« zu stehen pflegt, steht hier eine Büste des alten Yorck. Auch in den Zimmern findet sich sein Bild. Die Lokalität ist im großen und ganzen noch dieselbe, wie sie vor siebzig Jahren war: hinter dem Hause der Hof und hinter dem Hof ein Garten, beide von Stall- und Wirtschaftsgebäuden umstellt, an deren Außenwänden sich allerlei Treppen und Stiegen im Zickzack entlangziehen. Im Innern des Hauses hat sich natürlich viel verändert, und nur das Zimmer, das er selbst zu bewohnen pflegte, zeigt noch ein paar der alten, übrigens höchst einfachen Stuckverzierungen. Über dem Sofa hängt der Kaulbach-Muhrsche Jeremias und von der Decke herab eine Kamphinlampe. – Beides Kinder einer andern Zeit.
Wer reist nach Mittenwalde?
Tausende wallfahrten nach Gohlis, um das Haus zu sehen, darin Schiller das Lied »An die Freude« dichtete. Mittenwalde besucht niemand, und doch war es in seinem Propsteigarten, daß ein anderes, größeres Lied an die Freude gedichtet wurde, das große deutsche Tröstelied:
»Befiehl du deine Wege«.
Kleinmachenow oder Machenow auf dem Sande
Bei Warschau, bei Wien,
Bei Fehrbellin,
Ob Friedrich Wilhelm, ob Alter Fritz,
Ob Leuthen, Lützen, Dennewitz,
Ein alter märkischer Edelmann
Ist immer dabei, ist immer voran.
Kleinmachenow ist ein reizend gelegenes Dorf, das sich an einem vom Telte-Fließ gebildeten See hinzieht. Die Häuser sind ähnlich, aber schöne Kastanienalleen, wie sie während des vorigen Jahrhunderts fast überall in den Nachbardörfern Berlins entstanden, geben dem Ganzen ein sehr malerisches Ansehn.
Das Dorf ist alter Besitz der von Hakes. Diese Familie, die drei Gemshörner (Haken) im Wappen fährt, war früher wie im Havellande, so auch im Teltow reich begütert, besitzt aber in letztrem Kreise, nach Einbuße von Genshagen und Heinersdorf, nur noch Kleinmachenow und das Patronat über das angrenzende Stahnsdorf. Am Nordufer des schon genannten Sees erhebt sich der Seeberg, von dessen westlichem Abhang aus man einen prächtigen Blick ins Land hat, die Türme von Potsdam am Horizont.
Bevor wir uns im Dorfe selbst und zumal in seiner alten Kirche umsehn, sei noch ein orientierendes Vorwort gestattet über die Hakes und Hackes. Hinsichtlich dieser beiden Familien herrscht nämlich, was die Rechtschreibung ihrer Namen angeht, eine große Verwirrung, die schließlich zu Verwechselungen aller Art geführt hat. Erst neuerdings scheint man sich dahin geeinigt zu haben, nicht abwechselnd und nach Laune Hake, Haake, Haacke, Hacke etc. zu schreiben, sondern im Einklange damit, daß es zwei bestimmt geschiedene Familien gibt, auch zwei bestimmt geschiedene Namen anzunehmen: die Hakes und die Hackes.
Die Hackes sind aller Wahrscheinlichkeit nach aus Franken, und zwar in verhältnismäßig später Zeit in die Mark gekommen. Ihnen gehört vor allem Hans Christoph Friedrich von Hacke, genannt der »lange Hacke«, der bekannte Liebling Friedrich Wilhelms I., an. Er war Oberst und Generaladjutant des Königs und derselbe, an den sich der bereits sterbende Monarch, als er die Stallbedienten unten im Hof auf einem groben Fehler ertappte, mit der bekannten Aufforderung wandte: »Gehen Sie doch hinunter, Hacke , und prügeln Sie die Schurken.«
In gar keiner Beziehung zu diesen Hackes stehen die Hakes. Sie haben seit 500 Jahren immer als einfache Edelleute in der Mark gelebt und seit 300 Jahren das Erbschenkenamt der Kurmark Brandenburg bekleidet. In allen Kriegen, die wir seit den Tagen des Großen Kurfürsten geführt haben, haben zahlreiche Mitglieder dieser Familie auf unsern Schlachtfeldern gekämpft und geblutet, besonders zahlreich zur Zeit der Türkenkriege und des Spanischen Erbfolgekrieges. Ein General der Infanterie und zwei Generallieutenants gingen aus ihr hervor. Von den Generallieutenants machte Ernst Ludwig von Hake, geboren 1651 zu Kleinmachenow, den Spanischen Erbfolgekrieg als Oberst bei der Leibgarde mit; Levin Friedrich von Hake, geboren zu Genshagen, focht in den Schlesischen und im Siebenjährigen Kriege; endlich Albrecht George Ernst Karl von Hake, geboren am 8. August 1769 zu Flatow, zeichnete sich während der Befreiungskriege aus, wurde 1819 Kriegsminister und 1825 General der Infanterie. Er starb 1835 zu Castellammare. Diese drei Hakes repräsentieren, wie die drei großen Kriegsepochen unserer Geschichte, so auch drei verschiedene Zweige ihres eignen Geschlechts, und zwar die Häuser: Kleinmachenow, Genshagen, Flatow. Alle drei waren unverheiratet oder kinderlos und zwei von ihnen Ritter des Schwarzen Adlerordens.
Sie alle aber, brav und ruhmreich, wie sie waren, werden mutmaßlich von einem ihrer ersten Vorfahren, von Hans von Hake, gemeinhin Hake von Stülpe genannt, überlebt werden. Dieser Hake von Stülpe war es, der auf der Golm-Heide zwischen Jüterbog und Trebbin den Ablaßkrämer Tetzel überfiel und ihm, unter der höhnischen Vorhaltung, »den Ablaßzettel für erst noch zu begehende Sünden gestern von ihm gekauft zu haben«, die ganze Barschaft abnahm und den Kasten bergab in den Schnee rollte. Dieser Kasten befindet sich bis auf den heutigen Tag in der Kirche zu Jüterbog, Hake von Stülpe selbst aber (auch Willibald Alexis hat ihm in seinem Roman »Der Werwolf« einen Abschnitt gewidmet) wird als eine jener Figuren, wie sie das Volk gern hat, in unsrer Landesgeschichte fortleben. Der gute Humor, der Übermut und der Streich, der dem ganzen Ablaßkram dadurch gespielt wurde, haben von jeher dafür gesorgt, daß man die Tat mehr auf ihre humoristische Derbheit als auf ihren sittlichen Gehalt geprüft hat.
Wir kehren nach diesen Vorbemerkungen in unser Dorf zurück und schreiten, immer den laubholzumstandenen, stillen See zu unsrer Rechten, die blühende Kastanienallee hinauf. An Bemerkenswertem finden wir das Herrenhaus, das alte Schloß, die Wassermühle und die Kirche.
Das Herrenhaus ist ein moderner Bau aus den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nach der Gartenseite hin hat es einen halbkreisförmigen, von hohen ionischen Säulen getragenen Vorbau, der dem Ganzen etwas Stattliches leiht. Die Auffahrt auf den sehr geräumigen Hof erfolgt durch ein altes Sandsteinportal, das nach außen hin einen Medusenkopf und auf diesem eine Minerva zeigt. Die Dorfleute betrachten den Medusenkopf als das Portrait eines hartherzigen Vorbesitzers, der schließlich von den Schlangen verzehrt worden sei.
Das alte Schloß, in unmittelbarer Nähe des jetzigen Herrenhauses, ist eins der wenigen alten Schloßgebäude, die sich bis auf diesen Tag in unserer Mark erhalten haben. Es besteht aus einem schmucklosen Viereck, an dessen Nordseite sich ein sechseckiger Treppenturm lehnt. Dieser Turm überragt das Hauptgebäude nur um wenige Fuß und trägt ein Dach von eigentümlicher und schwer zu beschreibender Form; in der Mitte des eigentlichen Schloßbaus aber, und zwar in seinem Erdgeschosse, befindet sich ein starker sechs- oder achteckiger Pfeiler, der das Obergeschoß zu tragen scheint. Welcher Zeit dieser Pfeiler angehört, mag dahingestellt bleiben. Bei der Seltenheit derartiger baulicher Überbleibsel in unsrer Mark ist es vielleicht gerechtfertigt, die Aufmerksamkeit unserer Archäologen darauf hinzulenken. Von historischen Erinnerungen knüpft sich nichts an diesen Bau. Gemeinhin hat hierlandes die Orts geschichte den Ort selbst überdauert; wir wissen von der Existenz dieser oder jener Burg, von diesem oder jenem, was drin geschah, und nur die Burg selbst ist hin; in Kleinmachenow ist es umgekehrt, die Burg existiert, aber die Geschichte fehlt. Dies hat zum Teil wohl seinen Grund darin, daß Kleinmachenow nach dem Aussterben der machenowschen Hakes, etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Besitz einer Nebenlinie kam: der Hakes von Flatow im Havellande, wodurch die lebendige Tradition unterbrochen wurde.
Die Wassermühle. Ein schöner, massiver Bau, durch die Gebrüder von Hake im Jahre 1856 neu aufgeführt. Eine Inschriftstafel der alten Mühle hat man in die Frontwand des Neubaues wieder eingefügt. Die alte Inschrift lautet: »Anno 1695 hat Herr Ernst Ludwig von Hake, Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht zu Brandenburg, Friderici III., Oberster bei der Garde zu Fuß, diese adlige Freimühle hinwiederumb ganz neue aus dem Grunde erbauet, weilen die alte ganz zerfallen.« Dieser machenowschen oder Hakeschen Wassermühle wird in alten Urkunden oft erwähnt, doch ist sie nicht mit der noch älteren Wassermühle bei Potsdam, kurz vorm Einfluß der Nuthe in die Havel, zu verwechseln, die eigens den Namen Hake-Mühle (früher Hacken-Mohle) führt. Sie ist viel älter als die Hakes und wird schon 993 genannt, in welchem Jahre König Otto III. seiner Tante, der Äbtissin Mathilde von Quedlinburg, den Ort Potsdam schenkte.
Die alte Kirche. Gegenüber der Einfahrt mit dem Medusenkopf liegt die Kirche. Eh wir sie erreichen, passieren wir ein Steinkreuz, hart an der Straße, zum Andenken eines Schlabrendorf errichtet, der hier in einem Duell mit einem von Hake auf offener Dorfstraße getötet wurde. Sporen und Degen des Gefallenen sind in der Kirche aufgehängt. Nicht immer übrigens waren die Hakes Sieger bei solchen Vorfällen. Auf einem anderen Familiengute kam es zu einem Duell zwischen einem Hake und einem von Bornstedt. Man schoß sich in der großen Halle des Hauses, und Hake fiel. Ursach war ein Stückchen niedergetretenes Erbsenfeld. Man war damals rasch bei der Hand.
Wir sind nun an die Kirche herangetreten. Es ist ein überraschend gefälliger, beinah feinstilisierter Backsteinbau aus dem sechzehnten Jahrhundert (vielleicht auch schon aus dem fünfzehnten), reizend zwischen Bäumen und Efeugräbern gelegen und von einer Steinmauer eingefaßt. Die eine Kirchenwand trägt zwar deutlich die Inschrift: »Casparus Jacke, Maurermeister zu Potsdam 1597«, doch hat er die Kirche sehr wahrscheinlich nur restauriert. Der Unterbau, bis zum Beginn der Fenster, ist jedenfalls viel älter, und die bestimmt zutage tretende Verschiedenheit der Steine hat denn auch zu der Sage geführt, daß zwei Schwestern die Kirche gebaut und helle und dunkle Ziegel genommen hätten, um ihren Anteil unterscheiden zu können.
Unter den verschiedenen Grabsteinen und Denkmälern, die die Kirche besitzt, ist vorzugsweis einer Gedenktafel zu erwähnen, die Ernst Ludwig von Hake, obengenannter Oberster in Friedrichs III. Leibgarde zu Fuß, im Jahre 1696 zu ehrendem Gedächtnis seiner Eltern und Geschwister hat errichten lassen.
Diese Gedenktafel gibt zuvörderst die Namen seiner Eltern – Otto von Hake, gestorben 1682, und Anna Maria von Pfuhlin, gestorben 1682 – und demnächst die seiner vierzehn Geschwister: neun Brüder und fünf Schwestern. Aus der langen Reihe von Namen und Daten mögen hier folgende stehn:
Gürge Bertram von Hake. Geboren 1641; Leutnant im k. k. hochlöblichen spanischen Regiment zu Fuß; gefallen am 20. Juni 1662 bei Erstürmung von Serinvar durch die Türken.
Otto Sigismund von H. Geboren 1643; kaiserlicher Capitainleutnant im Götzschen Dragonerregiment gefallen 1664 im Passe Körmend in Ungarn.
Heino Friedrich von H. Geboren 1644; gestorben im Zipser Land 1667, war Leutnant im spanischen Regiment zu Fuß.
Adolph Heinrich von H. Geboren 1652; Leutnant im Terzkyschen Regiment zu Fuß, gestorben zu Zwolle in Holland.
Christoph Ehrenreich von H. Geboren 1656; Capitain im brandenburgischen Leibregiment Dragoner, gefallen 1686 bei Bestürmung und Eroberung der Festung Ofen.
Die einfachen Angaben dieser Gedenktafel zeigen deutlich den Geist, der damals in der Familie lebendig war. Die Mark gehörte noch zum »Reich«, und die Kämpfe Habsburgs waren noch die Kämpfe Brandenburgs. Vier der Otto von Hakeschen Söhne dienten in östreichischen Regimentern, zwei fielen im Türkenkrieg, zwei erlagen der Krankheit. Der fünfte und jüngste war Capitain in einem brandenburgischen Regiment, focht aber, in dem vom General von Schöning kommandierten Kontingent, für dieselbe Sache und fiel im Kampfe gegen den Erbfeind.
Der mehrerwähnte Ernst Ludwig von Hake scheint übrigens gleichzeitig zu ehrendem Gedächtnis seiner vor ihm heimgegangenen Brüder die Kirche zu Machenow mit zehn Fahnen ausgeschmückt zu haben, von denen jede einen Banner- oder Sinnspruch trug, dessen Anfangsbuchstaben dem Tauf- und Familiennamen des zu Feiernden entsprachen. Drei von diesen Fahnen existieren noch, die andern sieben sind zerfetzt und zeigen wenig mehr als die Stöcke. Die Sinnsprüche der noch vorhandenen drei Fahnen sind die folgenden:
»Ornat Virtus Heroem« ( Otto Von Hake);
»Coelum Est Vera Habitatio« ( Christoph Ehrenreich Von Hake);
»Abimus Hinc Veluti Hospites« ( Adolph Heinrich Von Hake).
Außerdem befindet sich noch ein Denkmal des 1704 bei Höchstädt auf den Tod verwundeten und zu Nördlingen begrabenen Ehrenreich von Hake sowie ferner ein elftes Banner in der Kirche, das Hedwig Margarete von Hake, eine Schwester der oben angeführten kaiserlichen und kurbrandenburgischen Offiziere, zu Ehren ihres bei Fehrbellin gefallenen Bräutigams aufrichten ließ. Dies Banner führt folgende Inschrift: »Dem Herrn Ernst von Schlabrendorf, Obristwachtmeister in des Obristleutnants von Grumbkow Escadron Dragoner, gefallen 1675 bei Fehrbellin und in der dalimschen Kirche beigesetzt.«
Die Forsten von Kleinmachenow grenzen an den Grunewald und das Potsdamer Jagdrevier. Es war deshalb den jagdliebenden Hohenzollern von jeher daran gelegen, die Jagdgerechtigkeit auf dem machenowschen Territorium zu haben, und die Hakes besitzen denn auch aus dem Ende des siebzehnten und dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts eine ziemliche Anzahl von Verpachtungsurkunden, in denen das Verhältnis zwischen den eigentlichen Besitzern und dem fürstlichen Jagdpächter geregelt wird. In einer dieser Urkunden heißt es: »Seine Kurfürstliche Durchlaucht (Friedrich III.) wollen ihnen, denen von Hake, und ihren Successoribus, bei vorfallenden › Ausrichtungen‹, als Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen, etwas an rotem Wildbret auf ihr untertänigstes Ansuchen ohne Entgelt reichen lassen.« Der Wortlaut dieser Urkunde – die 150 Jahre lang unbeachtet im Familienarchiv gelegen haben mochte – ward 1848 von dem Assessor von Hake zu einer Eingabe an die Potsdamer Regierung benutzt, und zwar unter Hinweis darauf, daß der vorgesehene Fall eingetreten und ihm ein Töchterchen geboren sei. Die Regierung beeilte sich auch wirklich, dem wohlbegründeten Gesuch nachzukommen, und ein tüchtiger Hirsch wurde zur Taufe des kleinen Fräulein von Hake in die gutsherrliche Küche geliefert. »Leider« – so erzählte mir Herr von Hake – »hat es bei diesem einen Hirsch sein Bewenden gehabt; noch andre Kinder sind mir seitdem geboren worden, aber infolge der Aufhebung des Jagdrechts ist mittlerweile meine alte Wildbretsurkunde zu einem toten Stück Papier geworden.«
Machenow auf dem Sande ist nur eine gute halbe Stunde vom Wann- und Schlachten-See und all jenen andern im Grunewald gelegenen Wald- und Wasserpartien entfernt, die, wenn längst gehegte Wünsche sich erfüllen (erfüllten sich seitdem), über kurz oder lang vor die Tore Berlins gerückt sein werden. Dann, wenn die steil abfallende Hügelreihe, die das weite Becken des Wannsee von Osten her umfaßt, zu einem Quai für heitre, von wildem Wein umlaubte Villen geworden sein und Forst und Fluß nach allen Seiten hin durchstreift werden wird, dann wird auch das hübsche Dorf am Telte-Fließ seine Besucher und seine Verehrer gefunden haben.
Mögen diese dann an der alten, efeuversteckten Kirche und an dem Steinkreuz des gefallenen Schlabrendorf nicht vorübergehn.
Großbeeren
»Unsre Gebeine sollen diesseits
Berlin bleichen, nicht jenseits.«
General von Bülow
Zwei Meilen südlich von Berlin liegen die berühmten Felder von Großbeeren. Wer häufiger die Eisenbahn benutzt die daran vorüber ins Anhaltische und Sächsische führt, wird es nicht selten erlebt haben, daß Fremde, die bis dahin lesend oder plaudernd in der Ecke saßen, plötzlich sich aufrichten und, mit dem Finger auf die weite Ebene deutend, halb zuversichtlich, halb frageweise die Worte sprechen: »Ah, c’est le champ de bataille de Großbeeren!«
Und wie die Fremden davon wissen, so natürlich vor allem auch die Berliner, die den »Tag von Großbeeren« an jedem 23. August in pflichtschuldiger Dankbarkeit feiern. Aber sie feiern ihn, ohne sich zu vergegenwärtigen, wie der Sieg errungen wurde. Niemand weiß mehr von den Einzelnheiten oder gar von dem Gesamtgange der Schlacht zu berichten, und was von den Berlinern gilt, gilt auch von den Bewohnern des Dorfes selbst. Ich trieb mühevoll einen Tagelöhner auf, der den Schlachttag noch miterlebt und aus seinem Versteck heraus ein paar Tschakos oder Bajonettspitzen gesehen hatte. Das war alles. Über die gleichgültigsten Details hinaus war seinem Gedächtnis nichts verblieben. Vollends verloren aber ist der, oder war es wenigstens früher, der von den beiden in Nähe der Kirche stationierten Invaliden irgendwelchen Aufschluß erwartete. Sie wußten absolut nichts von jenem Schlachtfelde, das jahraus, jahrein zu ihren Füßen lag und dessen bestellte Wächter sie waren, und nichts von jenem Kirchhof, um dessen Besitz einst so heiß gestritten ward.
Und so mag sich denn im nachstehenden ein Überblick über die damalige politisch-militärische Situation und daran anschließend eine kurze Beschreibung der »Bataille« geziemen.
Die Schlacht bei Großbeeren
am 23. August 1813
Napoleon, als der Waffenstillstand abgelaufen und Österreich dem Bündnisse Rußlands und Preußens beigetreten war, richtete sein Hauptaugenmerk auf Berlin. Er beschloß, sich desselben zu bemächtigen, und ordnete zu diesem Zwecke die Bildung einer aus dem 4., 7. und 12. Corps bestehenden Armee an, an deren Spitze er den Marschall Oudinot stellte. »Sie werden mit einer solchen Armee«, hieß es in einer dem Marschall um die Mitte des August zugebenden Generalordre, »den Feind rasch zurückdrängen, Berlin einnehmen, die Einwohner entwaffnen, die Landwehr auflösen und die Haufen schlechter Truppen zerstreuen.« Infolge dieser Ordre betrat Oudinots Armee, deren Sammelplatz Luckau gewesen war, am 19. die Mark, rückte gegen Baruth und stand am 22. abends in dreimeiliger Entfernung von Berlin: das 4. Corps Bertrand bei Jühnsdorf, das 7. Corps Reynier bei Wietstock, das 12. Corps Oudinot zwischen Trebbin und Thyrow. Oudinot nämlich, wie gleich hier hervorgehoben werden mag, hatte nicht bloß den Oberbefehl über das Ganze, sondern auch noch den Spezialbefehl über das letztgenannte 12. Corps.
Am andern Tage sollte der Vormarsch gegen Berlin fortgesetzt werden, zu dessen Schutze die vom Kronprinzen von Schweden (Bernadotte) kommandierte Nordarmee zwischen Ruhlsdorf, Heinersdorf und Blankenfelde Stellung genommen hatte. Der nächste Tag mußte voraussichtlich einen ernsten, vielleicht sogar den entscheidenden Zusammenstoß bringen.
Und dieser Zusammenstoß fand auch wirklich statt. Eh ich jedoch eine Darstellung desselben gebe, versuch ich eine Schilderung der sich gegenüberstehenden Streitkräfte.
Die Oudinotsche Armee, 70 000 Mann stark, bestand aus neun Divisionen, von denen fünf fremden Nationalitäten angehörten: zwei waren sächsisch, eine bayerisch, eine württembergisch und eine italienisch. Aber auch die verbleibenden vier französischen Divisionen ließen an Zuverlässigkeit allerhand vermissen, da man bei der letzten Aushebung auf das ersatzpflichtige Alter keine Rücksicht genommen, vielmehr blutjunge Leute, die fast noch im Knabenalter standen, mit herangezogen hatte. Besonders unzuverlässig war die zum 7. Corps Reynier gehörige Division Durutte, die zum größten Teil aus Réfractairs, das heißt aus solchen, die sich der Aushebung bis dahin zu entziehen gewußt hatten, aus Déserteurs und Verbrechern gebildet war. Von den Befehlshabern kamen nur Oudinot und Reynier in Betracht, aber auch hinsichtlich ihrer blieb manches zu wünschen. Oudinot machte den Oberbefehl nicht genügend geltend, ja vermied sogar die persönliche Berührung mit seinen Untergeneralen, während Reynier unlustig und erbittert über die Zurücksetzung war, die Napoleon ihn beständig erfahren ließ.
Die diesseitige Nordarmee war viel stärker und umfaßte bis gegen 100 000 Mann. Aber auch die dieser zugehörigen Truppenteile waren von gemischter Nationalität und unterstanden, was der Hauptübelstand war, einem Oberbefehlshaber, der, ohne jedes Herz für die Sache, nur seinem persönlichen Interesse nachhing – ein Übelstand, der noch schwerer ins Gewicht gefallen wäre, wenn nicht der Geist der beiden preußischen Heerführer, Bülow und Tauentzien, und kaum minder der in ihren Landwehren, aller mangelhaften Ausbildung und Bewaffnung unerachtet, anzutreffende preußische Kampfesmut eine Balance geschaffen hätte. Jedenfalls standen wir hinter der Oudinotschen Armee nicht zurück und hatten keinen Anspruch darauf, von Napoleon als »schlechte Truppe« und sogar als »Gesindel« bezeichnet zu werden. Der nächste Tag sollte denn auch zeigen, daß er die Rechnung ohne den Wirt gemacht und »l’enfanterie prussienne« sehr unterschätzt hatte.
Beginn der Schlacht
Der rechte französische Flügel, das 4. Corps Bertrand, dirigierte sich am 23. in aller Frühe schon von Jühnsdorf gegen Blankenfelde, das bereits am voraufgegangenen Tage durch das diesseitige IV. Corps unter General Tauentzien besetzt worden war. Es entspann sich alsbald ein leichtes Gefecht, das bis gegen die Mittagsstunde fortgeführt wurde. Zu dieser Zeit wandte sich Bertrand an den links neben ihm stehenden Reynier und ließ ihn wissen, »daß er auf hartnäckigen Widerstand gestoßen sei, weshalb er Blankenfelde nur dann nehmen könne, wenn im Zentrum energischer vorgegangen und er (Bertrand) dadurch degagiert würde«. Da sich Reynier zu solchem »energischen Vorgehn« nicht bereit erklärte, ja mit Rücksicht auf das noch weit zurück befindliche Linke-Flügel-Corps Oudinot auch kaum erklären konnte, so schlief das Gefecht am rechten Flügel (Blankenfelde) ein und ward auch im ganzen Laufe des Tages nicht wieder aufgenommen.
Bertrands Forderung, »im Zentrum energischer vorzugehn«, war unerfüllt geblieben, aber ein Vorgehen überhaupt hatte nichtsdestoweniger stattgefunden und zur Wegnahme des durch drei diesseitige Bataillone besetzten Dorfes Großbeeren geführt.
Infolge davon war das Zentrum der vorgeschobenste Punkt der französischen Angriffslinie geworden; der rechte Flügel bei Jühnsdorf stand um eine Meile, der linke, zwischen Trebbin und Thyrow, um anderthalb Meilen zurück. An ebendiesem linken Flügel befand sich auch das Oberkommando.
Die Stellung bei Freund und Feind war um fünf Uhr die folgende:
Die Entscheidung Von fünf bis sieben
General Reynier, als ihm gemeldet wurde, daß die preußische Vorhut auf Heinersdorf zurückgezogen sei, ließ seine Truppen auf einem Hügelzuge, der sich in Front Großbeerens von der Kirche bis zur Windmühle und von dieser wieder bis nach dem Vorwerke Neubeeren zieht, ins Bivouac rücken. Er gewärtigte keines Angriffs mehr, der ihm ebensosehr der vorgerückten Stunde wie des in Strömen fallenden Regens halber unwahrscheinlich, ja beinah unmöglich erschien, und antwortete dem sächsischen Divisionsgeneral, der ihn vor der List und Entschlossenheit der Preußen warnte: »Sie kommen nicht.«
Aber sie kamen doch.
Um dieselbe Stunde nämlich, als unsere drei Bataillons starke Vorhut aus Großbeeren abmarschiert und zum Überfluß auch noch Ordre von Ruhlsdorf her eingetroffen war, »bis in die Verschanzungen vor Berlin und demnächst bis über die Spree zurückzugehen«, entschloß sich General Bülow, den ihm gegenüberstehenden Reynier anzugreifen und das verlorengegangene Großbeeren zurückzuerobern. Er rief seine Brigadegenerale zusammen, um ihnen den von ihm gefaßten Entschluß mitzuteilen. Er habe sich schon am Tage vorher von der Aktionsunlust des Oberkommandierenden überzeugen können, der seinen Mangel an Eifer mit seinem Mißtrauen in den Wert der ihm unterstellten »neuen Truppen« zu begründen versucht habe. Diese »neuen Truppen« aber seien, was ihnen in diesem und jenem auch fehlen möge, vom besten Geiste beseelt und bedurften nur einer entschlossenen Führung, um sich aufs neue zu bewähren, wie sie sich schon vor dem Waffenstillstand und neuerdings wieder bei Luckau bewährt hätten. Jedenfalls sei es sein Wille, nicht ohne ein vorgängiges ernstes Gefecht das Feld zu räumen. »Unsere Gebeine«, so schloß er, »sollen diesseits Berlin bleichen, nicht jenseits.« Alle Generale stimmten ihm zu, wonach er ohne weiteres nach Ruhlsdorf hin melden ließ: »er werde mit dem III. Corps avancieren und Großbeeren innerhalb einer Stunde wiedernehmen«.
Als die Truppen von diesem Entschlusse hörten, erfüllte sie plötzlich ein Geist der Zuversicht, und wiewohl sie durch vierundzwanzig Stunden hin nicht Holz und nicht Stroh, kaum Kommißbrot und Branntwein und eigentlich nichts als Regen und wieder Regen gehabt hatten, verlangte doch jeder nach Kampf und brach in hellen Jubel aus, als es hieß: »An die Gewehre!«
Die Dispositionen zum Angriff waren schnell getroffen und lauteten:
Die Brigade Krafft, gefolgt von der Brigade Thümen, avanciert gegen die Hügelposition zwischen Kirche und Windmühle.
Die Brigade Prinz von Hessen-Homburg avanciert gegen die Position zwischen der Windmühle und dem Vorwerk Neubeeren.
Die Brigade von Borstell endlich führt eine Seitenbewegung aus und sucht den Frontangriff auf Großbeeren aus der diesseitigen linken Flanke zu soutenieren.
Es war sechs Uhr, als sich die genannten Brigaden in drei Linien von Heinersdorf her in Bewegung setzten.
Mit Erstaunen hörte Reynier die Meldung, daß das gesamte Bülowsche Corps gegen Großbeeren heranrücke. Rasch indessen fand er sich zurecht, und bevor noch unsere Kolonnen auf halbem Wege heran waren, hatten die Truppenteile seines Corps folgende gutgewählte Stellungen inne:
Sächsische Division von Sahr:
Grenadierbataillon von Sperl in Großbeeren selbst;
Brigade von Bose (mit dem Regiment von Low in Front) zwischen Kirche und Windmühle;
Brigade von Ryssel zwischen Windmühle und Neubeeren.
Sächsische Division von Le Coq:
im Rücken von Großbeeren, zwischen diesem und der genshagenschen Heide.
Französische Division Durutte:
rechts neben der Division Le Coq, also zwischen dieser Division und der nach Genshagen fahrenden Straße.
Sämtliche Geschütze des Reynierschen Corps, sechzig an der Zahl, waren in die Front gezogen worden und erwiderten sofort das Feuer, das Oberst von Holtzendorf aus vierundsechzig preußisch-russischen Sechs- und Zwölfpfündern auf eine Distance von 1800 Schritt eröffnet hatte. Zunächst schien das feindliche Feuer im Vorteil bleiben zu sollen: mehrere preußische Geschütze waren demontiert, und eine zerschossene Batterie mußte zurückgenommen werden; als aber um ebendiese Zeit die schwedische reitende Batterie von Cardell in die diesseitige Geschützfront einrückte, gab Oberst von Holtzendorf Befehl, bis auf 1200 Schritt zu avancieren. Alle Batterien jagten vor, und im selben Augenblicke fast, wo sich die Wirkung dieses Vorgehens erkennen ließ, ließ General von Bülow die bis dahin in Deckung zurückgehaltenen Brigaden Krafft und Thümen im Sturmschritte gegen Dorf und Kirche vorbrechen.
Ein erbitterter Kampf entspann sich. Das 1. Bataillon Kolberg griff Großbeeren in der Front an, während rechts daneben Major von Gagern an der Spitze des 5. Reserveregiments auf die den Kirchhofshügel verteidigenden Sachsen eindrang und das hier stehende Regiment von Low zersprengte. Neue Bataillone, die Reynier aus der hinter dem Dorfe haltenden Division Le Coq in die Front zog, stellten das Gefecht zwar wieder her, und ein Vorbrechen sächsischer Ulanen parierte sogar siegreich einen diesseitigen Reiterangriff. Aber dies war auch der letzte glückliche Moment auf gegnerischer Seite. Denn in demselben Augenblicke fast, wo sich die sächsische Kavallerie dieses Erfolges rühmen durfte, wurde die gesamte feindliche Position von zwei Seiten her umfaßt, indem die gerade jetzt den Lilo-Bach passierende Vorhut der Borstellschen Brigade Großbeeren von Osten her, die Brigade Prinz von Hessen-Homburg aber die mehr nach Westen hin gelegene Hügelposition zwischen der Windmühle und dem Vorwerk Neubeeren erstürmte. Durch diese Bewegung von links und rechts her war die ganze in Front stehende Division Sahr abgeschnitten und hatte nur noch für ihren Rückzug zu kämpfen. Diesen bewerkstelligte sie geschickt und ging in guter Haltung, wenn auch unter erheblichen Verlusten, auf die genshagensche Heide zurück.
Hiermit war die Wiedereroberung Großbeerens ausgeführt. Allerdings, da von den neun Divisionen der Oudinotschen Armee nur drei wirklich engagiert gewesen waren, lag es in der Möglichkeit, unsern Erfolg wieder bestritten zu sehen, und in der Tat wurde der Versuch dazu gemacht, als bei Dunkelwerden die Spitze des noch vollkommen intakten 12. Corps in verhältnismäßiger Nähe des Schlachtfeldes erschien. Aber auch dieser Versuch, an dem sich namentlich Kavallerie beteiligte, schlug fehl, und um neun Uhr schwieg das Gefecht. Unbehelligt gingen alle drei Divisionen vom Corps Reynier auf Löwenbruch und Wietstock, die Corps Bertrand und Oudinot aber auf Saalow und Trebbin zurück.
Der erste Versuch Napoleons, sich Berlins zu bemächtigen – der zweite führte zur Schlacht bei Dennewitz –, war gescheitert und hatte dem Corps Reynier, insonderheit den beiden sächsischen Divisionen, einen starken Verlust bereitet. Allein diese letztgenannten verloren 28 Offiziere und 2096 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen. 14 Kanonen und 52 Munitionswagen waren außerdem eingebüßt worden. Unser Verlust bezifferte sich auf nicht mehr als 1100 Mann, alle vom Bülowschen Corps. Auf Seite der Schweden war nur ein Offizier verwundet worden.
Berlin jubelte und betätigte seinen Jubel. Elf Wagenreihen, mit Brot und Tabak, mit Bier und Branntwein beladen, setzten sich nach dem Bivouac von Heinersdorf hin in Bewegung. Auch von Eberswalde, Charlottenburg und Oranienburg erschienen Transporte.
Der Kronprinz von Schweden erließ anderen Tages aus dem Lager von Ruhlsdorf ein Bulletin, in welchem er mit nicht allzugroßer historischer Treue die Begebenheiten der letzten Tage bekanntmachte. Hinsichtlich des Generals von Bülow und seines Corps hieß es wörtlich: »General von Bülow erhielt Befehl, den Feind anzugreifen. Er führte diesen Befehl mit derjenigen Entschlossenheit aus, die den geschickten General bekundet. Seine Truppen marschierten mit ebenjener Ruhe, die während des Siebenjährigen Krieges die Soldaten des großen Friedrich auszeichnete.« General von Bülow selbst enthielt sich begreiflicherweise jedes Hinweises auf die »Soldaten des großen Friedrich«, unterließ aber nicht, das Tatsächliche richtigzustellen. »Ich faßte«, so heißt es in seinem Bericht an den König, »den Entschluß, den Feind anzugreifen, und wurde dazu durch einen nachträglichen Befehl des Kronprinzen autorisiert. Unter Einschluß der mir zugeteilten russischen Batterien sowie der Kosaken haben die Truppen Ew. Majestät allein gefochten.«
Im übrigen war es keine große Schlacht gewesen. Einem energischen, aber wie gewöhnlich erfolglosen Artilleriekampfe war eine Dorferstürmung gefolgt, welcher es, aller Tapferkeit unerachtet, doch insoweit an allem Heldischen gebrach, als wir den Schlüssel der Position: die Kirchhofsstellung, in erheblicher Überzahl angriffen. Es bleiben aber solche vor den Toren einer Hauptstadt geschlagenen Schlachten immer ganz besonders im Gedächtnisse der Menschheit, einfach deshalb, weil die Zahl der durch solche Kämpfe zu direkter Dankbarkeit Verpflichteten um vieles größer ist als bei Provinzial- oder gar Auslandsschlachten. Und so kommt es denn auch, daß Großbeeren – beispielsweise weit über das im übrigen sehr verwandte Dennewitz hinaus – ein Lieblingstag in unserer berlinisch-brandenburgischen Geschichte geblieben ist, fast so beliebt und gefeiert wie Fehrbellin.
Als ein gefälliges Spiel des Zufalls mag dabei noch hervorgehoben werden, daß es, wie bei Fehrbellin, so auch bei Großbeeren, ein Prinz von Hessen-Homburg war, der durch einen im entscheidenden Moment geschickt ausgeführten Angriff zum Siege mitwirkte.
Geist von Beeren
Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten verhaßt.
Der Großbeerener Kirche schräg gegenüber, an der anderen Seite der Dorfgasse, werden wir, über eine Feldsteinmauer hinweg, eines sauberen und gut erhaltenen Wohnhauses sichtbar, in dem zur Zeit der Großbeerener Schlacht oder doch noch kurz vorher der »Geist von Beeren« hauste. Das klingt gespenstisch und darf so klingen, wenn zwischen Gespenstern und Kobolden irgendwelche Verwandtschaft ist. »Geist von Beeren« war ein Kobold, nebenher auch Besitzer von Groß- und Kleinbeeren und der letzte aus jenem alten Geschlecht der Beeren oder Berne, das vier Jahrhunderte lang die genannten beiden Güter innehatte.
Von diesem Hans Heinrich Arnold von Beeren will ich erzählen.
Ums Jahr 1785 hatte er beim Könige die Erlaubnis nachgesucht, seinem alten Namen »von Beeren« den Namen »Geist« hinzufügen zu dürfen. Die Erlaubnis war auch erteilt worden, und seitdem hieß er der »Geist von Beeren« oder, kürzer, »der tolle Geist«. Er war ein kleiner, schmächtiger, lebhafter Mann, witzig, sarkastisch, hämisch. Zwietracht anstiften, zanken, streiten und opponieren war seine Lust. Von seinen unzähligen Schnurren, Injurien und Prozessen lebt noch einzelnes in der Erinnerung des Volkes, und ich erzähle, was ich davon erfahren konnte. Die meisten dieser Geschichten setzen sich freilich bloß aus Albernheit, Übermut und Chicane zusammen, manches indes ist wirklich gut und treffend, und jedenfalls entsprach all und jedes dem nicht sehr verfeinerten Bedürfnis seiner Zeit und seiner Umgebung.
Zwei Gruppen von Personen waren es besonders, mit denen der streitlustige Geist eine unausgesetzte Fehde unterhielt: seine Gutsnachbarn und die Regierungsbeamten. Unter den ersteren hatte er sich besonders den Herrn von Hake auf Genshagen zum Gegenstand nicht enden wollender Anzüglichkeiten und Verhöhnungen ausersehen.
Die Korrespondenz, die er mit diesem seinem Nachbar in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren geführt hat, soll ein wahrer Anekdotenschatz und für die Freunde des Hakeschen Hauses seinerzeit eine unerschöpfliche Quelle der Erheiterung gewesen sein. Leider ist diese Korrespondenz verbrannt. Zwei Geschichten indes aus der langen Reihe dieser gutsnachbarlichen Rancunen und Streitigkeiten existieren noch. Geist, im übrigen kein Freund der Jagd, ließ sich eine Jagd- und Schießhütte bauen, wenig Schritte von dem Punkt entfernt, wo seine eigene Feldmark mit der Genshagener Forst zusammenstieß. Die Front der Hütte ging auf feindliches Gebiet hinaus, und die Absicht lag klar zutage. Hier saß er halbe Nächte lang und schoß von seinem Territorium aus dem Herrn von Hake die Rehe tot – ein Wilddieb aus purer Malice. Als Hake Beschwerde führte und auf Abbrechen der Hütte antrug, antwortete Geist: die Hütte habe keinen offensiven Charakter; er (Geist) habe von Jugend auf immer rückwärts geschossen und müsse es ablehnen, in seinen alten Tagen nach einem neuen Prinzip auf Jagd zu gehen.
Bei anderer Gelegenheit beschwerte sich Herr von Hake, daß er bei Passierung einer Brücke, für deren Instandhaltung Geist Sorge tragen mußte, mit seinem Justitiarius Buchholz eingebrochen sei. Geist replizierte: »über die Brücke würden täglich sechsundzwanzig seiner schwersten Ochsen getrieben, und niemals hab er gehört, daß einer derselben irgendwie Schaden genommen; es sei mindestens eine auffallende Erscheinung, daß gerade Herr von Hake mit seinem Justitiarius durchgebrochen sei«. Herr von Hake hatte nicht Lust, den Streit ruhen zu lassen, und ging an die Gerichte. Als Geist eine Vorladung empfing, ließ er den Brückensteg ohne weiteres abtragen und auf einen Holzwagen setzen und erschien nun damit vorm Kammergericht in Berlin, die Räte desselben allergehorsamst ersuchend, sich durch Okularinspektion von der Richtigkeit seiner Aussagen und der Haltbarkeit des Brückenstegs überzeugen zu wollen.
Einen viel lebhafteren Groll unterhielt er gegen alles, was sich »Regierung« oder »Behörde« nannte und mit der Miene der Autorität gegen ihn auftreten wollte. Die alte Registratur des Kammergerichts, das er in seinen Eingaben gelegentlich »hochpreisliches Jammergericht« anzureden liebte, soll davon zu erzählen wissen. Seine Fehden mit dem Pupillenkollegium, dessen Namen er nicht müde ward in der wunderlichsten Weise zu kürzen oder zu verunstalten, sind teils allgemeiner bekannt geworden, teils liegen sie jenseit aller Mitteitungsmöglichkeit – wiewohl man dem humoristischen Übermut gegenüber, der sich in allen seinen Schnurren ausspricht, eigentlich jedes Anstandsbedenken aufgeben und der derben Laune sich freuen sollte.
Neben dem Pupillenkollegium hatte niemand mehr als die Potsdamer Regierung unter seinen Sarkasmen zu leiden. Jede Schwäche, jedes Versehen fand einen unerbittlichen Kritiker in ihm. Bei Abschätzung des Gutes waren Wert und Ertragsfähigkeit desselben zu hoch oder zu niedrig taxiert worden, und die Regierung, den Streit endlich zu schlichten, schickte eine Untersuchungs- und Begutachtungskommission. Die Zeit, Mitte Dezember, war allerdings nicht allzu günstig gewählt, und Geist faßte nunmehr in seinem nächsten Schreiben an die Regierung alles, was er zu sagen hatte, in folgendem Reim zusammen:
Gerechter Gott des Himmels und der Erden,
Was soll aus deiner heiligen Justitia werden?
Die Erde ist bedeckt mit Eis und Schnee,
Da untersuchen sie die Bonité!
O weh, o weh, o weh!
Unter den Personen, gegen die seine Spöttereien sich richteten, war unter andern auch der Reformator unserer Landwirtschaft, der berühmte Thaer. Die Prinzipien, die dieser einzuführen trachtete, hatten nicht die Zustimmung unseres Geist von Beeren, vielmehr machte letztrer seinem Unmut in einer kleinen Brochure Luft, die den Titel führte: »Die preußische Landwirtschaft ohne Theer«. Alles lachte. Der kleine Tückebold hatte sich aber diesmal verrechnet, und es erschien eine Gegenschrift unter dem Titel: »Die preußische Landwirtschaft ohne Geist«. Solchem Repartie war er nicht gewachsen, und er gab die Fortsetzung des Kampfes auf.
Sein bester, weil treffendster Streich war vielleicht der folgende. Wir hatten ein Kienraupenjahr, und die Forstheiden der Mark befanden sich in einem allertraurigsten Zustande. Die Potsdamer Regierung sah sich deshalb veranlaßt, eine Verfügung zu treffen, in der sie mitteilte, wie den Raupen am besten beizukommen und weiterer Schaden zu vermeiden sei. Die Verfügung schmeckte freilich etwas nach »grünem Tisch« und war unpraktisch. Geist antwortete wenige Tage später: »Probatum est! Ich bin in den Wald gegangen, habe den Kienraupen das Reskript einer königlichen Regierung vorgelesen, und siehe da, die Raupen haben sich sämtlich totgelacht.«
Solche Repliken gingen alsbald von Mund zu Mund und machten ihn beim Landvolk, auch wohl bei manchem Gutsbesitzer beliebt, die, um solcher Abfertigungen und Verhöhnungen willen, gern vergaßen, was sonst wohl gegen den »tollen Geist« zu sagen war. Denn der Landmann unterhält eine natürliche Feindschaft gegen den Städter, dessen überhebliches Wesen ihn verdrießt und dessen Erlassen und Gesetzen er mißtraut. »Der Städter weiß nichts vom Land«, das ist ein Satz, der sich von Vater auf Sohn vererbt.
Bis in sein hohes Mannesalter blieb Geist von Beeren unverheiratet und führte ein wüstes, sittenloses Leben. Er hielt einen völligen Harem um sich her. Von seiner »Favoritin« hatte er einen Sohn, der des Vaters würdig war und zweimal das ganze Gehöft anzündete und in Asche legte. Geist von Beeren indes nahm keinen Anstoß daran, vielleicht weil er sein Abbild darin sah, und ging damit um, diesen Sohn zu adoptieren. Dazu gehörte jedoch die Einwilligung seines (des alten Geist) einzigen Bruders, der als General in preußischen Diensten stand und in Erscheinung und Sinnesart das volle Gegenteil unseres Helden und Kobolds war. Er kommandierte die spätern Brandenburger Kürassiere, die nach ihm damals die »von-Beeren-Kürassiere« hießen. Der General verweigerte die Zustimmung. Geist von Beeren seinerseits war natürlich nicht der Mann, dergleichen ruhig hinzunehmen, und beschloß, sich zu verheiraten, lediglich seinem Bruder zum Tort. Der Harem wurde mit großen Kosten von ihm aufgelöst, und gleich danach erfolgte seine Vermählung mit einem Fräulein von Eysenhardt. Es währte jedoch nur kurze Zeit. Er starb 1812 und hinterließ eine einzige Tochter. Auch diese schied jung aus dem Leben. Das plötzliche Erlöschen der Familie, wie aller Unsegen überhaupt, der teils vor, teils nach dem Tode des alten Geist die Zugehörigen des Hauses traf, wird mit der Familiensage vom » Allerhühnchen« in Verbindung gebracht. Es ist dies die folgende.
Vor mehreren hundert Jahren war eine Frau von Beeren eines Kindleins glücklich genesen. In einem großen Himmelbett, dessen Gardinen halb geöffnet waren, lag die junge Frau, neben sich die Wiege mit dem Kind, und verfolgte in träumerischem Spiel die Schatten, die in dem spärlich erleuchteten Zimmer an Wand und Decke auf und ab tanzten. Plötzlich bemerkte sie, daß es unter dem Kachelofen, der auf vier schweren Holzfüßen stand, hell wurde, und als sie sich aufrichtete, sah sie deutlich, daß ein Teil der Diele wie eine kleine Kellertür aufgehoben war. Aus der Öffnung stiegen alsbald allerhand zwergenhafte Gestalten, von denen die vordersten kleine Lichtchen trugen, während andere die Honneurs machten und die nach ihnen Kommenden willkommen hießen. Alle waren geputzt. Ehe sich die Wöchnerin von ihrem Staunen erholen konnte, ordneten sich die Kleinen zu einem Zuge und marschierten zu zwei und zwei vor das Bett der jungen Frau. Die zwei vordersten baten um die Erlaubnis, ein Familienfest feiern zu dürfen, zu dem sie sich unter dem Ofen versammelt hätten. Frau von Beeren war eine liebenswürdige Natur, ihr guter Humor gewann die Oberhand, und sie nickte bejahend mit dem Kopf. Alsbald kehrten die Kleinen unter den Ofen zurück und begannen ihr Fest. Aus der Kelleröffnung wurden Tischchen heraufgebracht, andere deckten weiße Tücher darüber, Lichterchen wurden aufgestellt, und ehe viele Minuten um waren, saßen die Kleinen an ihren Tischen und ließen sich’s schmecken. Frau von Beeren konnte die Züge der einzelnen nicht unterscheiden, aber sie sah die lebhaften Bewegungen und erkannte deutlich, daß alle sehr heiter waren. Nach dem Essen wurde getanzt. Eine leise Musik, wie wenn Violinen im Traum gespielt würden, klang durch das ganze Zimmer. Als der Tanz vorüber war, ordneten sich alle wieder zu einem Zuge und erschienen abermals vor dem Bett der Wöchnerin und dankten für freundliche Aufnahme. Zugleich legten sie ein Angebinde nieder und baten die Mutter, des Geschenkes wohl achtzuhaben: die Familie werde blühen, solange man das Geschenk in Ehren halte, werd aber vergehen und verderben, sobald man es mißachte. Dann kehrten sie unter den Ofen zurück, die Lichterchen erloschen, und alles war wieder dunkel und still.
Als Frau von Beeren, unsicher, ob sie gewacht oder geträumt habe, nach dem Angebinde sich umsah, lag es in aller Wirklichkeit auf der Wiege des Kindes. Es war eine kleine Bernsteinpuppe mit menschenähnlichem Kopf, etwa zwei Zoll lang und der untere Teil in einen Fischschwanz auslaufend. Dieses Püppchen, das Leute, die zu Anfang dieses Jahrhunderts lebten, noch gesehen haben wollen, führte den Namen »Allerhühnchen« (Alräunchen) und galt als Talisman der Familie. Es vererbte sich von Vater auf Sohn und wurde ängstlich bewahrt und gehütet. Geist von Beeren indessen kümmerte sich wenig um das wunderliche Familienerbstück; war er doch kein Freund von Sagen und Geschichten, von Tand und Märchenschnack, und was seiner Seele so ziemlich am meisten fehlte, war Pietät und der Sinn für das Geheimnisvolle.
Allerhühnchen hatte lang im Schrank gelegen, ohne daß seiner erwähnt worden wäre. Da führte das Weihnachtsfest eine lustige Gesellschaft bei Geist von Beeren zusammen, und der Zufall wollte, daß einer der Gäste vom »Allerhühnchen« sprach. »Was ist es damit?« hieß es von allen Seiten, und kaum daß die Frage gestellt worden war, so wurd auch schon die Geschichte zum besten gegeben und das Allerhühnchen herbeigeholt. Geist von Beeren ließ es rundum gehen, witzelte und spöttelte und – warf es dann ins Feuer.
Von dem Augenblick an brach das Unheil herein, und jene Schläge kamen, deren ich teilweis schon erwähnte. Zweimal brach Feuer aus, Krieg und Mißwachs zerstörten die Ernten, und rasche Todesfälle rafften die Glieder der Familie fort. Der General starb plötzlich, bald darauf die beiden Söhne desselben, endlich Geist von Beeren selbst. Die junge Witwe, welche Geist hinterließ, verlobte sich zwei Jahre später mit dem Hauptmann Willmer , einem liebenswürdigen Mann, und die Hochzeit stand nahe bevor. Da geriet Willmer in Streit mit einem Kameraden, einem Herrn von Dolfs von den Gardekürassieren, und in der Heide von Wulkow kam es zum Duell. Willmer ward erschossen. Sein Grab befindet sich auf dem Kirchhofe von Großbeeren. Neben ihm ruht die Tochter des »tollen Geist«, die ebenfalls auf rätselhafte Weise starb. Sie war in Berlin im Pensionat und fuhr nach Großbeeren hinaus, um ihre Mutter zu besuchen. Als der Wagen vor dem Hause hielt, schien das Fräulein fest und ruhig zu schlafen – sie war tot. Frau von Geist verkaufte schließlich die Besitzung, aber der Unsegen dauerte fort. Nichts gedieh, nichts wollte vorwärts. Der nächste Besitzer verlor sein Vermögen, der ihm folgende führte ein wüstes, unstetes Leben und verscholl, der dritte hielt sich, aber Streit und Hader verbitterten ihm die Tage.
Der Unsegen blieb; aber es blieb auch ein Geistsches Element an dieser Stelle lebendig, ein halb rätselhaftes Verlangen, es ihm an Tollheiten nachzutun. Man kann hieran Studien machen über die Macht und die nachwirkende Kraft eines Originals. Alle Nachfolger des »tollen Geist« hatten einen Zug von ihm, der letzte Besitzer, ein Rittmeister Briesen, am meisten. Sein größter Verehrer aber und ebenso sein begeistertster Nachahmer in allen Dingen, die sich nachahmen ließen, war ein Herr von Beier, der Großbeeren von 1827 bis 1837 besaß. Als eines Abglanzes ehemaliger Geistscher Herrlichkeit sei seiner am Schluß dieser Skizze gedacht. Es lag ihm daran, dem Herrenhause zu Großbeeren den Ruf von etwas Apartem zu erhalten, und kaum daß er von der Existenz eines in Zossen lebenden alten Mannes gehört hatte, der zur Zeit des »tollen Geist« eine Art Kammerdiener bei diesem gewesen, so ließ er sich’s angelegen sein, denselben zu engagieren. Der alte Mann kam auch und wurd ausgefragt, wie sein Gehalt, seine Beschäftigung und vor allem seine Kleidung gewesen sei. Kniehosen, Puderperücke, Silberborten und Schuhschnallen, alles wurde genau beschafft, wie’s in alten Zeiten gewesen war, und wenn Besuch kam, präsentierte man den Diener des tollen Geist, als ob es dieser selbst gewesen wäre. Herr von Beier war verheiratet; seine Ehe zeigte sich jedoch nicht glücklich und wurde getrennt. Bald nach der Trennung verließ er Großbeeren, bestellte vorläufig einen Verwalter und ging nach Österreich. Hier trat er als Lieutenant bei Wallmoden-Kürassieren ein. Das Regiment garnisonierte damals in Ungarn, und Beier verliebte sich sofort in eine vornehme ungarische Dame. Da der Vater derselben die Partie nicht wünschte, so sah sich der Liebhaber veranlaßt, die liebeskrank werdende Dame in der Rolle eines berühmten Arztes zu besuchen. Und ihr Leiden wurd auch wirklich gehoben, aber doch so, daß des Vaters »Ja« schließlich nicht wohl ausbleiben konnte. Nun nahm von Beier seinen Abschied und führte die junge Frau im Triumph nach Großbeeren. Wenn bis dahin alles im Stil des »tollen Geist« gewesen war, so wurde nun alles ungarisch eingerichtet und nicht nur Pferde, Tabak und Wein, auch Diener, Koch und Kammermädchen kamen aus Ungarn. Die Dorfleute sagten, ihr Herr sei ein Türke geworden. Alles ging ungrisch und die Wirtschaft polnisch dazu. 1837 verkaufte er das Gut und ging in die Welt. Seitdem ist er verschollen.
In der Erinnerung der Dörfler hat er nur schwache Spuren zurückgelassen, aber das Bild des alten »Neck- und Feuerteufels«, der vor ihm da war, lebt fort von Geschlecht zu Geschlecht. Auch das Volk hat künstlerische Instinkte und unterscheidet Kopie und Original. Und wenn jung und alt abends beim Biere sitzen und von alten Zeiten plaudern, verweilen sie gern bei dem kleinen Kobold, »der keine Furcht kannte«, und erzählen sich mit immer gleichem Behagen die Schnurren und Schabernackstreiche vom tollen »Geist von Beeren«.
Berlin in den Tagen der Schlacht von Großbeeren
Es war am 19. August 1813 – so entnehm ich alten, durch Friedrich Tietz veröffentlichten Aufzeichnungen –, als an den Straßenecken Berlins und zugleich in der »Vossischen« und »Spenerschen Zeitung« folgende Bekanntmachung erschien:
»Wir eilen, die treuen Untertanen Seiner Majestät des Königs hierdurch zu unterrichten, daß in der Nacht vom 10. zum 11. d. M. die Kriegserklärung Österreichs gegen Frankreich erfolgt und der Waffenstillstand ebenso kaiserlich-russischer- wie unsrerseits gekündigt worden ist. Die Zeit der Waffenruhe ist mithin überstanden, und der gerechteste Krieg, der jemals geführt worden, hat wieder begonnen.
Berlin, 18. August 1813
Allerhöchst verordnetes Militär-Gouvernement für das Land zwischen der Elbe und Oder
von L’Estocq – Sack«
Scharenweise standen die Berliner an den Ecken, um diese Bekanntmachung zu lesen. Enthusiastisch und mit Hurra wurde sie begrüßt, aber es muß doch auch zugestanden werden, daß es nicht an Vorsichtigen, um nicht zu sagen an Ängstlichen, fehlte. So wurden beispielsweise viele Frauen und Kinder, die man nach Pommern und Mecklenburg hin in Sicherheit bringen wollte, von den zurückbleibenden Hausvätern zum Frankfurter und Oranienburger Tor hinausbegleitet.
Andre waren geschäftig, ihre silbernen Löffel im Garten einzugraben oder ein paar alte, noch von irgendeinem Paten herstammende Schaumünzen unter der Zimmerdiele zu verstecken.
Unterdessen hatten wir seltsame Hilfe gegen den Feind erhalten. Wallensteins eben damals oft von Mattausch auf der Königlichen Bühne gehörte Worte: »Wir werden mit den Schweden uns verbinden, gar wackre Leute sind’s und gute Freunde«, hatten sich als Prophezeiung erwiesen. In der Nähe von Charlottenburg standen die blonden Nordlandssöhne im Lager, zu denen alle Welt hinausging und ihnen bundesfreundlich die Hand schüttelte. Nur zu ihrem Führer, dem neuen Kronprinzen von Schweden, wollte bei den Berlinern ein rechtes Vertrauen nicht Wurzel fassen, weil man sich seiner noch zu gut als Bernadotte erinnerte, der früher kein Preußenfreund gewesen war. Außer den Schweden waren auch die Russen bei der Hand, von denen wir aber meistens nur das langspießige Volk der Kosaken zu sehen bekamen.
Am 21. August gab man im Königlichen Schauspielhause Kapellmeister Himmels »Fanchon«. Das Haus war voll, wie man sich denn überhaupt an allen öffentlichen Orten zusammendrängte, bloß um Neuigkeiten zu hören. Der korpulente Kapellmeister stand dirigierend an seinem Pult, und als Gern (der Vater) in der Rolle des Abbé das Lied »Auf alle Namenstag im Jahr« anzustimmen begann und zuletzt auch zu dem auf die verewigte Königin Luise bezüglichen Couplet kam, erscholl ein donnernder Jubel im ganzen Hause. Himmels rotes Angesicht glühte vor Erregung. »Tusch, Tusch!« rief er dem Orchester zu, die Trompeten schmetterten, und die Vivats wollten kein Ende nehmen.
Als ich das Theater verließ, begegnete ich draußen einer ähnlichen Exaltation: Truppen marschierten dem Halleschen Tore zu, von Bürgern unter fortwährendem Hurrarufe begleitet.
Am folgenden Tage wurd uns das unmittelbare Bevorstehn einer Schlacht so gut wie zur Gewißheit: die Truppenmärsche steigerten sich, und im schwedischen Lager sah man die Vorbereitungen zum Aufbruch. Am Abend war ich, wie herkömmlich, wieder im Theater, aber ich konnte nicht recht in Stimmung kommen und noch weniger lachen, trotzdem Wurm, unser erster Komiker damals, den Rochus Pumpernickel spielte. Iffland hatte klüglich immer nur lustige Stücke aufs Repertoire gesetzt, »um die Stimmung zu paralysieren«.
Recht gut erinnere ich mich noch, daß ich in der Nacht, »die der Großbeerener Aktion vorherging«, nur sehr wenig und sehr schlecht geschlafen habe.
Schon in aller Morgenfrühe des 23. stand ich auf; aber ein grauer Regenwolkenhimmel war nicht geeignet, eine heitere Stimmung in mir hervorzurufen.
Um neun wurde mir’s endlich »zu eng im Schloß«, und ich ging die Leipziger Straße hinunter auf den Tiergarten und die Bellevuestraße zu, wo Gubitz in einer Giebelstube des Georgeschen Kaffeegartens oder »bei Georges«, wie die Berliner kurzweg sagten, eine kleine Wohnung hatte. Glücklicherweise traf ich ihn noch zu Haus, und wir machten nunmehr einen langen, langen Spaziergang, der uns auf einem Umweg endlich bis Unter die Linden führte. In dem Hause No. 46, jetzt »Viktoria-Hotel«, wohnte Freund Himmel eine Treppe hoch, zwei Treppen hoch der Kammermusikus Seidler (der spätere Gatte der berühmten Sängerin) und in der dritten der dünne Labes, der Komiker vom Hoftheater. Einigermaßen müde, wie wir waren, beschlossen wir, bei Himmel vorzusprechen, und fanden ihn denn auch mit Seidler und Labes beim Rheinwein, den der lebenslustige Kapellmeister außerordentlich liebte. Himmel war wie gewöhnlich in exaltierter Stimmung, zu der der Wein das Seinige beitrug. Auch hier bildete natürlich die bevorstehende Schlacht das Thema der Unterhaltung, und ehe wir’s uns versahen, stürzte der berühmte »Fanchon«-Komponist ins Nebenzimmer und kehrte mit zwei Pistolen zurück. »Diese für den ersten Franzosen, der mir heut ins Zimmer tritt, und diese – für mich.« Beide waren wahrscheinlich nicht geladen, die zweite gewiß nicht. Gleichviel indes, Gubitz versicherte mit Emphase: »wir würden siegen, ja sein Glaube daran sei so fest, daß er gleich eine kleine Festkantate niederschreiben wolle; Himmel solle sie komponieren – sie könne dann am andere Tage schon im Theater gesungen werden«. Und gesagt, getan. Gubitz setzte sich sofort an den Schreibtisch, und in einer halben Stunde war die kleine Dichtung fertig. Aber freilich der, der sie komponieren sollte, war nicht mehr unter den Lebenden oder doch nicht mehr unter den Zurechnungs- und Leistungsfähigen. Er schlief in einem mit einer Tüllgardine verhängten Alkoven seinen Rausch aus und zwang uns dadurch, aus der » Himmlischen Wohnung«, wie seine kleine chambre garnie damals allgemein hieß, in die triviale Wirklichkeit der Straße zurückzukehren.
Es mochte jetzt Mittag sein oder doch nicht viel mehr, und der Weg, den ich einschlug, führte mich am Schauspielhause vorüber. Angeklebte Zettel kündigten an: »Heute zum ersten Male wiederholt: › Die deutsche Hausfrau‹, Drama in drei Akten von Herrn von Kotzebue. Hierauf: › Das Geheimnis‹, Operette in einem Akt von Solié.« Einer der Bureaubeamten stand in der Türe. »Wird denn heute gespielt?« fragt ich. »Ei, natürlich, der Herr Generaldirektor Iffland haben’s eigens befohlen.« Ein dumpfer Knall, dem ein zweiter und gleich darauf noch ein paar andre folgten, bezeugte, daß draußen ein blutiges Drama beginne. Vorübergehende standen wie gebannt, und der Theaterbeamte zeigte mir ein blasses Gesicht; aber doch mutmaßlich nicht blasser, als das meinige war.
Von diesem Augenblick an kamen wir eigentlich nicht mehr zur Besinnung. Auf den Straßen lief alles durcheinander, und zu den Fenstern hinaus fragte man sich, wie’s stünde. Viele ließen sich nicht abhalten und gingen trotz des strömenden Regens bis nach Tempelhof oder doch wenigstens bis auf den Tempelhofer Berg hinaus, um dem Aktionsfeld um eine halbe Stunde näher zu sein.
Um sieben macht ich mich auf ins Theater. Es waren mehr Leute darin, als man hätte vermuten sollen. Nur Damen fehlten. Eigentlich hatte man sich im Parterre bloß zusammengefunden, um sich gegeneinander auszusprechen, und doch wurde jede patriotische Beziehung, die in der »Deutschen Hausfrau« vorkam, lebhaft beklatscht. Die Bethmann, die die Hauptrolle gab, wußte die Pointen und Schlagwörter geschickt hervorzuheben. Auch den andern Mitspielenden: Beschort und Maurer und der anmutigen Demoiselle Fleck (nochmaligen Frau Professor Gubitz), vor allem aber der Demoiselle Döbbelin, welche eine böse Alte spielte, sah man es nicht an, daß Berlin einschließlich des Schauspielhauses sozusagen auf einem Pulverfasse stand. Am Schlusse des zweiten Akts eilt ich auf eine gute halbe Stunde hinaus, um zu sehn, ob man etwas Neues wisse. Der Kriegsjammer zeigte sich schon. Bauerwagen mit Verwundeten kamen langsam vom Halleschen Tore her. Man fuhr sie nach den Lazaretten; alle leichter Blessierten aber nahmen die Bürger mit Herzlichkeit in ihren Häusern auf.
Ich hielt mich wieder auf die Linden zu, denn ich war hungerig und gedachte mich in der Habelschen Weinstube zu restaurieren. In dem Lokale selbst war ein beständiges Kommen und Gehn. Am letzten Fenster links saßen einige meiner Bekannten: Herklots, der Theaterdichter, der Kunstkenner Hofrat Hirt – damals einer der schönsten Männer Berlins – und der Maler Hummel, ein unzertrennliches Habelsches Trifolium. In der Mitte des Zimmers aber hatte man einen Husaren umringt, der einen Transport Verwundeter eingebracht und selbst einen tüchtigen Hieb über das Gesicht bekommen hatte. Von ihm erfuhren wir einiges Nähere, vor allem, daß die Franzosen sich auf Trebbin zurückzögen und daß unser Sieg so gut wie gewiß sei.
»Noch kann das Theater nicht aus sein«, enthusiasmierte sich Herklots, »ich muß die Nachricht dorthin bringen.« Und im selben Augenblick ergriff er seinen großen rotseidenen Regenschirm und war’s auch zufrieden, daß ich ihn begleitete. Wir langten auf der Bühne kurz vor dem Schlusse des Singspiels »Das Geheimnis« an und teilten Unzelmann, der den Bedienten Thomas spielte, die Siegesbotschaft mit. Er ergriff sofort den dreieckigen Bedientenhut und trat auf die Bühne hinaus, obgleich seine Szene nicht an der Reihe war. Die Schauspielerin, welche die Hofrätin gab, sah ihn befremdet an, er aber extemporierte sofort im Tone seiner Rolle: »Wollte der Frau Hofrätin und den Herrschaften da unten (aufs Publikum zeigend) nur melden, daß wir heute keine französische Einquartierung mehr bekommen.« Und nun muß ich hier zu besserem Verständnis des Folgenden einschalten, daß Unzelmann eine ganz frappante Ähnlichkeit mit dem im Winter 1812 auf 13 in Berlin kommandierenden französischen General Augereau hatte. Diese Ähnlichkeit glücklich benutzend, stülpte der gefeierte Komiker, als er die vorstehende Meldung gemacht hatte, seinen dreieckigen Hut in derselben schiefen Richtung auf den Kopf, wie ihn die französischen Generale zu tragen pflegten, und fügte, Augereau kopierend, hinzu: »Wir begeben uns rückwärts nach Trebbin!« Dabei machte er kehrt; im Publikum aber brach ein Freudenhallo aus, daß die Coulissen ins Zittern kamen. Die Vorstellung war aus, und alles stürmte nach Hause.
Draußen war ein Leben und Gedränge wie bei hellem Tage, denn fortwährend brachte man Verwundete und Gefangene zur Stadt. Wagen aller Art, bepackt mit Lebensmitteln, Decken, Mänteln und allem, was den ermüdeten, hungrigen Kriegern nur irgendwie zugute kommen konnte, rollten zum Tore hinaus, dem Schlachtfelde zu. Wir, denen Wagen und Pferde nicht zu Gebote standen, taten an den in die Stadt gebrachten Verwundeten, was in unsern Kräften stand. Von Zu-Bette-Gehen war natürlich nicht die Rede.
Gegen Morgen traf ich mit einem Offizier in der »Sonne« oder bei Jagors (wo jetzt die Passage ist) zusammen, der im Begriff war, zu seinem Regimente zurückzukehren, und sich nur noch mit einer Tasse Kaffee stärkte. Der ergänzte die bruchstückweisen Nachrichten, die wir bis dahin von der Schlacht erhalten hatten.
Auf der Straße traf ich bald danach einen mir von alter Zeit her bekannten und damals zu den populärsten Figuren Berlins gehörenden Hofschlächtermeister, der mich einlud, auf seinem mit Wurst, Schinken und Brot beladenen Wägelchen Platz zu nehmen und mit ihm hinauszufahren. Und ich ließ mir das nicht zweimal sagen.
Aber freilich, den Anblick des Schlachtfelds werd ich all mein Lebtag nicht vergessen. Unfern der Mühle lag ein blutjunger französischer Offizier, die Brust von einer Kartätschenkugel zerschmettert. Aus der zerrissenen Uniform blickte vorne zwischen den Knöpfen ein rotes Portefeuille hervor. Wir öffneten es und fanden unter mehreren Briefen einen, der noch nicht gesiegelt, aber bereits mit einer Aufschrift in französischer Sprache versehen war: »An Herrn Capuzzo, Mitglied des Kriminalgerichts zu Genua«. Der sollte, wie aus dem Briefe hervorging, der Schwiegervater des Toten werden, und beigelegt war ein verschlossenes Briefchen an die Braut. Es schloß mit den Worten: »Ich hoffe diesen Brief heut abend auf die Post in Berlin zu geben.«
Nun taten wir es.
Abends am 24. aber sang man im Theater die Siegeskantate, die Gubitz am Tage vorher gedichtet und Himmel, als er seinen Rausch ausgeschlafen, in eine vortreffliche Musik gesetzt hatte.
Löwenbruch
»Wie heißt Er?«
»Knesebeck.«
»Was ist Sein Vater gewesen?«
»Lieutenant in Ew. Majestät Garde.«
»Ah, der Knesebeck.«
Eine Meile hinter Großbeeren, seine hoch gelegenen fruchtbaren Äcker an einem Stücke Bruchland entlangziehend, liegt das Dorf Löwenbruch. Wir finden hier, durch die Jahrhunderte hindurch, eine Reihenfolge guter Namen: die von Thümen, von Otterstedt, von Boytin, von Alvensleben, von Gröben und von dem Knesebeck.
Die Boytins (ein ausgestorbenes Geschlecht) haben auf dem Kirchhofe noch ein paar große Grabsteine mit allerhand Figuren und Inschriften, die freilich unter der Kruste von Moos und Flechten kaum noch zu entziffern sind. Eins dieser Gräber ist leer geblieben. Mit Schaudern erzählte mir der Küster des Dorfes, wie er, eines Abends über die Grabsteine hinschreitend, den einen Stein unter seinen Füßen nachgeben und sich selber in die leere Gruft versinken fühlte. Er kam indessen mit dem bloßen Schrecken davon.
Von den Alvenslebens, die ihren Gutsanteil im Jahre 1749 an die Gröbens verkauften, findet sich noch dies und das. Es existiert unter anderm das jetzt wirtschaftlichen Zwecken dienende Haus, das sie bewohnten, ein schlichter Fachwerkbau, der am besten zeigt, wie gering, wenigstens nach dieser Seite hin, die Ansprüche waren, die der märkische Adel vor hundert Jahren noch erhob. Jeder wohlhabende Bauer wohnt jetzt besser. Es scheint, man legte damals Gewicht auf andres, auch auf andere Äußerlichkeiten, und ein höchst interessantes Sofa, das sich in den Damenzimmern des jetzigen Herrenhauses vorfindet, übernimmt den Beweis dafür. Als vor einem Vierteljahrhundert das Alvenslebensche Fachwerkhaus ausgebessert werden sollte, fand man auf einem der spinnwebverhangenen Böden einen alten Deckelkasten, der sich alsbald als eine Truhe zu erkennen gab. Dieser Fund erschien anfangs gleichgültig genug; nachdem man indes den Kasten ans Licht gebracht und von der Verstaubung eines Jahrhunderts gesäubert hatte, gewahrte man ein wahres Prachtstück, das es mit den allermodernsten Weißzeugspinden unserer Möbelmagazine kühnlich aufnehmen dürfte. Die Vorderseite des Kastens war in vier Felder geteilt, und jedes Feld bestand aus allerhand buntem, reich vergoldetem Schnitzwerk, in dessen Mitte sich ein sorglich gemaltes Wappenbild zeigte. Es waren die vier Wappen der Alvensleben, Redern, Bredow und Hake. Der gegenwärtige Besitzer Löwenbruchs wußte diesen Fund aufs glücklichste zu benutzen. Er ließ von geschickter Hand, die das Schnitzwerk der Truhe zum Muster nahm, eine Rückenlehne anfertigen, schmückte diese Lehne mit seinem eigenen Wappen und erzielte dadurch ein Sofa, das nach Erscheinung und Entstehungsgeschichte nicht leicht ein Seitenstück finden wird. Und was ist der Schluß, den ich daraus ziehe? Die Alvenslebens hatten ein schlichtes Haus, aber eine reiche, adlige Truhe, und der Inhalt derselben blieb mutmaßlich hinter dem vergoldeten Schnitzwerk nicht zurück. Ihren Reichtum bekundet auch die schön geschnitzte Kanzel, die Achatz von Alvensleben der Löwenbrucher Kirche zum Geschenk machte.
Die Gröbens führen uns bis in dies Jahrhundert hinein. Die letzten dieser Familie, die Löwenbruch besaßen, waren zwei Brüder, die ohne männliche Deszendenz verstorben. Der jüngere von beiden, der unter Friedrich dem Großen Rittmeister im Regiment Gensdarmes gewesen war, war der eigentliche Besitzer. Er tat viel zur Hebung des Guts, baute das jetzige Herrenhaus, starb aber früher als sein älterer Bruder, dem nun, da keine Kinder da waren, die schöne Besitzung zufiel. Dieser Bruder war ein Original, gescheit tapfer, nüchtern und phantastisch zugleich. Er war Major bei den »Gelben Reitern« gewesen, die damals in Zehdenick standen, hatte jedoch den Dienst quittiert, teils seiner schweren Blessuren, insonderheit aber seiner Studien halber, denen er sich ruhiger und ausschließlicher widmen wollte. Er studierte Kant und korrespondierte mit ihm. 1800 übernahm er Löwenbruch. Er war die absolute Bedürfnislosigkeit, eine völlig auf das Geistige gestellte Natur, und unsere Tage des Materialismus würden ihm schwerlich gefallen haben. Er trug jahraus, jahrein einen Leinwandanzug (auch der alte Zieten in Wustrau war so gekleidet), den er nur ablegte, wenn er sich auf Besuch nach Berlin begab. Dies geschah alle Jahr einmal, und zwar auf vier Wochen. Er stieg dann in Krauses Kaffeehaus ab, dem jetzigen »Hôtel de Brandebourg«, und verbrachte die ganze Zeit mit Konversation und Schachspiel. Nach dieser Berührung mit der Welt, zu der er sich eigentlich immer nur entschloß, um sein großes Geschick im Schachspiel nicht einrosten zu lassen, begab er sich wieder in seine Einsamkeit zurück, um sich an Büchern und – Wasser aufs neue zu stählen. Er war ein Vorläufer der Hydropathie. Personen, die ihn noch gekannt haben, sagen aus, daß er sich in Wasser, incredibile dictu, berauscht habe. Vielleicht nahm man gewisse Exzentrizitäten für Rausch. Er hatte eine trunkene Seele. Auch eine Mischung von Donquichotterie und Eulenspiegelei ließ sich an ihm wahrnehmen. Als er vom Ausbruch des Krieges hörte, befahl er, den Turm abzutragen, damit das Dorf von vorüberziehenden Kriegsscharen nicht bemerkt werden möge. Mit leidenschaftlichem Eifer verfolgte er die Napoleonischen Kriegs- und Siegeszüge. Als der Krieg von 1805 begann, der mit dem Tage von Austerlitz endigte, sagte er den Ausgang des Kampfes vorher, auch den herannahenden Sturz der preußischen Monarchie. Dieser eine Gedanke beschäftigte ihn Tag und Nacht und quälte ihn zuletzt bis zum Unerträglichen. Er wollte das Unwetter sich nicht entladen sehen und – erschoß sich in bloßer Vorahnung dessen, was kommen würde, nachdem er zuvor die Angelegenheiten seines Hauses mit philosophischer Ruhe geordnet hatte.
Von den Gröbens kam das Gut an die Knesebecks. Diese besitzen es noch. Der erste von ihnen, der sich hier heimisch einrichtete, war Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Knesebeck, Halbbruder des Feldmarschalls. Von diesem Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Knesebeck gedenk ich zu erzählen. Sein Leben erscheint zwar als eine bloße Skizze neben dem farbenreichen Bilde seines berühmten Bruders, es bedarf indessen keines langen Suchens und Forschens, um wahrzunehmen, daß beide Brüder Zweige desselben Stammes waren. Sie wirkten in verschiedenen Kreisen: der eine in der beschränkten Sphäre einer kleinen Stadt, der andere in dem weit gezogenen Kreise des staatlichen Lebens; aber der Pulsschlag beider war derselbe, und wie verschieden auch ihr Leben sich gestaltete, an Mannesmut und adliger Gesinnung, an Vaterlandsliebe, Gemeinsinn und Opferfreudigkeit standen sich beide gleich. Beide – märkische Edelleute von Kopf bis zu Fuß. Nur gesellte der ältere Bruder zu dem ihnen im Charakter Gemeinsamen auch noch hohe Gaben des Geistes, und das schuf einen Unterschied. Der kühne Kopf, der den Gedanken gebären konnte: den unbesiegbaren Imperator durch die bloße Macht des Raumes, das heißt durch Rußland, zu vernichten, stand so hoch, daß er die Nebenbuhlerschaft eines andern Geistes nicht leicht zu fürchten hatte. Die Talente waren verschieden.
Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Knesebeck wurde den 29. März 1775 zu Karwe geboren. Er trat als Lieutenant in das zu Ruppin garnisonierende Regiment Prinz Ferdinand ein und machte als solcher die Rheincampagne mit. Ein Duell und eine Verwundung, die er empfing, veranlaßten ihn im Jahre 1800, seinen Abschied zu nehmen. Ruppin war ihm lieb geworden, und er verblieb als Bürger in einem städtischen Kreise, darin er als Offizier eine Reihe glücklicher Jahre verlebt hatte. So kamen die Tage von Jena und Auerstedt; unsere Truppen, soviel oder sowenig ihrer noch waren, retteten sich über die Oder, und das Land lag offen und widerstandslos vor dem nachrückenden Feinde da. Am Tage Allerheiligen traf in Ruppin die Nachricht ein, daß die Franzosen im Anzuge seien. Was tun? Wer hatte den Mut und die Fähigkeit, die Stadt zu vertreten? Eine Wahl war bald getroffen, wo nur einer gewählt werden konnte. Alle Stimmen vereinigten sich auf Knesebeck; man gab ihm eine Art diktatorischer Gewalt und vertraute das Wohl der Stadt seiner Geschicklichkeit und dem Glück seiner Hand.
Der Abend dämmerte, und Pistolenschüsse verkündeten die Nähe französischer Chasseurs. Knesebeck ging ihnen entgegen. »Qui-vive?« – »Un citoyen du bourg«, antwortete Knesebeck und verlangte den kommandierenden Offizier zu sprechen. Dies war ein Marquis de Custine. Knesebeck eröffnete ihm, daß die Stadt offen, ohne Besatzung und arm, trotz ihrer Armut aber zu einem »douceur« bereit sei. Das wirkte. »Ah, monsieur sait bien comment traiter avec les soldats«, erwiderte der Marquis lächelnd mit befriedigtem Gesicht, und man einigte sich alsbald über 100 Louisdor. Die Franzosen zogen ein, und die Summe wurde gezahlt.
War auf diese Weise Plünderung und Gewalttat glücklich abgewandt, so sicherte Knesebecks Geistesgegenwart wenige Wochen später die Stadt vor einer noch drohenderen Gefahr. Das Gerücht hatte sich verbreitet: »die Franzosen seien geschlagen worden«, und siehe da, den guten Ruppinern begann der Kamm zu schwellen. Détachements französischer Truppen, darunter auch Personen von Rang, passierten gelegentlich die Stadt; warum sollte man sie ruhig und ungehindert ziehen lassen? waren es nicht Feinde? So beschloß man denn, den »Kleinen Krieg« zu organisieren und wegzufangen, was wegzufangen sei. Die Sache war gut gemeint, aber sie hatte mehr Herz als Verstand, und kaum daß solche Pläne in den Köpfen der Menge spukten, als sich auch schon Gelegenheit bot, sie auszuführen. Bei leisem Schneegestöber kam Anfang Dezember ein Schlitten durchs Tor, dessen Insasse sich – trotz des weiten Mantels, der ihn verhüllte – leicht als ein höherer französischer Offizier erkennen ließ. Da hatte man wen im Garn! Und mit Geschrei drang ein Dutzend Bürger, von allerlei Volk unterstützt, auf den Unbekannten ein, zunächst um ihn zu insultieren, vielleicht auch, um ihn niederzuschlagen, wenn er Widerstand versuchen sollte. Knesebeck eilte herzu, stellte den Angreifenden das Unedle, ja das Gefährliche ihrer Handlungsweise vor und trieb den Haufen auseinander. Der Offizier aber setzte seine Reise fort. Alles schien vergessen, als etwa drei oder vier Tage später Knesebeck in den Gasthof »Zur Krone« gerufen wurde. Ein eben von Berlin her eingetroffener französischer Gendarmerieoberst – ein Abgesandter Savarys, in dessen Händen damals die oberste Polizeileitung war – trat ihm in brüsker Weise entgegen und machte ihn verantwortlich für die Insulten, die sich die Stadt gegen einen französischen Offizier erlaubt habe. »Ich werde Sie füsilieren lassen.« Knesebeck erwiderte kalt: »Contre la force il n’y a point de résistance.« Der Oberst , durch die Ruhe dieser Entgegnung einigermaßen décontenanciert, fuhr eben mit neuen und immer heftiger werdenden Schmähungen heraus, als eine dritte Gestalt, die bis dahin halb verborgen in der Fensternische gestanden hatte, zu den Streitenden herantrat und dem lärmenden Offizier zurief: »Taisez-vous! Cet homme a agi comme chevalier; il n’y a rien à lui reprocher.« Knesebeck erkannte jetzt in dem Sprecher denselben französischen Offizier, den er der Volkswut entrissen hatte. Es war Napoleons Oberstallmeister, Caulaincourt, Herzog von Vicenza. Caulaincourt hatte keine Ahnung davon gehabt, daß dieselbe Stadtautorität, der er an dem Vorfalle schuld gab und deren Verfolgung er in Berlin (bei Savary) beantragt hatte, genau derselbe Mann war, dessen rechtzeitigem Einschreiten er seine Rettung verdankte. Die Sache wurde beigelegt, auf Bestrafung der Schuldigen nicht weiter gedrungen und Knesebeck mit den verbindlichsten Worten entlassen.
Einquartierungen und Truppendurchmärsche dauerten fort. Endlich kam Frieden, aber er entsprach nirgends im Lande den daran geknüpften Hoffnungen, und die Franzosen, anstatt die Mark zu verlassen, wurden nur innerhalb derselben disloziert. Um diese Dislozierungen für die Grafschaft Ruppin einzuleiten, wurde Knesebeck im August 1807 nach Liebenwalde geschickt, wo sich damals die Division Vilatte befand. Nachdem er die nötigen Notizen über Zahl und Gattung der unterzubringenden Truppen erhalten und dem französischen General die vollständigste Auskunft über die vorzunehmende Dislokation erteilt hatte, forderte Vilatte ihn auf, die Vorbereitungen zu dem nahe bevorstehenden Napoleons-Tage (15. August) zu treffen. Knesebeck tat wie befohlen. Als er andern Tages meldete, daß alles angeordnet sei, lud ihn der General ein, in Liebenwalde zu bleiben und an der Feier teilzunehmen. »General«, erwiderte Knesebeck, »Sie haben zu befehlen; wenn ich bleiben muß, so werd ich bleiben; aber kein preußischer Offizier wird sich aus freien Stücken dazu entschließen, bei solchem Feste zugegen zu sein.« Ein prüfender Blick traf den Sprecher. Dann trat Vilatte an ihn heran und schüttelte ihm herzlich die Hand.
Später, als das Generalkommando von Liebenwalde nach Ruppin hin verlegt worden war, entspann sich ein immer freundlicheres Verhältnis zwischen Knesebeck und dem französischen General. Vilatte war ein Ehrenmann, ein Soldat von ritterlichem Sinn. Dasselbe galt von seinem Adjutanten, dem Hauptmann Denoyer, einem Kreolen von Martinique, der im Hause Knesebecks eine Wohnung bezog und in liebenswürdiger Weise die Beziehungen zwischen diesem und dem General zu fördern wußte. Die Mußestunden, die der Dienst gönnte, wurden verplaudert; man verweilte gern bei früheren Aktionen und fühlte sich doppelt zueinander hingezogen, als sich bei diesen Gesprächen herausstellte, daß man sich während der Rheincampagne gegenübergestanden und auf der Mainzer Schanze Kugeln miteinander gewechselt hatte.
Mittlerweile wütete der Krieg in Spanien fort, wo im Juli 1808 die Kapitulation von Bailén eingetreten war. Knesebeck wußte davon, nicht aber Vilatte, der vielmehr umgekehrt von neuen Siegen und einem nahen Frieden träumte, mit Vorliebe von dem baldigen Abmarsch der französischen Truppen sprach und daran eine Einladung an Knesebeck knüpfte, ihn auf seinem »Château« in der Umgegend von Nancy zu besuchen.
Knesebeck erwiderte: »General, Sie werden uns bald verlassen, aber nicht, um in die Heimat zu ziehen. Der Frieden ist ferner denn je.«
»Sie irren, Knesebeck; unsere Affairen in Spanien stehen gut; der Krieg geht auf die Neige.«
»Ich bezweifle es, General. Darf ich mich offen zu Ihnen aussprechen?«
»Eh bien, parlez!«
»General, man hintergeht Sie. Die Bulletins Ihres Kaisers sind Täuschungen; es geht nicht gut; General Dupont hat bei Bailén kapituliert. 17000 Franzosen sind kriegsgefangen.«
»Sind Sie dessen so sicher?«
»Ganz sicher.«
»Eh bien, nous verrons. In acht Tagen sprechen wir weiter davon.«
Die acht Tage verstrichen und brachten die einfache Bestätigung der Kapitulation. Vilatte geriet in die höchste Aufregung, ließ Knesebeck zu sich entbieten, schüttete ihm sein Herz aus über die endlosen Kriege, wiederholte aber dennoch seine Einladung. Beide Männer waren bewegt. Knesebeck antwortete endlich: »Ich nehme Ihre Einladung an, General; ich werde kommen. Aber wenn wir uns wiedersehn, wird es in großer Gesellschaft sein.«
Das war 1808. Die französischen Truppen marschierten ab, aber nicht in die Heimat, vielmehr – nach Spanien.
Fünf Jahre später, als auch für Preußen der Tag der Erlösung anbrach, jubelte Knesebeck. Er hoffte den großen Kampf mitkämpfen zu können, aber eine Cabinetsordre berief ihn als ständischen Kommissar nach Potsdam, wo ihm die Aufgabe zufiel, bei der Organisation der kurmärkischen Landwehr tätig zu sein. So blieb es ihm versagt, mit ins Feld zu rücken und an den Ehren jener großen Zeit unmittelbar teilzunehmen, bis endlich, im Jahre darauf, die Rückkehr Napoleons und das rasche Vorrücken der Preußen, um dem drohenden Stoße so früh wie möglich zu begegnen, ihm auch diesen Wunsch erfüllte. Er erhielt eine Compagnie im 6. kurmärkischen Landwehrregiment, marschierte mit nach Flandern und focht bei Ligny, Sombreffe und Wavre.
So kam er auch nach Paris. Sein erster Gang war zu Vilatte, damals Chef der Gendarmerie der Hauptstadt. »Bonjour, général! da bin ich; erkennen Sie mich wieder?« – »Mon Dieu, Knesebeck, c’est vous« – und die alten Gegner und Freunde schüttelten sich die Hand. Knesebeck hatte sein Wort gelöst; er war gekommen, aber »in großer Gesellschaft«, wie er prophezeit hatte.
Weihnachten 1815 kehrte er heim, ererbte bald danach Löwenbruch und zog sich 1829 nach dem benachbarten Jühnsdorf zurück. Unter allen Tagen seines Lebens blieb ihm der Silvestertag 1807 der teuerste, wo die Stadt Ruppin ihm in festlicher Versammlung die Bürgerkrone überreicht hatte. Und in der Tat, mit freudigem Stolze mocht er sich der Worte erinnern, die damals, in noch frischer Dankbarkeit, an ihn gerichtet worden waren:
Als in den Tagen des Grams die blöden Gemüter erstarrten
Und dem nahenden Sturm jegliche Seele erlag,
Tratest du kühnlich hervor, gesetzt und weis und besonnen,
Zu beschwören den Sturm, der uns Verderben gedroht.
Er hatte wohl Anspruch auf diese Huldigung. Der Kreis, in dem ihm zu wirken vergönnt war, war nur ein kleiner und begrenzter, aber innerhalb desselben hatte er sich bewährt. Den größern Kreis sich zu schaffen lag außerhalb seiner Macht, indessen wo immer er stand, stand er da – ein ganzer Mann. Er starb hochbetagt am 11. Juli 1860.
Wir sitzen im Herrenhause zu Löwenbruch.
Die Türe des Gartensaals steht offen, und Duft und Frische dringen ein. Die Sonne scheidet eben, und nur ein roter Streifen liegt noch über dem Schwarzgrün der Edeltannen. Alles ist sabbatstill, und geräuschlos zieht ein Schwarm Tauben durch die Luft. Erdbeerschalen schmücken den Tisch und lachen uns an, heiter und behaglich fließt das Gespräch. Aber auch das, was uns umgibt führt seine Sprache. Jegliches, was seit Jahrhunderten hier war und wuchs, es ist nicht tot, es lebt und schafft und wirkt ein geheimnisvolles Band zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen. Auf dem Tische vor uns steht ein Serpentinkrug, der das Wappen der Otterstedts auf seinem Silberdeckel trägt; durch die zurückgeschlagene Samtportière gewahren wir im Nebenzimmer die nun als Sofa dienende von Alvenslebensche Truhe, vor uns der Holunderbaum, der über die Gartenmauer ragt, mahnt uns an den alten von Gröben, der im Leinwandkittel unter diesem Blätterdache saß und phantastische Schlachten auf seinem Schachbrett schlug, und neben uns an der Wand tickt die Pendeluhr, die Knesebeck, dem Feldmarschall, über seinem Arbeitstische die Stunden schlug, als der Friedenskongreß die Fürsten Europas in der heitern alten Kaiserstadt versammelt hatte. Wie viele Denkschriften, Gutachten und Entwürfe entstanden bei dem Ticktack dieser gedrungenen Ebenholzpendule, die so diskret und in sich zurückgezogen dasteht, als wisse sie, was einem Zeugen schickt, der ernste Dinge gehört und gesehn.
Der letzte rote Streifen über den Tannen ist hin, und das leise Singen des Kessels im Nebenzimmer kündet uns die Teestunde. Niemand spricht mehr, aber es ist, als flüsterten die Stimmen derer, die nicht mehr sind.
Schloß Beuthen
Kühnlich darf mein Haupt ich legen
Jedem Untertan in Schoß.
Kemer
An der Nuthe, die die Grenze zieht zwischen dem Teltow und der Zauche, stand in alten Zeiten Schloß Beuthen und beherrschte den Flußübergang. Rings von Wasser umflossen und aus grauem Feldstein zusammengefügt, erhob sich die Burg wie ein Felseck und blickte steil und trotzig in die Niederung hinein.
Ja, Schloß Beuthen war trotzig. Die Quitzows hielten es und gedachten es zu behaupten gegen den Nürnberger Burggrafen, der wie ein Herr ins Land kam und den man doch nicht gelten lassen mochte. Man mocht eben denken, »die Herren wechseln rasch in der Mark; sie finden sich ein, wie kaiserliche Not oder kaiserliche Laune sie schickt; es gibt aber nur einen bleibenden Herrn in der Mark, und das sind wir«. Und sie hatten so unrecht nicht.
Sie hatten nicht unrecht in der Sache; desto mehr aber verkannten sie die Person, die’s jetzt mit ihnen und der Mark versuchen wollte. Das war kein Herr wie die andern, die nur gekommen waren, um wieder zu gehn; dieser kam, um zu bleiben, und nahm Platz mit dem Behagen und dem Nachdruck eines, der sich auf lange hin einzurichten gedenkt. Die Quitzows hatten kein Auge dafür; sie trotzten und traten kühnlich mit ihrem Trotz heraus.
Da galt es denn, diesen Trotz zu brechen, und unterschiedliche Heerhaufen zogen vor die Schlösser der Quitzows und Rochows. Und zwar drei vor Plaue, Friesack und Golzow. Der vierte Heerhaufen aber, der aus Bürgern von Jüterbog und Treuenbrietzen und aus Lehnsleuten der Klöster Lehnin und Zinna bestand, rückte vor Schloß Beuthen. Ein kurfürstlicher Vogt, Hans von Torgau mit Namen, führte diesen Heerhaufen an und forderte die beuthensche Besatzung auf, sich zu ergeben. Goswin von Brederlow aber, der die Burg für die Quitzows hielt, antwortete guten Muts: »er wolle sich die Sache noch ein paar Jahr überlegen«. Das war am 14. Februar 1414. Hans von Torgau meldete den Bescheid an seinen gnädigsten Herrn Kurfürsten, und die Bürger von Jüterbog und Treuenbrietzen bezogen ein Lager an der Nuthe hin und warteten auf den zugesagten Bundesgenossen, von dessen Kriegsruhm die Marken damals voll waren. Und siehe da, sie warteten nicht lang. Erst am 24. Februar war Schloß Plaue gefallen, und schon am 25. erschien die »Faule Grete«, von sechsunddreißig Pferden gezogen, vor Burg Beuthen. Andern Morgens mit dem frühesten schlug eine dreißig Pfund schwere Steinkugel an denselben Turm, hinter dem Goswin von Brederlow eben beim Frühstück saß, und gab der alten Burg einen solchen Ruck, daß es schwer zu sagen war, was mehr zitterte, die Mauern oder die Herzen der Besatzung. Und auch Goswin von Brederlow fing jetzt an, mit sich handeln zu lassen. Es schien, er hatte Tage gemeint, nicht Jahre, und am 26. abends schon war Schloß Beuthen eine Hohenzollersche Burg.
Und gut-hohenzollersch ist sie geblieben, solange sie von jenem Tag an noch gestanden hat. Das meiste von ihr verschwand kurz vor der Schlacht von Großbeeren, als preußische Artillerie, welche den Übergang über die Nuthe decken sollte, die Feldsteinmauern großenteils einriß und statt ihrer einen Erdwall aufführte. Nur die von Gräben oder Flußwindungen eingefaßte Stelle, wo Burg Beuthen stand, ist noch deutlich erkennbar, ein Stück Inselland, auf dem sich ebenso Mittelturm und Außenwall immer noch ersichtlich markieren. Ein paar Weiden und Akazien überschatten jetzt den Rasen, der ein Stück märkischer Geschichte deckt, und einzelne Fischernetze spannen sich zwischen den Baumstämmen aus. Im übrigen ist alles hinüber, und ein Kahn, ohne Bank und Steuer, der halb verborgen im Schilfe liegt, unterhält die Verbindung zwischen dem Inselchen und der Welt.
Es war im Februar 1414, daß die Quitzow-Burgen fielen. Damals waren die Hohenzollern fremd im märkischen Land, und beinah feindlich betraten sie dasselbe. Das ist anders geworden seitdem. Dieselben Familien, die damals am festesten widerstanden, haben sich inzwischen als die treuesten bewährt, und die alten Rittersitze, vor denen die »Faule Grete« das letzte Wort sprechen mußte, sind längst zu Stätten unwandelbarer Loyalität geworden. Auch Schloß Beuthen. Die Burg ist hin, aber zu Füßen derselben sind Dörfer entstanden, die den alten Namen tragen (Groß- und Klein Beuthen), und die Görtzkes, die diese Dörfer an die 300 Jahre nun ihr eigen nennen, sind alles, nur keine Goswin von Brederlows mehr, die sich’s erst »überlegen wollen«, wenn ein Hohenzoller Einlaß begehrt.
Und es sind nun einige zwanzig Jahre, daß ein Hohenzoller wieder mal darum ansprach und gleich danach seinen Einzug hielt in Großbeuthen.
Versuch ich, diesen Tag zu beschreiben.
Die Augustsonne fällt auf das am Dorfausgange gelegene Herrenhaus. Der alte Torweg, der von der Straße her auf den Hof führt, ist eine Blumenpforte geworden, und auf den Steinpfeilern rechts und links wehen die preußischen Fahnen. Ebenso hat sich das an sich einfache Herrenhaus verändert und ist kaum noch das alte. Seine weißgetünchten Wände blicken nur hier und da noch aus der Umrahmung von Festons und Guirlanden hervor, und die Vorbautreppe verbirgt ihr schlichtes Geländer hinter einem Walde von hohem Schilf. Aus der weit offenstehenden Türe lugt von Zeit zu Zeit ein Mädchenkopf hervor und fragt mit jedem Blick über den Hof hin: »Ob sie kommen?« Auf dem Korridor aber schreiten befrackte Herren auf und ab und vergleichen mechanisch die Taschenuhr mit der Wanduhr, dem einzigen Schlagwerk im Hause, das in unbeirrter Ruhe seinen Gang fortsetzt, während alle Herzen rascher und höher schlagen. Die Tauben sitzen den Dachfirst entlang, als warteten sie mit, und der Hahn, der sonst wohl im Schatten unter dem Vordach um diese Stunde zu meditieren pflegt, heut schüttelt er seine Federn und scheint sich in den Honneurs zu üben, sooft er auf einem Fuße steht. Jetzt aber meldet sein lauter Schrei, daß Freund oder Feind im Anzuge, die Tauben flattern auf, und die Mädchen auf dem Hausflur rufen, was jeder weiß: »Sie kommen!« Im Nu sprengen jetzt Vorreiter auf den Hof, der erste Wagen hält, und die Pferde schnaufen und werfen den Schaum von den Nüstern; eine lange Reihe von Equipagen folgt; aber ehe sie heran sind, öffnet ein Jäger den Schlag, und den Tritt hinab, der sich beim Öffnen der Wagentür wie von selber ausbreitet, steigen König und Königin.
Sie haben sich anmelden lassen in Großbeuthen, haben um Quartier gebeten für die Tage des Manövers, das die Garden auf dem Sandplateau des Teltow eben heute begonnen haben, und da sind sie nun, um ihren Einzug zu halten. Liebe empfängt sie, und Ehre geben sie. Die Schilftreppe hinauf schreitet das hohe Paar, und nach Worten herzlicher Begrüßung treten König und Königin in die für sie bereitgehaltenen Zimmer.
Und nun eine Stunde später.
Im Freien ist das Mahl angerichtet unter ein paar mächtigen Kastanien, die das weiße Linnen des Tisches überschatten. Und was alles hat der Wunsch, ein Schönstes und Bestes zu tun, aus diesem schlichten Platze gemacht! Der Staketenzaun, dessen Holzwerk längst die Zeichen gereifter Jahre trägt, hat seine Moos- und Flechtenpatina hinter Pyramiden von Riesenmais versteckt, und was im Garten noch Duft und Farbe hatte, scheint jetzt hier versammelt zu sein. Die Treibhäuser haben ihre Blumentöpfe bis auf den letzten Mann gestellt, und selbst der Landsturm der Astern ist aufgeboten worden. Terrassenförmig stehen sie rechts und links und blicken einander über die Köpfe fort, als wären sie nicht nur erschienen, um gesehen zu werden, sondern auch, um selber zu sehn.
Die trotzigen Tage liegen weit zurück – König und Königin sind zu Gast in Großbeuthen. Die vollen Blätterschirme geben Schatten, und doch liegt ein Sonnenschein über der Tafel, und das Singen der Vögel klingt, als wollten sie denen draußen erzählen von dem Feste, das hier gefeiert wird. Das Auge der Königin hängt an dem reizenden Bilde, der König aber, der den Zauber mehr fühlt als sieht, strömt über von jener gemüt- und geistgebornen Heiterkeit, die so viele Herzen eroberte, selbst abgeneigtere als die Herzen derer, die hier unterm Kastaniendache versammelt sind.
Das Mahl ist vorüber, und unter den Bäumen wird es schwül; aber der offene, luftige Garten liegt ausgebreitet vor ihnen, und seine breiten Steige laden zu einem Spaziergang ein. Die Obstbaumallee hinauf, an der Akazienlaube vorüber, am Weinspalier zurück, so schreitet der König in raschem Geplauder auf und ab und unterbricht sich nur, wenn aus Näh oder Ferne die Glocken herüberklingen, die den Abend einläuten.
Die Dämmerstunde kommt, und der Tee wird auf der Gartentreppe serviert. In der Luft ist kaum ein Zittern. Zwei das Haus schützende hohe Platanen breiten ihr Gezweig über die Gruppe hin, und ein paar Schwarzpappeln, die weitab am Ausgange des Gartens stehn, stehen jetzt wie Schatten vor dem letzten Streifen der Abendröte. Stiller wird’s, und nur ein Hauch, der sich eben regt, zieht über die Levkojenbeete hin und trägt ihren Duft bis zu der Gartentreppe hinauf. »Wie schön es bei Ihnen ist«, wendet sich der König an die Dame des Hauses und atmet höher und voller, als bad er sich in der duftigen Frische des Abends.
Aber diese Frische wird allmählich zur Kühle; jung und alt beginnen zu frösteln, und der Schutz und Wärme bietende Gartensaal empfängt die hohen Gäste. »Was lesen wir?« fragt der König. »Ehre, dem Ehre gebührt; ich dächte, wir hörten ein Kapitel heut aus der Geschichte der Görtzkes.«
Und der Vorleser verbeugt sich und rückt an den Tisch. Beschämt und gehoben zugleich sitzen die Görtzkes umher und horchen auf jedes Wort. Sie kennen alles, aber das Bekannteste selbst klingt ihnen heute neu, wo der König dem Berichte lauscht.
Von ihrem Eltervater wird gelesen, von Joachim Ernst von Görtzke, dem »alten Görtzke« par excellence. Nichts wird vergessen: wie er als Page Marie Eleonorens in schwedische Dienste kam; wie er unter dem Schwedenkönig bei Leipzig focht; wie ihn die Kaiserlichen bei Lützen zum Hinkefuß und Krüppel schossen und wie ihm das alte märkische Herz endlich wieder lebendig ward und er zurücktrat in den kurbrandenburgischen Dienst. Und weiter dann: wie er ein großer Feldoberst wurde, der bei Rathenow und Fehrbellin dem alten Feldmarschall Wrangel, dem »Gustav Wrangel«, zeigte, daß aus dem Schüler ein Meister geworden. All das und wie der Kurfürst ihn seinen »Paladin« genannt, es wurde gelesen heut und noch viel mehr. Und auch wie seine letzten Tage waren. In Friedersdorf, das er gekauft und aus Trümmern und Asche wieder aufgebaut hatte, saß der Alte vor seinem Schloß und freute sich der Sonne, die herniederschien, und des Wohlstands und Segens um ihn her. Und von Zeit zu Zeit kam auch Besuch: ein alter Weißbart, gefolgt von Töchtern und Enkeln, als wär es der Winter und brächte den Frühling mit. Das war Gusower Besuch, und der alte Weißbart, der kam, war der alte Derfflinger. Unter einer weitzweigigen Rotbuche setzte man sich dann, und die beiden alten Kämpen, die jederzeit Nachbarn gewesen waren, auf ihren Schlachtfeldern sonst und mit ihren Ackerfeldern jetzt, sie gedachten der alten Zeit und der alten Namen. Und auch am 30. März 1682 hielt der Gusower Wagen auf der Rampe von Friedersdorf. Aber nicht zu frohem Besuche; Glocken klangen, und Kanonen wurden gelöst, und der Achtzigjährige war nur gekommen, um den Siebzigjährigen in die Gruft zu senken. In der Friedersdorfer Kirche ruht die leibliche Hülle des »Paladin«; neben dem Altar aber steht hoch aufgerichtet sein steinern Bild und schaut fromm und mutig drein, wie’s einem brandenburgischen Kriegsmanne geziemt. –
Der Vorleser schwieg. »Ich weiß, daß die Görtzkes noch immer die alten sind«, sagte der König. »Der Erfolg steht bei Gott; aber Mut und Treue stehen bei uns.«
Im Gartensaale wurd es still und bald auch im Hause. Der König schlief inmitten seiner Treuen wie jener »reichste Fürst«, den der Dichter besungen, und wenn Segenswünsche Macht haben über die Träume, so war sein Traum wie der Sommer, der zieht, oder wie Gesang, der abends vom See her ans Ufer klingt.
Ein klarer Oktoberhimmel lacht, in die Platanenblätter mischt sich das erste Gelb, und die Birnbäume, die hoch über das Weinspalier wegragen, stehen in voller Frucht. Im Gartensaal aber ist es, als wäre schon Dezember, jene schönste Zeit im Jahr, wo’s auf Flur und Treppe nach Tannenbaum und Wachsstock duftet und wo die Geschenke kommen von nah und fern. Und wirklich, an der ganzen Länge des Tisches hin stehen die großbeuthenschen Hausinsassen und blicken auf allerlei wohlverpackte Kisten, als wären es Zauberkommoden, aus deren Fächern in jedem Augenblick ein Wundervogel auffliegen könne. Mit einer Feierlichkeit, die niemand merkt, weil jeder sie teilt, werden endlich die Deckel geöffnet, und der sonst so wenig anmutige, knarrende Ton, mit dem die Nägel sich langsam aus dem Holze ziehn – er hat seinen Reiz heut in dieser erwartungsvollen Stunde. Die Seegrashülle fällt, und nun blinkt es und blitzt es hell herauf! Es sind Geschenke von Sanssouci: Gold und Porzellan und Bilder und Gemmen, alles wertvolle Dinge, wie sie die Hand eines Königs, und sinnige Dinge, wie sie nur die Hand eines solchen Königs schenkt. Ein jeder blickt auf die Zeichen übergroßer Huld, und während das Haupt der Familie mit bewegter Stimme die königlichen Worte liest, die diese reichen Gaben begleiten, fallen die Tränen allertreuster Menschen zwischen die Gemmen und Edelsteine nieder, als gehörten sie dorthin.
Schloß Beuthen ist längst keine Veste mehr, die Goswin von Brederlow gegen die Hohenzollern hält. Tür und Tor stehen ihnen weit offen und die Herzen der Görtzkes dazu.
Saalow
Ein Kapitel vom alten Schadow
Ihr wolltet lebend nicht einander weichen,
Im Tode hat nun jeder seine Krone;
Verbrüdert mögt ihr euch die Hände reichen.
Platen
Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwischen Trebbin und Zossen, liegt das Dörfchen Saalow. Elsbruch, Kiefernwald und sandige Höhen fassen es ein, und die letzteren, die den grotesken Namen der »Höllenberge« führen, bilden neben einem benachbarten See, der »Sprotter Lache«, so ziemlich die ganze Poesie des Orts.
Wir kommen von Großbeeren her, haben eben das Dorf Schünow passiert, und zwischen Wald und Bruchland unsern Weg verfolgend, erreichen wir zuletzt eine kurze Maulbeerbaumallee, die bis an den Eingang des Dörfchens führt, dem unsre heutige Wanderung gilt. Eben Saalow. Eine Kirche fehlt, ein Herrenhaus auch, und ein paar Dutzend Häuser und Gehöfte, sauber gehalten und meist mit Ziegeln gedeckt, bilden die Dorfstraße, die sich alsbald platzartig erweitert. In der Mitte dieses Platzes dehnt sich der übliche Wassertümpel, ohne den geringsten Anspruch auf die sinnige Bezeichnung »Auge der Landschaft«. Die Schwalben unterm Sims und das Storchnest auf dem Dache sorgen für die nötige Dorfgemütlichkeit, die Hähne krähen, der Balken am Ziehbrunnen steigt auf und ab, und über den Pfuhl hin schnattert und segelt das Entenvolk in komischer Gravität.
So ist Dorf Saalow jetzt, schlicht und einfach genug; aber doch ein Platz voll einladender Heiterkeit, verglichen mit dem, was es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war, wo der, der es zufällig passierte, nur Strohdächer sah, alte Strohdächer, die längst zu Moosdächern geworden waren. Unter einem derselben wohnte der Dorfschneider, Hans Schadow mit Namen, der, trotzdem er schon in die Jahre ging und viel Anhang und Vetterschaft im Dorfe hatte, doch noch immer ledigen Standes war. Als ihm aber endlich das Alleinsein nicht länger mehr gefallen wollte, gefiel ihm auch Saalow selbst nicht mehr, und er gab es auf, um zunächst nach dem benachbarten Zossen und dann von Zossen aus nach Berlin zu ziehn. Da fand er, was er suchte, verheiratete sich gerad in demselben Winter 63, wo der Krieg auf die Neige ging, und nahm eine kleine Wohnung in der Lindenstraße, nicht weit vom Halleschen Tore.
Sieben Jahre sind seitdem vergangen, und wir treten heut in die Werkstatt des ehemalig saalowschen und nunmehro berlinischen Schneidermeisters ein. An dem Zuschneidetische, dessen weit vorspringende Holzplatte bis in die Mitte des Zimmers reicht, steht ein knochiger und breitschultriger Mann, dessen Figur eher an Hammer und Amboß als an Nadel und Schere gemahnt und blickt auf das vor ihm ausgerollte Stück Tuch. Er hält zugleich auch ein Stück Kreide zwischen Daumen und Zeigefinger, und wie ein Baumeister, der seinen Plan entwirft und die Distancen absteckt, tupft er bald hierhin, bald dorthin auf das ausgerollte Tuchstück, mustert die weißen Tüpfelchen und zieht dann, zwischen ebendiesen Punkten, die geraden und die geschweiften Linien, je nachdem es Schoß oder Rückenstück erfordert. Ringsum völlige Stille; der Zeisig im Bauer singt weder, noch springt er auf den Sprossen auf und ab, selbst die Fliegen gönnen sich Ruh, und nur aus dem halbdunklen Ofenwinkel hervor klingt es und schrammt es leise, wie wenn jemand geschäftig mit einem Griffel über die Schiefertafel fährt. Und dem ist auch so. Auf der niedrigen Ofenbank hockt ein sechsjähriger Blondkopf, und die beiden Beinchen wie ein schräges Pult vor sich, tupft er, ganz nach Art des Vaters, allerhand Tüpfelchen auf die Tafel und zieht dann, zwischen den Punkten, die geraden und die geschweiften Linien. Aber diese Linien und Punkte beziehen sich nicht auf Schoß und nicht auf Rückenstück, sondern auf das Gesicht des Vaters, dessen markiertes Profil er in aller Deutlichkeit vor sich hat. Den vorspringenden Stirnbuckel, die römisch geschwungene Nase, den tiefen Mundwinkel, alles hat er getroffen – und einen Augenblick haftet der freudig erregte Blick des Knaben an dem von ihm geschaffenen Bilde. Plötzlich aber klingt es »Gottfried« vom Arbeitstische her, das Klappern eines Deckelkruges begleitet den strengen Ruf des Vaters, und im selben Moment, als fühl er sich auf einem Unrecht ertappt, fährt die Hand des Knaben rasch über Tafel und Zeichnung hin. Und nun erst springt er auf und nimmt den Krug, den ihm der Vater entgegenhält.
Das war im Sommer 1770.
Und siehe da, rasch wechseln Zeit und Ort: statt der siebziger Jahre des vorigen, liegen die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts vor uns, und statt in die kleine Schneiderstube blicken wir in den großen Aktsaal der Berliner Akademie. Die Schüler sind bereits versammelt, und jedes einzelnen Ernst und Aufmerksamkeit ist eine gesteigerte, denn der »Alte« ist eben eingetreten, um nach dem Rechten zu sehen. Dieser »Alte«, ein Achtziger schon, aber immer noch ein Mann aus dem Vollen, schreitet langsam von Platz zu Platz, und nur dann und wann bleibt er stehen und blickt musternd über die Schulter der Zeichnenden. »Det is jut«, sagt er dem einen und klopft ihm, als Zoll der Anerkennung, mit seiner mächtigen Hand auf den Kopf. »Det is nischt«, sagt er zu dem andern und geht weiter. Ein dritter müht sich eben, den Umriß einer menschlichen Figur auf dem Papiere festzuhalten, aber die Linien sind nicht sicher gezogen, und die Proportionen sind falsch. Der Alte heißt ihn aufstehen, nimmt seinerseits Platz auf dem leer gewordenen Stuhl und sagt dann lakonisch: »Nu paß uff. Ich mach det so.« Dabei nimmt er des Schülers Kreidestift, tupft Punkte mit fester Hand auf das graue, grobkörnige Zeichenpapier, und während er diese Punkte mittelst sicher gezogener Linien untereinander verbindet, brummt er vor sich hin: »Det hab ich von meinen Vater. Der war ‘n Schneider.«
Gottfried Schadow, der Schneiderssohn, ist Gottfried Schadow, der Akademiedirektor, geworden, ein berühmter Mann, ein Name, der Klang hat von einem Ende Europas bis zum andern. Derselbe Gottfried, der dienstfertig aufsprang, wenn der strenge Vater mit dem Deckelkruge klappte, derselbe Gottfried ist jetzt seinerseits ein strenger Hausherr geworden, vielleicht nicht strenger als der Vater, aber mächtiger und gefürchteter. Sein Haus ist die Akademie, darin waltet er als König und Herr und hat seine Macht längst als einen unerschütterlichen rocher de bronze stabiliert. Die Zeiten, wo er Beispiele statuieren mußte, liegen hinter ihm, und nach Art eines alt und milde gewordenen Autokraten spielt er nur noch mit dem Zügel seiner Herrschaft. Aller Abzeichen seiner Würde, jedes repräsentativen Flitters hat er sich längst entkleidet; er regiert durch sich selbst, kraft seiner Kraft. Ob das Sacktuch, das er aus seinem taschenreichen Rocke zieht, von Kattun ist oder von Seide; ob er riesige Filzschuhe trägt oder kalblederne Stiefel (in die, der Ballen und Zehen halber, immer große Löcher geschnitten sind); ob er hochdeutsch spricht oder in einem Berliner Platt – es kümmert ihn nicht und kümmert andre nicht, denn weder er noch andre vergessen es, daß er »der alte Schadow« ist. Herrschergewohnheit und das Bewußtsein völliger Überlegenheit haben seinem Auftreten längst jede Spur von Scheu genommen, und was er denkt und fühlt, das spricht er aus. Sein Wille ist Gesetz; seine Laune nicht minder. Eine kleine Szene mag schildern, wie er das Zepter führt.
Es ist eine Abendsitzung. Der akademische Senat hat sich versammelt: berühmte Maler und Bildhauer; keiner fehlt. Der Saal ist hell erleuchtet und das Licht fällt auf die schönen Blechenschen Zeichnungen, die ringsum an den Ständern und Wandschirmen befestigt sind. Am obern Ende des Ovaltisches aber, dessen grüne Decke mit vielen hundert Goldnägelchen an der Tischplatte befestigt ist sitzt der alte Schadow, die Arme bequem auf die Seitenpolster eines Lehnstuhls gelegt, während seine Füße in hohen Pelzstiefeln stecken und ein mächtiger grüner Augenschirm uns die obere Hälfte seines Gesichtes verbirgt. Es ist heut ein wichtiger Tag: Annahme neuer Schüler, und am entgegengesetzten Saalende steht Professor Stabfuß und kontrolliert alle sich zur Aufnahme Meldenden. Wessen Zeugnisse nicht in Ordnung sind, wer zu jung ist oder zu alt, wird unerbittlich zurückgewiesen, und heitre und verblüffte Gesichter wechseln untereinander ab. Da tritt ein junges Bürschchen ein, ein echtes Berliner Kind, dessen kraus aufrecht stehendes Haar gegen alle Ängstlichkeit in der Welt zu protestieren scheint. Am besten, ich stell ihn vor: Richard Lucae, später selber ein Direktor (der Bauakademie).
Die Sicherheit seines Auftretens, auf daß nichts verschwiegen werde, hat freilich noch seine besonderen Gründe: Der alte Schadow ist Hausfreund bei des blonden Krauskopfs Eltern, und kein Geburtstag ist seit funfzehn Jahren vergangen, wo nicht die Mutter des eben Eingetretenen, eine heitre thüringische Frau, dem »Herrn Nachbar und Gevatter« einen Quarkfladen als Geburtstagsgeschenk übermittelt hätte. Das Berliner Kind kennt natürlich die Welt; die Macht der Connexion ist ihm kein Geheimnis mehr, und auf Professor Stabfuß’ wiederholte Frage nach Zeugnissen und allerhand andern Papieren erklärt er mit äußerster Unbefangenheit, daß er weder Zeugnisse noch andere Papiere habe. Die Ruhe, mit der diese Erklärung abgegeben wird, hat etwas Provokatorisches, und Stabfuß beginnt seinem Ärger Luft zu machen. Richard Lucae repliziert ebenso, der Lärm wird immer größer, und der alte Schadow, dessen schläfrig scheinender Aufmerksamkeit in Wahrheit nichts entgangen ist, ruft endlich über den Tisch hin: »Wat is denn los?«
Statt aber eine direkte Antwort zu geben, tritt der Professor vom andern Saalende her an den Alten heran, zeigt auf das Jüngelchen, das ihm gefolgt ist, und sagt in gereiztestem Tone: »Herr Direktor, hier ist einer von den Lucaes nebenan; er will in die Gipsklasse; aber nichts ist in Ordnung.«
»So, so«, brummelt der Alte, hebt den Augenschirm halb in die Höh, mustert den jungen Aspiranten der Gipsklasse und sagt dann: »I, det is ja Richard.«
Der Angeredete verbeugt sich zustimmend.
»Höre, Richard, sage doch Muttern, der letzte Kuchen war wieder sehr gut. Aber vergiß ‘t nich.«
Die Professoren, längst an Intermezzos dieser und ähnlicher Art gewöhnt, lächeln behaglich vor sich hin, wie wenn sie sagen wollten: »ganz im Stil des Alten«, und nur Stabfuß beißt sich auf die Lippen, denn er ahnt, daß seinem Ansehn eine neue große Niederlage bevorstehe.
»Na, Richard«, fährt der Alte fort. »Du wist also in de Gipsklasse?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Haste denn ooch Lust?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Hast ooch schon gezeechnet?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Na, denn zeechne mal ‘n Ohr; aber aus ‘n Kopp. Stabfuß, gehen Se mal Papier her un ‘n Bleistift.«
Der Angeredete gehorcht mit süßsaurem Gesicht.
»So. Na, nu setzt de dir hier an ‘n Disch un zeechenst.« Unser junger Aspirant tut wie befohlen, zeichnet ein Ohr und überreicht es dem neben ihm stehenden Stabfuß. Dieser, in begreiflicherweise höchst kritischer Laune, beginnt zu mäkeln, aber seine Geschicke vollziehen sich unabwendlich.
»Geben Se mal her«, unterbricht ihn der Alte, klappt den grünen Schirm abermals in die Höh, befühlt und bekuckt das Papier von allen vier Seiten und sagt dann: »Stabfuß, bedenken Se – aus ‘n Kopp. Det Ohr is jut. Schreiben Se ‘n man in.«
Und so kam Richard Lucae in die Gipsklasse.
Und so war der alte Schadow, setzen wir hinzu. Ein Zwiespalt ging durch sein Leben: Griechentum und Märkertum hielten sich das Gleichgewicht oder verbanden sich zu einem wunderbar humoristischen Gemisch. Wenn er in den Saal tapste oder das Taschentuch zog (was viel öfter geschah, als schön war), war er ganz der Sohn seines Vaters aus Dorf Saalow, wenn er den Stift in die Hand nahm, war er das Kind einer glücklicheren Zone. Mark Brandenburg und Athen erschienen abwechselnd als seine Heimat. Sein Körper und seine Seele lebten miteinander wie Venus und Vulkan. Diese Zwiespältigkeit wurde zuletzt sein Stolz, und er machte das Beste draus, was sich draus machen ließ, ein Original. Und wirklich, immer nur solche Derbheitsgestalten sind bei unserm Volke populär geworden: der Alte Dessauer, Friedrich der Große, Blücher. Auch unser großer Kanzler gehört hierher. Alles Patente wird beargwohnt oder ist einfach lächerlich.
Das ganze Auftreten Schadows erinnerte vielfach an die Meister des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Er war ein Peter Vischer ins Märkisch-Berlinische übersetzt und hielt noch aufs Handwerk, immer davon ausgehend, daß es besser sei, das Handwerk zur Kunst als die Kunst zum Handwerk zu machen. Von Bürgersinn und Bürgertrotz war ihm ein gerüttelt und geschüttelt Maß geworden, und gegenüber modernen Künstlerprätensionen hielt er’s ganz mit der alten Schule, die sich mehr ums Sein als ums Scheinen kümmerte. Das Schwierige des bloßen, äußerlichen Machen-Könnens betonte er gern, und in ähnlicher Weise, wie Ludwig Tieck zu sagen pflegte: »Es ist immerhin eine Arbeit, einen dreibändigen Roman zu schreiben, gleichviel ob er gut oder schlecht ist«, so sagte auch Schadow, wenn Skizzen über Gebühr und auf Kosten ausgeführter Arbeiten gelobt wurden: »Papier is weech, aber Steen is hart.«
In einem gewissen Zusammenhange mit diesem Betonen des Handwerklichen in der Kunst war es auch, daß er mit Vorliebe zitierte: »Der Arbeiter ist seines Lohnes wert«, und sich jedesmal ärgerte, wenn einem Künstler zugemutet wurde, vom himmlischen Lichte leben zu sollen. Er forderte für den Maler und Bildhauer, wie für jeden andern Menschen, das tägliche Brot und bekannte sich sogar zu dem in der Kunst vielleicht anfechtbaren Satze, daß sich Art und Wert der Arbeit nach dem Lohn zu bestimmen habe. Sein gemünztes Wort in solchem Falle war: »Kuppern bezahlt, kuppern gemalt.«
Er hatte, wie alle volkstümlichen Figuren unseres Landes, eine Vorliebe für den Dialekt , wiewohl er ihn ebensoleicht beiseite tun und namentlich in Aufsätzen und Abhandlungen – deren höchst vortreffliche von ihm existieren – eine durchaus mustergültige Sprache führen konnte. Lakonisch war er immer, wie fast alle Leute hervorragenden Könnens. Er trieb diese Kürze des Ausdrucks gelegentlich bis zur Unverständlichkeit, und nur Eingeweihte konnten ihm in solchem Falle folgen. Ein Jugenderlebnis, von dem er gerne sprach und das ihm so recht deutlich gezeigt hatte, mit wie wenig Worten sich durchkommen lasse, schien eine Nachwirkung auf sein ganzes Leben ausgeübt zu haben. Als er 1791 über Schweden nach Petersburg reiste, fand er an der russischen Grenzstation Kymen einen ehemaligen russischen Korporal als Posthalter vor. Schadow fror bitterlich und hatte Hunger und Durst. Er wußte kein Wort russisch, und um sich so gut wie möglich zu introduzieren, sagte er bloß: »Tottleben, Tschernyschew, Zarewna.« Der Korporal antwortete: »Belling, Zieten, Fridericus Rex.« So wurde mit Hülfe des Siebenjährigen Krieges Freundschaft geschlossen. Man fand sich und schüttelte sich die Hände. Der Russe schaffte Speisen und Tee herbei und trat dann unserm Schadow sein Bett ab, das das einzige in der ganzen Gegend war. Er hatte hier praktisch erfahren, daß es nur darauf ankomme, das rechte Wort zu treffen! –
Voller Selbstbewußtsein, war er doch frei von jeder kleinlichen Eitelkeit. Ja, er erwies sich nach dieser Seite hin als eine echte und große Künstlernatur. Die Autobiographie, die er hinterlassen hat, zeigt uns in erhebender Weise die Beispiele davon. Nirgends ein Verkleinern anderer, nirgends ein Vordrängen des eigenen Ich, nirgends ein Verkennen oder wohl gar ein Grollen über die Fortschritte, die Zeit und Kunst um ihn her gemacht hatten. Selten mag ein Künstler mit größerer Unbefangenheit über seine Werke zu Gericht gesessen haben. »Es kann dies Denkmal Tauentziens« – so schreibt er selbst – »nicht zu den Kunstwerken gezählt werden, die als Vorbilder dienen dürfen«, und über die Statue Friedrichs II. in Stettin, die von vielen Seiten seinen besten Arbeiten zugezählt und über das Rauchsche Kolossalwerk gestellt worden ist, läßt er sich selber in abwehrender Weise vernehmen: »Ich zähl auch diese Arbeit nicht zu den gelungenen; die Drapierung des Mantels war ein mühseliges Unternehmen.« Von den Reliefs am Berliner Münzgebäude sagt er in heiterer Anspruchslosigkeit: »Wer diese Arbeiten als meine besten gepriesen hat, mag es vor sich und vor der Welt verantworten.«
Solcher Aussprüche finden sich viele. Eine ungeheure Produktionskraft und eine bis ins späte Alter hinein dem entsprechende Leichtigkeit des Schaffens machten ihn gleichgültig dagegen, ob das ein’ oder andre seiner Werke verlorenging oder nicht. Immer das Ganze vor Augen, war er nicht ängstlich bei jedem einzelnen auf Ruhm und Unsterblichkeit bedacht, auch wenn das einzelne wirklichen Wert besaß. Eine kleine Anekdote mag das zeigen. Unter den vielen Statuetten, die in seinem Zimmer auf Konsolen und Simsen umherstanden, befanden sich auch die Modellfiguren zweier Grazien, die er in grüner Wachsmasse ausgeführt hatte. Es waren Arbeiten aus seiner besten Zeit, kleine Meisterwerke, die mehr als einmal die Bewunderung eintretender Künstler und Kenner erregt hatten. Durch eine Unvorsichtigkeit indes waren während des Winters 1840 beide Figuren in die Nähe des Ofens gestellt worden und hatten, weil das Wachs an der Oberfläche schmolz, eine wie mit Pickeln übersäte Haut bekommen. Ein Tausendkünstler aus der Schadowschen Bekanntschaft erbot sich, mit Hülfe von Naphtha oder Äther die alte normale Schönheit wiederherzustellen. »Na, na«, hatte der Alte kopfschüttelnd abgewehrt, sich aber schließlich doch bestimmen lassen. Leider sehr zur Unzeit, und in einem Zustande merkwürdiger Schlankheit kehrten nach kaum acht Tagen die Äthergebadeten in das Schadowsche Haus zurück. Der Alte ging einen Augenblick musternd und schmunzelnd um seine Lieblingsgestalten herum und sagte dann ruhig zu dem erwartungsvoll Dastehenden: »Ja, de Pickeln sind weg, aber de Pelle ooch.« Wenige hätten gleich ihm die Beherrschung gehabt, mit einer humoristischen Bemerkung von einer so wertvollen und allgemein als mustergiltig angesehenen Arbeit Abschied zu nehmen.
Ein solches, von einem leichten Humor getragenes Abschiednehmen war nun freilich nicht immer seine Sache. Mußt es sein, wie in dem vorerzählten Falle, so fand er sich darin; aber freiwillig – nein. Auch hierfür ein Beispiel.
Einer seiner Schüler, der spätere Professor F., hatte sich durch Ausführung einer ihm im Interesse Schadows übertragenen Arbeit die ganz besondere Zufriedenheit des Alten erworben, so daß dieser in guter Laune sagte: »Nu höre, F., nu könntest du dir woll eigentlich sozusagen ne Gnade bei mir ausbitten. Na, sage mal, was möchtst du denn woll.«
»Ja, Herr Direktor…«
»Na, geniere dir nich. Sage man janz dreiste…«
»Ja, Herr Direktor, wenn Sie denn wirklich so viel Güte für mich haben wollen, dann möcht ich Sie wohl um die beiden kleinen Modellfiguren bitten, die da oben stehen.«
»Um welche denn?«
»Um den alten Dessauer und den alten Zieten.«
»I süh!… Höre, F., du bist nich dumm. Aber ich werde dir doch lieber fünfundzwanzig Daler geben.«
Und so geschah es.
Er war auch ein Repräsentant der Berliner Ironie, der trostlosesten aller Blüten, die der Geist dieser Landesteile je getrieben hat. Aber er war ein Repräsentant derselben auf seine Weise. Man hat, wenn solche Abschweifung an dieser Stelle gestattet ist, dies ironische Wesen auf den märkischen Sand, auf die Dürre des Bodens, auf den Voltairianismus König Friedrichs II. oder auch auf die eigentümliche Mischung der ursprünglichen Berliner Bevölkerung mit französischen und jüdischen Elementen zurückführen wollen – aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Alles das mag eine bestimmte Form geschaffen haben, nicht die Sache selbst. Die Sache selbst war Notwehr, eine natürliche Folge davon, daß einer Ansammlung bedeutender geistiger Kräfte die großen Schauplätze des öffentlichen Lebens über Gebühr verschlossen blieben. Das freie Wort ist endlich der Tod der Ironie geworden und wird es täglich mehr. Zu Schadows Zeiten aber blühte sie noch, und da es für den einzelnen immer mehr oder weniger unmöglich sein wird, sich gegen einen die Gesellschaft beherrschenden Ton abzuschließen, so adoptierte denn auch Schadow diese Sprechweise, freilich erst, nachdem er sich dieselbe nach seinen eigenen Bedürfnissen zurechtgemacht hatte. Er versetzte sie nämlich mit einem Element, von dem sie in der Regel wenig zu haben pflegt: mit humoristischer Derbheit, und erzielte dadurch ein ganz eigenartiges Endresultat.
Ein paar illustrierende Beispiele, herausgenommen aus einer großen Zahl ähnlicher Anekdoten und Überlieferungen, mögen hier Platz finden. Vom Professor Stabfuß, der freilich alles andre eher war als ein Maler, pflegte der Alte lächelnd zu sagen: »Ja, der Stabfuß, der hat sich det Malen angewöhnt«, und einer Deputation von Bildhauern, deren Gesamtheit ihm am Abend vorher einen Fackelzug gebracht hatte, bemerkte er, ohne sich groß auf Dankesworte einzulassen: »Na, det hat euch woll viel Spaß gemacht.« Verhaßt waren ihm alle diejenigen, die durch Unterwürfigkeit und schöne Redensarten ausgleichen wollten, was ihnen an Kraft und Können abging, und auf einschmeichlerische Gesuche wie etwa: »Der Herr Direktor könnten das ja mit Leichtigkeit tun«, pflegte er regelmäßig zu antworten: »Ja, dun könnt ich et; aber ich du et lieber nich.« Anmaßung und Dünkel ließ er nicht aufkommen, auch da nicht, wo ein entschiedenes Talent die Äußerungen der Eitelkeit allenfalls verzeihlich gemacht hätte. Nahm er dergleichen wahr, so entstanden Gespräche wie das folgende: Schadow: »Haste det alleene gemacht?« Schüler: »Jawohl, Herr Direktor.« Schadow: »Janz alleene?« Schüler (fast beleidigt): »Jawohl, Herr Direktor.« Schadow: »Na, denn kannst du Töpper werden.« – Er hatte von solchen Ausdrücken und Vergleichen eine ganze Skala zur Verfügung. Am niedrigsten stand ihm der Zinngießer.
Nicht besser ging es denen, die als »Amateurs« in Reih und Glied eintreten und die Kunst nebenbei erlernen wollten. Einem jungen Offizier, der talentiert war und aus » Liebhaberei« zu malen vorhatte, antwortete er trocken: »Ne, ne, Herr Leutnant. Bleiben Se man lieber bei Ihr Mächen.«
Interessant war sein Verhältnis zu Rauch. Es wurd ihm nach dieser Seite hin das Möglichste zugemutet, und selbst die bittersten Gegner des alten Herrn – er hatte deren zur Genüge – werden ihm das Zeugnis nicht versagen können, daß er mit einer selten unzutreffenden Charakterhoheit dem Aufgang eines Gestirns folgte, das bestimmt war, die Sonne seines eigenen Ruhmes, wenigstens auf Dezennien hin, mehr oder weniger zu verdunkeln. Äußerungen, die ich bereits im allgemeinen getan, hab ich an dieser Stelle noch im besonderen zu wiederholen. Kein bitteres Wort, kein abschmeckiges Urteil kam über seine Lippe, selbst dann nicht, als die jugendlichere Kraft des Rivalen mit Ausführung jenes Friedrich-Denkmals betraut wurde, das einst sein Tag- und Nachtgedanke und wie nichts andres in seinem Leben der Gegenstand seines Ehrgeizes und seiner höchsten künstlerischen Begeisterung gewesen war. Überall, wo wir dem Namen Rauchs in seiner (Schadows) Autobiographie begegnen, geschieht es in einem Tone unbedingter Huldigung. »Die Figur der Königin zu Charlottenburg war sein erstes glänzendes Werk, so glänzend, daß es merkwürdig bleibt, wie seine folgenden Werke jenes noch übertreffen konnten.« In ähnlicher Weise klingt es stets. Zum Teil mochte das, was als neidlose Bescheidenheit erschien, ein Resultat klugen Abwarten- und Schweigenkönnens sein. Er wußte, daß seine Zeit wiederkehren würde; sprachen doch inzwischen seine Werke für ihn. Wenig mehr als ein Menschenalter ist seitdem verflossen, und die Wandlung der Gemüter hat sich vollzogen, rascher, als er selbst erwartet haben mochte. Die Zeit ist wieder da, wo das Grabmonument des jungen Grafen von der Mark in der Dorotheenstädtischen Kirche ruhmvoll und ebenbürtig neben jenem schönen Frauenbildnis im Mausoleum zu Charlottenburg genannt wird, und der Marmorstatuen Scharnhorsts und Bülows kann nicht Erwähnung geschehen, ohne daß gleichzeitig und mit immer wachsender Pietät auf die Standbilder Zietens und Leopolds von Dessau hingewiesen würde, die wir dem erfinderischen Kopf und der mutigen Hand des Alten verdanken. Die Fachleute zweifeln kaum noch, vor wem sie sich als vor dem größeren zu beugen haben: Rauch hatte die geschicktere Hand, aber Schadows Genius war bedeutender, selbständiger. Er schritt voran und brach die Bahn, auf der die Gestalt des andern, groß und leuchtend und mit dem fliegenden Haar des Olympiers, ihm folgte.
Es ist nicht Absicht dieser Zeilen, den Charakter Schadows nach allen Seiten hin zu zeichnen; aber ein Zug darf schließlich nicht vergessen sein, der entschieden in das Bild des Alten gehört: seine Loyalität, sein Herz für Preußen und die Mark. Er lebte durch ein volles halbes Jahrhundert hin als ein bevorzugter Liebling des Hofes, aber es waren nicht diese Bevorzugungen und Auszeichnungen, die seine Loyalität erst schufen, vielmehr wurd er ein Liebling, weil er sich in schwerer Zeit als ein Mann von Herz und Hand bewährt hatte. Er gehörte zu denen, denen gegenüber das allgemein patriarchalische Verhältnis, in dem die Hohenzollern zu ihren Untertanen stehen, den intimeren Charakter einer alten Bekanntschaft annimmt und zu einem Tone führt, in dem das Element der Scheu von der einen und der Hoheit von der andern Seite her in dem des Vertrauens völlig untergeht. Es gibt vielleicht keine zweite Fürstenfamilie, die solche beinah freundschaftlichen Verhältnisse kennt, sicherlich nicht in gleicher Zahl. An den meisten Höfen fehlt das Vertrauen, bei anderen lassen Steifheit und Formenwesen das Menschliche nicht zu voller Geltung kommen. Nur die Hohenzollern kennen jene wirkliche Humanität, die, wie der Zug ihres Herzens, so das Glück ihres Volkes ist.
Der alte Schadow war einer von denen, die wie lang bewährte Diener »mit zur Familie« gezählt wurden, einer von denen, die das süße Gefühl nicht störten: »wir sind unter uns«. Als er Ende der dreißiger Jahre ins Schloß ging, um bei Prinz Waldemar, dem jüngeren Sohne des Prinzen Wilhelm, Unterricht zu geben, trat er gerad in das Zimmer, als sich zwei junge Prinzessinnen lachend über den türkischen Teppich rollten; die Gesichter glühten, und die Haarflechten hingen lang herab. Entsetzt sprangen sie auf, warfen sich aber sofort wieder hin und tollten lachend mit den Worten weiter: »‘s ist ja der alte Schadow.«
Als die Friedensklasse des Pour le mérite gestiftet wurde, war es selbstverständlich, daß Schadow den Orden erhielt. Der König selbst begab sich in die Wohnung des Alten in der jetzigen Schadow-Straße.
»Lieber Schadow, ich bring Ihnen hier den Pour le mérite.«
»Ach, Majestät, was soll ich alter Mann mit ‘n Orden?«
»Aber, lieber Schadow…«
»Jut, jut, ich nehm ihn. Aber eine Bedingung, Majestät: wenn ich dod bin, muß ihn mein Wilhelm kriegen.«
Der König willigte lachend ein und verzeichnete in dem Ordensstatut eigenhändig die Bemerkung, daß, nach des Alten Tode, der Orden auf Wilhelm Schadow, den berühmten Direktor der Düsseldorfer Akademie, überzugehen habe. Wunsch des Vaters und Verdienst des Sohnes fielen hier zusammen.
Die letzte Begegnung, die der Alte mit König Friedrich Wilhelm IV. hatte, war wohl im Herbst 1848, wo der nunmehr Vierundachtzigjährige der Deputation angehörte, die von Berlin aus nach Potsdam ging, um dem Königspaare zur silbernen Hochzeit zu gratulieren. Als ihn der König sah, schob er ihm einen Stuhl hin. »Setzen Sie sich, Papa.« Der ganze Vorgang an die bekannte Szene zwischen Friedrich dem Großen und dem alten Zieten erinnernd.
Durch das ganze Schaffen des Alten ging, wie schon angedeutet, ein vaterländischer, ein preußisch-brandenburgischer Zug. Dinge, die sich jetzt von selbst zu verstehen scheinen, hat er das Verdienst, völlig abweichend vom Hergebrachten, zuerst gewagt und durch charakteristisch siegreiche Behandlung in die moderne Kunst eingeführt zu haben. Gegen die ausschließliche oder auch nur vorzugsweise künstlerische Berechtigung des Vaterländischen, des altenfritzig Zopfigen, scheint er freilich allezeit starke Bedenken unterhalten zu haben, viel stärkere, als man geneigt sein könnte bei einem Manne anzunehmen, dem es vorbehalten war, eben nach dieser Seite hin epochemachend aufzutreten. Aber ebensowenig wie er den Realismus ausschließlich wollte, ebensowenig verkannte er sein Recht. Die alten, hergebrachten Formen reichten für ein immer reicher und selbständiger sich gestaltendes Leben nicht mehr aus. Er empfand das tiefer als andere. Im Einklang mit seiner ganzen Natur erschien ihm die Kunst nicht als ein allein dastehendes, einfach dem Schönheitsideal nachstrebendes Ding, vielmehr sollte sie dem wirklichen Leben in der Vielheit seiner Erscheinungen und Ansprüche dienen, um es hinterher zu beherrschen. Das Loslösen der Kunst vom lebendigen Bedürfnis war ihm gleichbedeutend mit Tod der Kunst. So entstanden jene Arbeiten, die unser Stolz und unsere Freude sind. Die Ausführung dessen, woran seine Seele zumeist gehangen hatte, des Friedrichs-Monuments, blieb ihm freilich versagt, als Beweis aber, wie bescheiden und patriotisch zugleich er seine Tätigkeit auffaßte, stehe hier zum Schluß, was er selber bei Gelegenheit seines Zieten-Standbildes schrieb: »Ein zwar weniger kostbares, aber deshalb nicht minder beachtenswertes Zieten-Denkmal als das meinige ist die Lebensbeschreibung des alten Helden, die Frau von Blumenthal herausgegeben hat. Sie gibt in diesem Buche das ausgeführte Bild eines frommen und tapfern Soldaten, schildert den Geist seiner Zeit und flößt, bei angenehmer Unterhaltung, die Liebe ein zu König und Vaterland.«
So schrieb der Alte, und so war er.