1. Kapitel
Erster Besuch in Hoppenrade. Die Legende von der Krautentochter
Es sind jetzt zwanzig Jahre, daß ich, gleich bei Beginn meiner Arbeiten über Ruppin und Rheinsberg, zum ersten Male nach Hoppenrade kam. Ein Freund, der es schon oberflächlich kannte, hatte für jenen Tag die Führung übernommen, und nicht ohne Neugier und Erregung war es, daß ich nach dem »verwunschenen Schlosse« hin aussah, als wir in unserer hin- und herschwankenden und noch altmodisch in C-Federn hängenden Halbchaise die große Rüsterallee hinauffuhren. Aber der Gegenstand unserer Neugier verbarg sich bis zuletzt und wurd erst sichtbar, als wir unmittelbar vor ihm hielten. Er lag da wie herrenloses Eigentum. »He, holla!« Und der Kutscher knipste begleitend mit der Peitsche.
Niemand aber kam, uns zu begrüßen, freilich auch niemand, uns den Zutritt zu wehren, und so halfen wir uns denn schließlich selbst, öffneten die nur angelegte Tür und stiegen, an einer mit Silber und Schildpatt ausgelegten alten Fluruhr vorbei, die breite, flachstufige Treppe hinauf, deren schöngeschnitztes und noch wohlerhaltenes Geländer uns auf den Reichtum hinwies, der dies alles einst ins Leben gerufen. Auf den Reichtum und den guten Geschmack.
Und nun waren wir oben und gingen von Zimmer zu Zimmer. Alle standen auf, und in jedem einzelnen erkannten wir immer wieder dasselbe Durcheinander von Glanz und Verfall, das uns schon unten im Erdgeschoß entgegengetreten war. Überall Deckenbilder und Holzgetäfel, Supraporten und Ledertapeten, aber dazwischen Spinnweb und abgefallener Kalk oder im unausgesetzten Sonnenbrand trüb und buntglasig gewordene Fensterscheiben, aufgerissene Dielen und durchgeregnete Stellen an Fries und Decke. Ganz zuletzt erst kamen wir in einen großen saalartigen Raum, durch den die Drähte verschiedener Klingelzüge gezogen waren, aber die Drähte hatten ihre Spannung verloren und hingen entweder schlaff und schräg an der Wand hin oder lagen einfach am Fußboden entlang. Einige Neugierige, die hier vor uns ihren Besuch gemacht haben mochten, hatten sich drin verfitzt und auf die Weise das Bild der Unordnung und Wirrnis nur noch gesteigert. In ebendiesem Saale lag auch eine tote Schwalbe, die mutmaßlich durch den Rauchfang gekommen war und den Ausgang nicht hatte finden können.
Ich fragte, wer das alles gebaut und bewohnt habe? Der Freund aber zuckte nur mit den Achseln und setzte zu vorläufigem Troste hinzu: »Vielleicht, daß wir’s unten von den Wänden lesen.«
Und damit stiegen wir wieder treppab und gingen ein paar lange Korridore hinunter auf einen entfernteren Schloßflügel zu, darin sich die Schloßkapelle befinden sollte. Hier aber, während im oberen Stock alles aufgestanden hatte, fanden wir die Türe sorglich geschlossen und mußten, im Fall uns wirklich an einem Einblicke lag, einen Meier oder Verwalter oder sonstigen Majordomus von Schloß Hoppenrade zu finden suchen. Und wir fanden ihn auch in Gestalt eines auf einer Parkwiese mit Grasmähen beschäftigten Tagelöhners, der sich schließlich, nach einigem Parlamentieren, mit jener dem Märker eigentümlichen Mischung von Geneigtheit und Abgeneigtheit bestimmen ließ, uns ins Schloß zu folgen und die Kapellentür aufzuschließen.
Die Kapelle selbst hatte den Umfang und fast auch das Ansehen eines Rokokosaales. Pfeiler und Decke waren weiß und golden und reiche Stuckornamente dazwischen. Unmittelbar über dem Altar befand sich die Kanzel, was auf Calvinismus deutete, sonst aber erschien alles katholisch, und zwar katholisch im zopfigsten Jesuitenstil, am meisten ein paar schrankartige, schräg ins Eck gebaute Chorstühle, die mit ihrem Gitterwerk und einem dahinter angebrachten Sitzplatze genau wie Beichtstühle wirkten. Ein elfenbeinernes, anscheinend italienisches Kruzifix steigerte noch diesen Eindruck, und wenn nicht das Kruzifix selbst, so doch der Ebenholzkasten, auf dem es stand, in dem nach Reliquienart ein Stückchen Seidenzeug lag mit einem Pergamentstreifen daran und der Inschrift: De vestimento Mariae. Dicht hinter dem Kruzifixe mündete von oben her der konsolartige Kanzelfuß und an ebendieser Stelle war auch ein Doppelwappen angebracht, eines davon das Bredowsche. Sonst fand sich nichts, was ein Interesse hätte wecken können, ausgenommen ein Deckenbild in der Sakristei, das zu dem Calvinistischen und jesuitisch Katholischen auch noch etwas Freimaurerisches hinzufügen zu wollen schien: ein Weltgott trug Zepter und Krone, dazu Sonn und Mond auf der Brust und Löw und Skorpion auf dem Gürtel; ein Engel aber kniete vor ihm und opferte dem Gott ein brennendes Herz. Alles rätselhaft. Auch dies Bild.
Als wir aus der Kapelle heraus und wieder draußen im Freien waren, überflog ich noch einmal, was ich drinnen gesehen. Ja, was war es? Ich hatte nichts erkannt als das Bredowsche Wappen, und unser Cicerone bestätigte denn auch, daß Hoppenrade Bredowsch und später erst ein Frau von Arnstedtscher Besitz gewesen sei. Das war etwas, aber doch nicht genug; es verlangte mich, mehr zu wissen, und als ich unerbittlich in den unter Verhör Genommenen eindrang, entschloß er sich endlich kurz und resolvierte sich dahin: »Joa, denn helpt dat nich, denn möten wi to de Oll-Stägemannsch goahn, de weet allens. Un wat de annern weeten, dat weeten se ook man vunn ehr.«
Ich sog jedes dieser Worte begierig ein, und ehe zwei Minuten um waren, schritten wir schon über ein zwischen Schloß und Dorf eingeschobenes Stück Wiesenland auf ein niedriges und dicht von Kürbis umwachsenes Haus zu, darin das alte Mütterchen und mit ihr die Dorftradition wohnen sollte. Wir fanden sie nicht gleich, das Häuschen war leer, im Garten aber kniete sie vor einem Beet und sammelte kleine rotschalige Zwiebeln in ein neben ihr stehendes Metzmaß.
Als sie verständigt worden war, um was wir gekommen, erhob sie sich zu Gruß und freundlicher Anrede. Sie war überhaupt sehr artig, sprach Hochdeutsch, in das sich nur dann und wann ein paar plattdeutsche Wörter einmischten, und wollt uns durchaus in ihre Stube führen. Aber wir baten sie zu bleiben, was sie zuletzt auch annahm und nur auf einen Backtrog zeigte, der umgestülpt unter ein paar Zwetschenbäumen lag. Auf diesem Troge nahmen wir Platz, und kaum daß ich mich zurechtgerückt hatte, begann ich auch schon mit allerhand Fragen wegen der Bredows. Als ich aber merkte, daß sie von dem allem nicht viel oder eigentlich so gut wie nichts wußte, weil es vor ihrer Zeit gewesen war, so ließ ich die Bredows fallen und leitete das Gespräch auf die Frau von Arnstedt hinüber, »die müsse sie doch noch gekannt haben«.
»Ob ich die gekannt habe! Solange ich denken kann. Ich war ja schon drüben, als das älteste Fräulein geboren wurde, das Rosalchen, die nachher den Wülknitz heiratete, den Kammergerichtsrat der bis voriges Jahr unsere Herrschaft war. Ach, das war eine himmlisch gute Frau, die hatte den lieben Gott im Herzen und unsern Herrn Christus auch. Und das Fräulein Clara, die ja nu wieder die Tochter von der Frau von Wülknitz war…«
»Aber liebe Frau Stägemann. Sie wollten mir ja von der Frau von Arnstedt erzählen.«
»Richtig, von der Frau von Arnstedt, von unsrer ersten gnädigen Frau. Nu, die war ja schon ein Erbkind, als sie noch kaum geboren war, und erbte denn auch das große Krautenerbe, das von Vater und Vaterschwester herkam. Und weil es jeder gern haben wollte, nämlich das Krautenerbe, so nannten sie sie die Krautentochter. Und so hat sie geheißen bis an ihr seliges Ende. Denn das wird sie doch wohl gehabt haben. Aber all das, ich meine das mit der Erbschaft, das war lange vor meiner Zeit, und als ich aufs Schloß kam, da war sie ja schon die Frau von Arnstedt und eine sehr schöne Frau, so Mitte Dreißig, und immer drüben in Rheinsberg. Und hatte damals drei Kinder. Das heißt drei Kinder von ihrem dritten Mann. Denn sie war schon zweimal vorher verheiratet gewesen, erst mit Elliot und dann mit Knyphausen.«
»Und dann erst mit Arnstedt?«
»Wohl, dann erst mit Arnstedt. Das war der dritte, der Rittmeister. Und als sie noch mit Elliot verheiratet war, da war ja das Duell.«
»Das Duell?«
»Ja, das Duell, weil sie den Englischen nicht leiden konnte. Und warum nicht? Weil er ihr zu englisch und auch zu eifersüchtig war, worin er aber wohl recht hatte. Denn sie schrieb sich immer Briefe mit Knyphausen, und drüben im Park ist noch der Baum, in den sie die Liebeszettel immer hineinlegten. Aber Elliot erfuhr es, und als er einen Brief las, in dem alles drin stand, da schossen sie sich, und Elliot kriegte was weg, aber nicht viel, bloß einen Streifschuß. Und dann ging er in die weite Welt.«
»Und ist auch nie wiedergekommen?«
»O doch. Aber bloß ein einzig Mal, als er die kleine Miß abholen und mit nach England nehmen wollte. Das heißt heimlich und listig und mit Gewalt. Oh, wie hab ich dem lieben Gott immer gedankt, daß ich damals noch nicht Kindermuhme war, ich hätte den Tod gehabt, wenn ich so was erlebt hätte. Denn wie kam er denn? In einer feinen Kutsche kam er und bei hellem lichten Tag, aber er fuhr nicht vor und nicht auf die Rampe, sondern bloß immer um den Park herum. Und als er an die Stelle kam, wo das Kind spielte, denn er mußte wohl seine Kundschafter gehabt haben, da sprang er mit eins heraus und nahm das Kind und das Spielzeug und die große Puppe, die grad auf der Wiese lag, und wie der Blitz wieder in seine Kutsche hinein und heidi vorwärts über den Sturzacker und die Stoppelfelder, immer gradaus bis England.«
Ich tat noch allerlei Fragen, alles indessen, was sie mir antwortete, war eigentlich nur Wiederholung. Es zeigte sich deutlich, daß die Geschichte von dem Briefwechsel und dem Duell und mehr noch die Geschichte von der Entführung der kleinen Miß Elliot einen Eindruck auf sie gemacht hatte; der Rest aber war vergessen oder blieb im Dunkel.
Eine Stunde später schied ich von Hoppenrade, fest entschlossen, das Dunkel nach Möglichkeit zu lichten. Aber es wollte nicht glücken. Die Memoiren aus jener Zeit, soweit sie mir damals bekannt oder zugänglich waren, ließen mich im Stich, und die Rheinsberger Gegend, in der im allgemeinen die Prinz-Heinrich-Traditionen immer noch frisch und lebendig sind, gewährte mir fast noch weniger als die Prinz-Heinrich-Literatur.
Ich gab es schließlich auf und hatte meinen ersten Besuch in Hoppenrade fast schon vergessen, als ein glücklicher Zufall mich erfahren ließ, daß auf einem alten Knyphausenschloß, und zwar auf Schloß Lützburg in Ostfriesland, eine Familienchronik existiere, darin sich in bezug auf Elliot und Knyphausen alles finde, was ich nur irgendwie wünschen könne. Die Reise dahin schob sich jedoch abermals hinaus, bis ich schließlich für alles Warten und alle Mühe reichlich belohnt wurde.
Was ich in folgendem gebe, besonders in den mittleren Kapiteln, ist zu wesentlichem Teile der erwähnten Lützburger Chronik entnommen. Andres stammt aus Briefen und Prozeßakten, noch andres aus den mir erst neuerdings zu Händen gekommenen Thiébaultschen »Souvenirs«. Auch in Hoppenrade selbst hab ich noch allerlei kleine Züge für diesen Aufsatz und seine Heldin einzusammeln vermocht.
Soviel zur Einleitung.
Ich beginne nunmehr damit, über das bisher nur andeutungsweis Gesagte hinaus, in nachstehendem festzustellen, wer die Krautentochter und was das Krautenerbe war.
2. Kapitel
Wer war die Krautentochter? Und was war das Krautenerbe?
Es ist also von der Krautentochter und dem Krautenerbe, das ich in nachstehendem erzählen will. Aber das Krautenerbe (der wahre Nibelungenhort in dieser Geschichte) war eher da, weshalb ich mit ihm beginne.
Was war das Krautenerbe?
Das Krautenerbe, das eigentlich ein Bredowerbe war, umfaßte das in der Südostecke des jetzigen Kreises Ruppin gelegene, mit einzelnen Begüterungen auch in den uckermärkischen Kreis Templin übergreifende »Land Löwenberg«.
Dies aus drei Hauptteilen, aus dem eigentlichen Löwenberg, aus Liebenberg und drittens und letztens aus Hoppenrade bestehende »Land Löwenberg« gehörte seinerzeit den Bischöfen von Brandenburg und wurde von einem derselben, unter gleichzeitiger Ausstellung einer Belehnungsurkunde, dem Hans von Bredow aus der Friesacker Linie verkauft.
Das war 1460.
Von dieser Zeit an (1460) war das Land Löwenberg etwa hundertundfunfzig Jahre lang in unausgesetztem Besitze der Bredows. Sie gingen bei den Bischöfen von Brandenburg und später, nach der Säkularisation, bei dem Landesherrn zu Lehn.
Erst im 17. Jahrhundert änderten sich diese. Verhältnisse. Kurz vor dem Dreißigjährigen Kriege kam das eigentliche Löwenberg und kurz nach demselben auch Liebenberg in fremde Hände, so daß, von etwa 1652 ab, die Bredows an ebendieser Stelle nichts anderes mehr besaßen als den verhältnismäßig kleinen Anteil Hoppenrade.
So verblieben die Dinge geraume Zeit, bis der Abschluß einer reichen Heirat einen plötzlichen Wandel zum Guten und fast bis zur Wiederherstellung ehemaligen Glanzes schaffte. Dies war 1715. In diesem Jahre vermählte sich Joachim Heinrich von Bredow, Dompropst zu Havelberg, Erb- und Lehnsherr auf Hoppenrade, mit Constanze Amalie Sophie von Kraut, Tochter des Geheimen Finanzrats und Nichte des Ministers von Kraut, und gelangte dadurch in den Besitz eines so bedeutenden Vermögens, daß der Rückkauf des eigentlichen Löwenberg, das stets den Hauptteil des sogenannten »Landes Löwenberg« ausgemacht hatte, stattfinden konnte.
Von diesem Zeitpunkt (1724) an war »Land Löwenberg« – mit alleiniger Ausnahme der ein für allemal abgetrennten Liebenberger Anteile – wieder in Bredowschen Händen, und nur in einem wichtigen Punkte hatten sich die Verhältnisse geändert: aus dem großen Löwenberger Anteil, i. e. Loewenberg proprium, war, infolge der Verkaufs- und Rückkaufsprozeduren, ein seiner ehemaligen Lehnsguts-Eigenschaften entkleideter Besitz geworden, aus welcher immerhin wichtigen Umwandlung das resultierte, daß das gesamte »Land Löwenberg« nunmehr einen gemischten, juristisch und erbrechtlich ungleichen Güterkomplex darstellte, dessen kleinerer Teil, Hoppenrade, Lehnsgut geblieben, dessen größerer Teil aber, das eigentliche Löwenberg, Allod oder ein frei verfügbarer Besitz geworden war. Aus dieser, allem Anscheine nach, damals als gleichgiltig oder wenigstens unwichtig angesehenen erbrechtlichen Verschiedenheit ergaben sich, wie wir im weitren ersehen werden, arge Verwicklungen, in betreff deren freilich anerkannt werden muß, daß sie vielleicht ausgeblieben wären, wenn die Verhältnisse dem gesamten »Löwenberger Land« oder, was dasselbe sagen will, dem großen Bredowerbe gestattet hätten, ein Bredowerbe zu bleiben. Die Verhältnisse führten aber umgekehrt zu dem Versuche (der denn auch glückte), das Bredowerbe durch Testamentsbeschluß in ein Krautenerbe zu verwandeln.
Uns aber erübrigt es nunmehr, in nachstehendem zu zeigen, worin die direkte Veranlassung zu solcher Umwandlung lag.
Die Veranlassung dazu lag in einem häuslichen Unglück, von dem sich das dompröpstlich Bredowsche Paar, nachdem demselben zwei Söhne geboren worden waren, betroffen sah. Beide Söhne wurden geisteskrank, und als sich nach längerer Zeit ihre Geisteskrankheit als unheilbar herausstellte, war für die Dompröpstin von B., geborene von Kraut, die Notwendigkeit gegeben, über das Erbe, das von ihren zwei Söhnen nicht angetreten werden konnte, zugunsten anderer Personen zu verfügen. Dies geschah denn auch in einem Testamente vom Jahre 1745. In ebendiesem Schriftstücke setzte sie fest, daß nach ihrem, übrigens unmittelbar danach tatsächlich erfolgenden Ableben
1) die Verwaltung der Gesamtgüter an eine Vormundschaft überzugehen und
2) ebendiese Vormundschaft für das leibliche Wohlergehen ihrer unglücklichen Söhne Sorge zu tragen habe. Nach dem Hinscheiden derselben aber solle
3) das Gesamterbe, weil es von Krautengeld erstanden sei, nicht an die Bredowfamilie, sondern an die Krautenfamilie fallen.
Und hiernach wurde denn auch in allen Stücken verfahren und nach erfolgtem Tode der Testierenden eine Vormundschaft eingesetzt, die sich nicht nur die Verwaltung der Güter, sondern, wie vorgeschrieben, auch die leibliche Pflege der beiden überlebenden Söhne der Dompröpstin angelegen sein ließ. Als am 3. August 1788 auch der letzte dieser beiden Söhne, der in seiner Jugend als ein durch Leibes- und Geistesgaben ausgezeichneter Offizier im Regiment der Leibcarabiniers gestanden, aus dieser Zeitlichkeit geschieden war, war nunmehr der Moment da, wo das Gesamterbe, dem Testamente gemäß, an die Krautenfamilie fallen mußte. Dem Testament, aber nicht dem Rechte gemäß. Die Dompröpstin, unausreichend oder übel beraten, hatte das Lehngut Hoppenrade, das seit 1460 unausgesetzt ein Bredowsches Eigentum gewesen und durch Krautengeld nicht erst rückerworben war, irrtümlicherweise mit wegtestiert und dadurch das Lehnserbrecht der Bredowschen Familie verletzt, die denn auch mit ihrem Protest dagegen nicht säumte.
Soviel zunächst über das Krautenerbe. Sie aber, der dies Erbe zufiel, war die Krauten tochter, und im Hinblick auf diese stellen wir nunmehr die zweite Frage:
Wer war die Krautentochter?
Wer war die Krautentochter? Sie war die Erbnichte der in vorstehendem oft genannten Dompröpstin von Bredow, geborene von Kraut, zugleich Heldin unserer Geschichte, das einzige Kind des Obersten und Baron von Kraut, Hofmarschalls am Hofe des Prinzen Heinrich von Preußen.
Über ihn, diesen Hofmarschall von Kraut, zunächst ein Wort.
Carl Friedrich von Kraut wurde 1703 als der Sohn des Geheimen Kriegsrats von Kraut (Bruder des Ministers von Kraut) in Berlin geboren. Als er 1723, nach Ableben von Vater und Oheim, ein sehr bedeutendes Vermögen ererbt hatte – die zweite Hälfte desselben fiel an seine Schwester, die Dompröpstin –, ging er, zwanzig Jahre alt, nach Paris, um in der französischen Armee Dienste zu nehmen, in der er sich alsbald auch hervortat und zum Obersten aufstieg. Näheres über diesen französischen Waffendienst hab ich nicht in Erfahrung bringen können, auch nicht, wie lange derselbe dauerte. Keinenfalls indes wird er über das Todesjahr seiner Schwester hinaus ausgedehnt worden sein, in welchem Jahre (1745) ihn ebendiese Schwester nicht nur zum Vormund über ihre beiden geisteskranken Söhne, sondern auch zum ersten Kurator über das große Bredow- beziehungsweise Krautenerbe bestellte. Dieser seiner Aufgabe sich unterziehend, begegnen wir seinem Namen von 1746 an bis an seinen Tod in den Rechnungs- und Kirchenbüchern des Landes Löwenberg. Er zeigte sich übrigens gleichzeitig beflissen, bei seiner Rückkehr nach Preußen auch in den Staatsdienst oder wenigstens in eine Hofstellung einzutreten, und wurde zu nicht genau zu bestimmender Zeit Hofmarschall am Prinz Heinrichschen Hofe. Wahrscheinlich um das Jahr 50. 1754 finden wir ihn als Taufpaten im Liebenberger Kirchenbuch, und ungefähr um dieselbe Zeit war es, daß er am Hofe der Königinmutter die Bekanntschaft des schönen Fräuleins Else Sophie von Platen machte, mit der er sich bald danach vermählte. Während des zwei Jahre später ausbrechenden Krieges verblieb er nicht bloß in seinem Hofmarschallamte, sondern auch in steter Umgebung der ebenso schönen wie liebenswürdigen Prinzessin Heinrich, gebornen Prinzeß von Hessen-Kassel, die damals noch in keinem Zerwürfnis mit dem Prinzen, ihrem Gemahl, lebte, vielmehr als »La belle fée«, »La Divine«, »L’incomparable« etc. die gefeierteste Dame des Hofes war.
Auch 1760 befand sich von Kraut in unmittelbarer Umgebung der Prinzessin und begleitete dieselbe nach Magdeburg, wohin sich um ebendiese Zeit alles, was zum Hofe gehörte, flüchtete, weil das Vorrücken der Russen und Österreicher ein Verbleiben in der Hauptstadt als mindestens unrätlich erscheinen ließ. In den Tagebuchblättern der Gräfin von Voß, geborene von Pannwitz, begegnen wir vielfach Aufzeichnungen aus jener Magdeburger Zeit, in denen neben anderem auch unseres Hofmarschalls Erwähnung geschieht. Ich gebe die betreffenden Stellen.
»1. September 1760. Ich schrieb heute nach Berlin, aß bei Frau von Kraut, spielte nach Tisch Komet mit dem Prinzen von Usingen, Baron Müller und Kraut und fuhr um fünf nach Hause.
11. September. Als ich frisiert und angezogen war, ging ich zur Prinzessin. Zu Tische war ich bei der Kraut, deren Geburtstag wir feierten. Auch die Knesebeck, Prinz Usingen und Oberst Lilienberg waren zugegen. Alles war in heiterer und übermütiger Laune, und nach dem Kaffee wurde wie immer Karte gespielt.
12. September. Am Abend zunächst in die Assemblé beim Grafen Lamberg, wo ich mit Kraut und dem Prinzen von Nassau eine Partie machte. Von Lamberg aus (wo es sehr voll war) fuhr ich mit Kraut an den Hof. Die Königin war sehr verstimmt. Sie schalt über die großen Aufmerksamkeiten, welche man hier den gefangenen Ausländern erweise.
11. Oktober. Am Abend war ich bei der ›Belle Fée‹, die sehr böse auf Kraut war und ganz mit Recht, denn er hat in den Vorzimmern der Prinzessin aus Sparsamkeit Talglichter anstatt der Wachskerzen brennen wollen.
14. Oktober. Ich ging an den Hof und spielte Komet mit dem Prinzen von Preußen und der Belle Fée. Man erzählte, daß die Prinzessin Amalie zu Mittag bei der Prinzessin Heinrich angekommen sei und sich und ihr das Diner mitgebracht habe, um dem Hofmarschall Kraut einen Streich zu spielen, der zwei Speisen von dem bisherigen Küchenzettel der Prinzessin gestrichen hatte.
22. Februar 1761. Am Nachmittage hatten wir noch eine letzte Probe des Schäferspiels, und um sechs Uhr ging Kraut hinunter und bat die Prinzessin, die Treppe heraufzukommen. In dem Moment, als sie eintrat, ging auch schon der Vorhang auf, und der Chor fing an zu singen…«
Aus diesen wenigen Tagebuchstellen ergibt sich nicht bloß ein Zeit- und Lebensbild, sondern zugleich auch eine Charakteristik unseres Hofmarschalls. Und nicht zu seinen Ungunsten. Er hatte das Einsehen von einer gerade damals von allen Seiten her hereinbrechenden äußersten Gefahr und empfand sehr richtig, daß in Tagen, in denen der König schrieb: »Es gibt freilich Leute, die sich allen Schickungen unterwerfen, ich aber werd es nicht; ich habe für andere gelebt, für mich will ich sterben«, ich sage, der Hofmarschall empfand sehr richtig, daß in solchen Tagen eine kleine Prinzessin allenfalls auch ohne Wachslichter im Vorzimmer und mit zwei Gerichten weniger auskommen konnte.
Die vorgeschilderten Magdeburger Tage verlängerten sich bis in den Spätherbst 61. Erst im November oder Dezember obengenannten Jahres kehrte die Königin mit allem, was zum Hofe gehörte, nach Berlin zurück, allwo denn auch wenige Wochen später, und zwar am 24. Januar 1762, dem Hofmarschall von K. eine Tochter geboren wurde: Luise Charlotte Henriette von Kraut, unsere Krautentochter.
Über die folgenden fünf Jahre, soweit der Hofmarschall in Betracht kommt, schweigen alle Memoiren und Briefe. Das nächste, was wir von ihm erfahren, erfahren wir aus dem Löwenberger Kirchenbuche, woselbst es unterm 23. Dezember 1767 heißt: »Am heutigen Tage beschloß sein ruhmreiches Leben zu Berlin abends sieben Uhr der weiland hochwohlgeborene Herr, Herr Carl Friedrich Freiherr von Kraut, Hofmarschall im Hofstaate seiner Königlichen Majestät des Prinzen Heinrich und Vormund der beiden geisteskranken Herren von Bredow zu Löwenberg. Er war der Mutter-Bruder dieser beiden von Bredows, ein Herr der edelsten Gemütsart, der vielen Menschen in der Welt, zum Teil durch schwere Kosten, zu zeitlichen Ehrenstellen verholfen und ihr irdisch Glück befördert hat. Er zeigete sich gegen alle Mitmenschen als ein Menschenfreund und war allen, ohne jede Nebenabsicht des Eigennutzes, willfährig und gefällig. Hiervon zeugete insonderheit seine Fürsorge für die Kranken. Er pflegte zur Sommerzeit, wenn er sich auf seinen Gütern aufhielt, eine Menge von Medikamenten aus Berlin mitzubringen. Und wenn sich Kranke bei ihm meldeten und er ihren Zustand erkundet hatte, gab er ihnen die Medikamente, von woher die Kranken auch sein mochten. Am vierten Tage nach seinem Hinscheiden, am 27. Dezember abends, sind die erblaßten Gebeine des wohlseligen Herrn Hofmarschalls in dem Freiherrlich von Krautschen Erbbegräbnis in der Nikolaikirche zu Berlin beigesetzt worden. Und nachdem dieser Todesfall auf die beweglichste Art der Gemeinde zu Löwenberg am 1. Januar 1768 zur Kenntnis gebracht worden ist, ist darüber zwei Wochen lang auf allen von Bredowschen Gütern geläutet worden. Er hinterläßt eine über seinen Tod betrübte Frau Witwe aus dem hochadligen von Platenschen Geschlecht und eine trotz ihrer frühen Jahre schon hoffnungsvolle Tochter.«
3. Kapitel
Wie die Mutter der Krautentochter ihre Tochter erzog und wer diese Mutter war
Die Krautentochter war erst fünf Jahre alt, als der Vater starb. Die Erziehung lag also bei der Mutter.
Wer war nun diese Mutter? Und wie war sie? Wir antworten darauf, eh wir uns der Frage nach der Erziehung der Tochter zuwenden.
Else Sophie von Platen kam 1748 an den Hof der Königinmutter. Sie mochte damals achtzehn Jahre alt sein. In dem Tagebuch der Gräfin von Voß geschieht auch ihrer Erwähnung: »An die Stelle des Fräulein von Bredow«, so heißt es darin, »die sich mit einem Herrn von Schwerin verheiratete, trat Fräulein von Platen, ein wunderhübsches Mädchen, das aber wenig Geist und eine sehr melancholische Gemütsart besaß.« In diesen wenigen Zeilen wird die junge Dame, die spätre Hofmarschallin von Kraut, sehr wahrscheinlich am zutreffendsten gezeichnet sein. Alles andre, was an Aussprüchen über sie vorliegt, geht nach der einen oder andren Seite hin ins Extrem und widerspricht sich untereinander. Es scheint, daß sie, von einzelnen objektiv urteilenden Personen (wie die Gräfin Voß) abgesehen, nur leidenschaftliche Verehrer und leidenschaftliche Feinde hatte. Zu den ersteren gehörte Thiébault, in dessen immerhin schätzenswertem Werke »Mes Souvenirs de vingt ans de séjour à Berlin« auch der Hofmarschallin von Kraut (die bald nach dem Ableben ihres ersten Gatten den holländischen Gesandten de Verelst heiratete, bald indes abermals Witwe wurde) an verschiedenen Stellen Erwähnung geschieht. »Unter den Damen«, so heißt es in dem eben genannten Buche, »die Prinz Heinrich auszuzeichnen pflegte, befand sich auch eine Madame de Verelst, zuletzt Witwe des holländischen Gesandten. Es wurd ihr von seiten Monseigneurs, außer einer an Aufmerksamkeiten reichen Freundschaft, auch ein ganz besonderes Vertrauen bewiesen, was dahin führte, daß sie die Sommermonate beinahe regelmäßig in Rheinsberg zubrachte. Sie war aufrichtig, ernst und überlegend und dabei von einer so durchaus honetten Gesinnung, daß niemand begriff, was sie vordem hatte bestimmen können, einem so langweiligen und übellaunigen Menschen wie dem Baron von Kraut, ihrem ersten Manne, die Hand zu reichen.«
In vollem Gegensatze dazu steht alles, was ihr späterer Schwiegersohn, Baron Knyphausen, über sie sagt. Ihm zufolge war sie nicht bloß »une femme vaine, bornée et détestable«, sondern rundheraus »un monstre«, und nur darin einigen sich beider Urteile, daß sie gut zu repräsentieren verstand, Reste früherer Schönheit aufwies und über den freien und sicheren und, wenn ihr daran lag, auch über den hohen Ton der Gesellschaft eine vollkommene Verfügung hatte.
Une femme adroite nach Thiébault, une femme détestable nach Knyphausen, das war die Frau, der jetzt die Sorge der Erziehung ihrer Tochter oblag, eine Frau, der es unter allen Umständen an der Fähigkeit gebrach, ihrem Kinde mehr zu geben als eine den Rheinsberger Verhältnissen angepaßte Tournüre. Worauf es in ihren Augen ankam, das war, vor »Monseigneur« erscheinen und in der großen Welt ein »sort« machen zu können. Dazu gehörte nicht mehr als eine Kammerjungfer aus dem gelobten Lande Frankreich und ein Tanz- und Sprachmeister von ebendaher. Auch verlautet an keiner Stelle, daß etwas darüber Hinausliegendes jemals ernsthaft gepflegt worden wäre. Das Ernsthafte galt für langweilig und pedantisch und war Sache gewöhnlicher Leute. Freilich, man mußte die »Phèdre« kennen und die »Médée« und die »Mérope«, aber doch auch nur, um ein Zitat des Prinzen verstehen und allenfalls erwidern zu können. Alles hatte nur so viel Wert und Bedeutung, als der Hof gut fand, ihm zuzumessen. In Gunst stehen, reich sein und Einfluß haben war das einzige, das zu leben lohnte. Und wenn es überhaupt Pflichten gab, so war doch erste Pflicht jedenfalls die, von der Sorge kleiner Leute nichts zu wissen und einem Prinzen zu gefallen.
4. Kapitel
Die Krautentochter wird Frau von Elliot
In diesem Geiste ging denn auch der Gang der Erziehung, und es glückte damit so vollkommen, daß schon einige Monate vor der Einsegnung an Charlottens (der Krautentochter) Verheiratung gedacht werden konnte. Die Jugend derselben war kein Hindernis, war doch ihres Vaters Schwester, als sie dem Dompropsten die Hand reichte, nur um ein halbes Jahr älter gewesen. Und überhaupt, war es denn nötig, alt und weise zu sein, um zu heiraten? Gewiß nicht.
Also Charlotte sollte heiraten.
Aber wen?
Das Auge der Mutter richtete sich vor allem auf einen Gesandten. Ein solcher empfahl sich doppelt, einmal, weil es unter allen Umständen eine vornehme Partie war, und zweitens und hauptsächlichst, weil ein Gesandter eine gewisse Garantie bot, über kurz oder lang abberufen und an einem vielleicht weit entfernten Hofe beglaubigt zu werden. Trat dieser Fall ein, so lag ihr, der Mutter, ob, in der Heimat nach dem Rechten zu sehen, sie war dann Herrin aller Güter, viel, viel mehr als die Tochter, die sich mit beliebigen Erklärungen abfinden lassen mußte. Diesem Kalkül entsprach es, daß ihr unter allen Gesandten die britischen am begehrenswertesten erschienen. Ein britischer Ambassadeur war sogar in der Möglichkeit, über das bloß Gesandtschaftliche hinaus, als ost- oder westindischer Gouverneur und Vizekönig seine Tage ruhmvoll beschließen zu dürfen. Und Ost- oder Westindien, welches Ideal von Entfernung!
In der Tat, es war ein Engländer, und zwar der als Nachfolger von Sir John Mitchell am Berliner Hofe beglaubigte Mr. James Harris (später Lord Malmesbury), auf den sich das Auge der Madame de Verelst richtete, bevor ihre Tochter Charlotte noch das fünfzehnte Lebensjahr erreicht hatte. Das war ein Schwiegersohn nach ihrem Sinne! Aber James Harris verhielt sich durchaus ablehnend gegen alles Preußische. »Die Preußen«, so schrieb er gerade damals, »sind im allgemeinen arm, eitel, unwissend und ohne Grundsätze. Wären sie reich, so würde der Adel sich nie dazu verstanden haben, in Subalternstellen mit Eifer und Tapferkeit zu dienen. Ihre Eitelkeit zeigt sich darin, daß sie ihre eigene Größe in der ihres Monarchen erblicken, ihre Unwissenheit aber erstickt in ihnen jeden Begriff von Freiheit und Widerstand. Und was endlich ihren Mangel an Grundsätzen angeht, so macht sie dieser Mangel zu bereitwilligen Werkzeugen aller ihnen erteilten Befehle; sie überlegen gar nicht ob sie sich auf Gerechtigkeit gründen oder nicht!«
So Mr. Harris, der zum Überfluß auch noch eine speziell ungünstige Meinung in betreff der Madame de Verelst unterhielt. Er ridikülisierte sie, was natürlich alle Pläne von seiten der Dame rasch hinschwinden ließ und an die Stelle des Entgegenkommens jene hautaine Miene setzte, auf die sie sich so gut verstand.
Aber in ihren Grundanschauungen von dem, was wünschenswert sei, war durch diesen Mißerfolg nichts geändert worden, und als einige Monate später James Harris abberufen und Hugh Elliot an seine Stelle gekommen war, nahm sie dasselbe Spiel wieder auf.
Und diesmal mit besserem Erfolg. Zu Beginn des Jahres 78 war die nunmehr sechzehnjährige Charlotte bereits Gemahlin Hugh Elliots, über den, zu besserem Verständnis dessen, was sich später ereignete, hier schon das Folgende stehen mag.
Hugh Elliot, als er nach Berlin kam, war noch sehr jung und von noch jugendlicherem Ansehen. Er hatte nichts von dem Ruhigen, Gesetzten, Distinguierten, das eine Gesandtschaftsstellung erheischt, wirkte vielmehr in seiner Bartlosigkeit und halb knabenhaften Figur absolut unfertig und nicht viel besser als ein von einer steten Unruhe geplagter Springinsfeld. Ungeachtet dessen war er in den Hof- und Gesandtschaftskreisen beliebt, galt für amüsant (war es auch) und erfreute sich ganz besonders einer gewissen Vorliebe von seiten des Prinzen Heinrich. Am Hofe dieses war es denn auch, wo Thiébault ihn kennenlernte. »Geistreich und von delikater Struktur (delié), sehr lebhaft und liebenswürdig«, das sind die Worte, die die »Souvenirs« für ihn haben. »Und dabei durch und durch Original, denn man ist nicht Engländer ohne das«, setzt ihr Verfasser in guter Laune hinzu. Zu gleicher Zeit erzählt er ein paar Anekdoten, die mir sehr geeignet scheinen, ihn in seinen Vorzügen wie seinen Schwächen zu charakterisieren, weshalb ich dieselben hier wiedergebe.
Eines Tages beim russischen Gesandten entstand ein erregter Streit, ob England oder Frankreich den größeren dramatischen Dichter hervorgebracht habe. Thiébault schwärmte für Racine, Elliot für Shakespeare. Thiébault operierte dabei viel mit »plus sublime«, worauf ihm Elliot erwiderte: »gerade das ›plus sublime‹ sei das, was er für Shakespeare beanspruche. Denn den Eindruck des Sublimen habe man immer nur da, wo sich der Gegensatz von hoch und niedrig, von Erhabenheit und Alltäglichkeit fühlbar mache, während überall da, wo sich ein gleichmäßiges Plateau zeige (wenn auch Hochplateau), von einem Eindruck des Erhabenen nie die Rede sein könne. Und so käm es denn, daß die ›Niedrigkeiten‹ , die seinem englischen Dichter mit Recht vorgeworfen würden, eigentlich nur dazu dienten, die Größe desselben um so deutlicher erkennen zu lassen.«
Um ebendiese Zeit war es auch, daß Elliot einer Steinoperation halber nach Paris mußte. Man sah diese Reise, weil sich die französische Regierung kurz vorher zugunsten der amerikanischen Kolonien, will also sagen gegen England, entschieden hatte, ziemlich allgemein als ein Wagnis an, und auch die Königin äußerte sich in diesem Sinne. »Oh, Madame«, replizierte Elliot, »England und Frankreich sind seit lange zivilisierte Nationen.«
Es ging dies von Mund zu Mund, und die fremdländischen Gesandten, die, wie gewöhnlich, wenig Zärtlichkeit für Preußen übrig hatten, freuten sich der nonchalanten, echt englischen Dreistigkeit, in der Elliot überhaupt exzellierte. Freilich bedingte dieselbe Dreistigkeit und Nonchalance zuletzt auch seinen Sturz, und zwar war es dieselbe Frage der »amerikanischen Kolonien«, was bald danach zu seiner Abberufung vom preußischen Hofe führte.
»Seitens dieser Kolonien«, so berichtet Thiébault, »waren zwei Vertrauensmänner in Berlin eingetroffen, die mit Fug und Recht als amerikanische Geheimgesandte angesehen werden konnten. Es wurde selbstverständlich aus Courtoisie gegen England vermieden, sie als Gesandte zu begrüßen, aber im stillen wußte jeder, was sie nach Berlin und Sanssouci geführt hatte. Wenigstens Elliot wußt es. Er wollte jedoch positive Gewißheit haben und leitete deshalb ein ziemlich gefährliches Spiel ein, das er sich nur im Hinblick auf die hinter ihm stehende Macht Englands erlauben durfte. Voll Bonhomie zog er die beiden Amerikaner, als »Landsleute von älterem Datum«, in seinen intimeren Umgangskreis und überschüttete sie mit kleinen gesellschaftlichen Auszeichnungen. Eines Abends, nach vorher eingenommenem gemeinschaftlichen Diner, fuhr er mit ihnen in die Oper. Als sie jedoch zu später Stunde in ihre Wohnung zurückkehrten, fanden sie die Tür erbrochen und eine Kassette geraubt. Es zweifelte niemand, auf wessen Geheiß dies geschehen; aber Elliot ging weiter und ließ ihnen am anderen Tage, wenn auch ohne direkte Namensnennung, die Kassette wieder zustellen, aus der nichts herausgenommen war als die die beiden Abgesandten einigermaßen kompromittierenden Papiere. Jeder war neugierig, wie der Affront geahndet werden würde, doch blieb anscheinend alles ruhig, bis plötzlich, als man eben die Sache zu vergessen anfing, Elliots Abberufung erfolgte. Der König hatte bei der englischen Regierung, unter Darlegung des Sachverhalts, auf seine Zurückberufung gedrungen.
In diesen Zügen spricht sich Elliots Charakter aus, und ohne seinem Rivalen Knyphausen, der ihn abwechselnd als »ruhmredig, leichtfertig und unkonsequent« und zum Schluß einfach als »fou und furieux« bezeichnet, in all und jedem zustimmen zu wollen, erscheint doch so viel richtig, daß er mit jener gefährlichen Lebhaftigkeit des Geistes ausgestattet war, die beständig geneigt ist, in Willkür und Rücksichtslosigkeit überzugehen. In der Tat, er war nervös, launenhaft, exzentrisch und entbehrte ganz und gar der Möglichkeit, einer jungen, in Oberflächlichkeit und Eitelkeit erzogenen Frau das zu geben, was ihr fehlte. Nur eins wird ihm zuzugestehen sein: er liebte sie wirklich, soweit er einer wirklichen Liebe fähig war, und hatte seine Wahl aus Sinn und Herz und nicht aus allerhand Rücksichten getroffen, am allerwenigsten aber aus Rücksichten auf ein Erbe, das nach englischen Vorstellungen überhaupt nicht bedeutend und jedenfalls erst in Zukunft zu gewärtigen war.
Nach diesen Bemerkungen über Elliots Charakter, die nötig waren, um unsere Heldin in dem, was später geschah, nicht ungünstiger und zweifelhafter als nötig erscheinen zu lassen, nehme ich den Faden der Erzählung wieder auf und kehre zu der Ehe des jungen Paares zurück, die, das mindeste zu sagen, keine glückliche war.
5. Kapitel
Die Krautentochter (nunmehr Frau von Elliot) führt eine unglückliche Ehe
Nicht gleich anfangs zeigte sich der Bruch, ein Jahr nach der Vermählung wurd eine Tochter geboren, Elliot war glücklich, und vielleicht war es auch die junge Frau.
Aber es währte nicht lange. Sosehr Elliot seine Frau liebte, so war es doch eine tyrannisch-launenhafte Liebe, die Zuneigung eines Kindes, das heute mit der Puppe spielt, morgen sie schlägt und piekt und übermorgen sie aufschneidet, um zu sehen, wie’s drin aussieht und ob sie ein Herz hat. Es scheint indessen, daß die junge Frau diese Launen ertrug, bis das ridikül eifersüchtige, vor aller Welt sie bloßstellende Benehmen ihres Gatten ihr ein Zusammenleben mit ihm unerträglich machte.
Es war 1781 oder 82, als Elliot, der sich schon vorher in ähnlichen Phantastereien ergangen hatte, plötzlich auf den Einfall kam, seine Frau unterhalte ein Liebesverhältnis mit dem holländischen Gesandten. Der Name desselben wird nicht genannt. Gleichviel. Dieser Gesandte war nicht mehr jung und dachte nicht an Liebesabenteuer. Elliot indessen hatte sich’s in den Kopf gesetzt und wollte nur noch Gewißheit haben. Um diese sich zu verschaffen, begann er eines Tages nach dem Schlafengehen (er liebte mitternächtliche Konversationen), seiner Frau Mangel an Zärtlichkeit vorzuwerfen und ihr bei der Gelegenheit die Namen einer ganzen Anzahl von Personen zu nennen, für die sie sich unerklärlicherweise mehr interessiere als für ihn. Und zuletzt nannt er ihr auch den Namen des alten holländischen Gesandten. Sie nahm alles zunächst als einen Scherz, als er aber fortfuhr, sie mit den unziemlichsten und beleidigendsten Fragen zu quälen, riß ihr endlich der Faden der Geduld. »Ob ich ihn liebe? Jedenfalls lieb ich ihn mehr als dich, weil er mich weniger gequält hat als du.« Kaum daß diese Worte gesprochen waren, so sprang Elliot aus dem Bett und lief in nur halbvollendeter Toilette nach dem andern Ende der Stadt, um den holländischen Gesandten wecken zu lassen. Als dieser bestürzt erschien und die Mitteilung einer Nachricht von höchster politischer Dringlichkeit erwartete, fuhr Elliot auf ihn los: »Er unterhalte ein Verhältnis mit seiner Frau, was ihm diese vor einer halben Stunde selber gestanden habe. Die Sache müsse sofort geregelt werden, weshalb er hiermit anfrage, ob er seine Frau zu heiraten gedenke?« Der geängstigte Gesandte versicherte, »daß er Frau von Elliot überhaupt nur zweimal in seinem Leben gesprochen habe; was aber das Heiraten angehe, so steh es bei ihm fest, überhaupt nicht zu heiraten«. Elliot hörte dies mit Befriedigung, war aber weit entfernt dadurch beruhigt zu sein, drang vielmehr in den Gesandten, auf der Stelle mit ihm zu kommen und in Gegenwart seiner Frau dieselbe Versicherung abzugeben. Um allerlei Rücksichten willen, die namentlich in den nahen Beziehungen der Madame de Verelst zur Prinzessin von Oranien ihren Grund hatten, ließ sich der Gesandte bestimmen, dem halb unsinnigen Elliot in seine Wohnung zu folgen und hier in Gegenwart der herbeigerufenen Frau von E. zu wiederholen, »daß ihm beide Male, wo er die Ehre gehabt, mit ihr zu sprechen, ein Heiratsgedanke durchaus ferngelegen habe«. Die schon durch sein Erscheinen, aber viel mehr noch durch diese Versicherung aufs äußerste bestürzte Frau verlangte schließlich nur »ein diskretes Schweigen über das Vorgefallene«, was denn auch Elliot nicht bloß zusagte, sondern sofort auch in einem feierlichen Eide beschwor. Aber natürlich nur, um am nächsten Morgen all seinen Freunden und Freundinnen das nächtliche Vorkommnis unter den ungeheuerlichsten Zusätzen als Anekdote zum besten zu geben. Eine Folge davon war, daß sich die Hofgesellschaft zu größerem Teile von der um ihrer Triumphe willen ohnehin vielbeneideten Frau von Elliot zurückzog.
Bis zu diesem Punkte waren die Dinge gediehen, als Baron Knyphausen, der in einem entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu der jungen Frau stand, aus seiner ostfriesischen Heimat an den Rheinsberger Hof, an dem er eine Kammerherrnstelle bekleidete, zurückkehrte. Hier in Rheinsberg fand er neben Madame de Verelst auch das Elliotsche Paar vor und wurde, da die Mißhelligkeiten desselben kein Geheimnis waren, alsbald der Vertraute der unsagbar unglücklichen Frau. Sie sahen sich oft, berieten und planten und unterhielten, als Frau von Elliot den Rheinsberger Hof wieder verlassen hatte, sowohl nach Berlin wie nach Hoppenrade hin eine lebhafte Korrespondenz.
Um dieselbe Zeit etwa, wo diese Korrespondenz geführt wurde, fand die schon vorerwähnte Versetzung Elliots an den Kopenhagener Hof statt, was übrigens ein beständiges und intimes Eingeweihtbleiben in das, was in seinem Berliner Hause vorging, nicht hinderte. Madame de Verelst unterhielt ihn über die fortgesetzten, abwechselnd persönlichen und brieflichen Beziehungen ihrer Tochter zu Baron Knyphausen und entwarf allerlei Pläne mit ihm, diesem Treiben ein Ende zu machen. In Ausführung dieser Pläne war es denn auch, daß von seiten Elliots eine Herausforderung an Knyphausen erging.
Und hiermit war der erste Schritt zu jenem célèbren Rencontre geschehen, das uns auf den nächsten Seiten unter Zugrundelegung einer Anzahl Knyphausenscher Briefe beschäftigen soll. Einiges, was in vorstehendem schon angedeutet wurde, findet darin Bestätigung und weitere Ausführung.
Fürstenberg (in Mecklenburg-Strelitz), 4. Juli 1783
Mein hochgeehrter Herr Vater. Sie werden überrascht sein, von diesem unbekannten mecklenburgischen Städtchen aus einen Brief von mir zu erhalten. Aber das Nachstehende wird Aufklärung darüber geben. Als ich letzten Sommer von meinem Besuch bei Ihnen nach Rheinsberg zurückkehrte, fand ich daselbst eine zahlreiche Gesellschaft vor und darunter auch den englischen Gesandten Elliot samt seiner Gemahlin, Frau von Elliot, einer geborenen Baronesse von Kraut. Frau von Elliot, die bis dahin ihrer großen Schönheit unerachtet niemals einen Eindruck auf mich gemacht hatte, rührte mich durch ihr eheliches Unglück, das viel, viel größer war als ihre Schuld, wenn von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann. Was stattgefunden hatte, waren Unvorsichtigkeiten, die leider nicht bloß seitens Mr. Elliots, eines ebenso großsprecherischen und eitlen wie leichtsinnigen und charakterlosen Mannes, sondern auch seitens der eigenen Mutter ausgebeutet worden waren, um der jungen Frau zu schaden. Wirklich, Frau von Elliot war das Opfer eines Komplotts, einer Intrige dieser beiden rücksichtslosen Personen, eine Tatsache, die mich empörte. Verfolgungen, auch wenn sie nicht mich, sondern andere treffen, berühren mich stets als Unerträgliches und bestimmten mich auch hier zu Schritten, die mir die Dankbarkeit der jungen Frau, aber freilich auch die Feindschaft ihrer Mutter und ihres Mannes eintrugen. Dieser wurde zum Überfluß auch noch eifersüchtig und gab mir schließlich den Rat, mich um die Angelegenheiten seiner Frau nicht weiter zu kümmern, auf welche Drohung hin ich nur antwortete: »daß ich meinen Eifer von jetzt ab verdoppeln würde«. Dasselbe sprach ich auch gegen die Mutter, eine vom unerträglichsten Herrschsuchtsteufel geplagte Närrin aus, als sich dieselbe veranlaßt sah, einen ähnlich hohen Ton wie der Schwiegersohn gegen mich anzustimmen.
Inzwischen war der Winter herangekommen, und der Prinz Heinrichsche Hof übersiedelte wie gewöhnlich von Rheinsberg nach Berlin. Auch Madame de Verelst bezog wieder ihre Stadtwohnung, ebenso Frau von Elliot. Diese letztere nunmehr jeder Selbständigkeit und jeder Freiheit zu berauben war ein mittlerweile herangereifter Plan. Ich sah klar, daß man gewillt war, die junge Frau, sei’s mit sei’s ohne Zustimmung, auf ein Elliotsches Schloß zu schaffen, um sich derweilen ihres Vermögens bemächtigen zu können. Und das zu hindern wurde von nun an meine Aufgabe.
Bald nach Neujahr 1783 erfolgte Elliots Versetzung vom Berliner Hof an den Kopenhagener. Er akzeptierte die Versetzung und ließ seine Frau samt einem vierjährigen Töchterchen mit der Weisung zurück, ihm in der schönen Jahreszeit zu folgen. Aber Frau von Elliot war nicht gesonnen, dieser Weisung zu gehorchen. Voll Abneigung gegen ihren Gatten, erbat sie sich meinen Rat in dieser Angelegenheit und führte dadurch einen Briefwechsel herbei, der zunächst den heftigsten Zorn der Mutter erregte. Sie setzte sich denn auch mit Elliot selbst in Verbindung und vereinbarte folgenden Plan. Er, Elliot, solle plötzlich erscheinen, in die Zimmer seiner Frau dringen, ihre Bureaus erbrechen, die sträfliche Korrespondenz an sich nehmen und unter Androhung eines gerichtlichen Verfahrens die Zustimmung der jungen Frau zu jedem von Mutter und Ehemann gewollten Schritt erzwingen. Auch hinsichtlich der vierjährigen Enkelin wurden Bestimmungen getroffen; das Kind sollte für immer bei der Großmutter bleiben und von dieser erzogen werden. Auf all dies ging Elliot ein, erschien wirklich in aller Plötzlichkeit in Berlin, bemächtigte sich der Papiere, zugleich auch des Kindes und schickte das letztere dieselbe Nacht noch in Begleitung eines vertrauten Dieners nach Kopenhagen. Er folgte selbst Tages darauf, ohne seine Frau gesehen zu haben. Nur mit seiner Schwiegermutter, die gegen die dem Programm widersprechende Wegführung ihrer Enkelin protestiert hatte, war er schließlich in eine heftige Streitszene geraten.
So der erste Akt.
Einige Zeit danach erhielt ich einen Brief Elliots, in dem es hieß, es stünde jetzt in seiner Hand, mich der Strenge des Gesetzes oder des Königs in Person zu überliefern, er verzichte jedoch darauf, wenn ich meinerseits nach Dänemark kommen und mich in der Nähe von Kopenhagen mit ihm schlagen wolle. Das war eine sonderbare Zumutung. Ich antwortete ihm, daß er ein Narr wäre, dem nachzulaufen ich nicht die geringste Veranlassung hätte; während seiner Anwesenheit in Berlin hätte sich notwendig die Zeit zu solcher Begegnung finden müssen, das wäre das Korrekte gewesen, jedenfalls korrekter, als per Post abreisen und nachträglich eine solche Bravade in die Welt zu schicken. Auch an Madame de Verelst schrieb ich, unter nur zu gebotenem Hinweise darauf, wie wenig geraten es sei, derlei Familienangelegenheiten an die große Glocke zu hängen.
Elliots Freunde veröffentlichten inzwischen Elliots Brief an mich und behaupteten: »ich habe Satisfaktion verweigert«. Das zwang mich nunmehr, auch meinen Brief zur allgemeinen Kenntnis zu bringen und unter anderm eine Kopie desselben an unseren preußischen Gesandten in Kopenhagen gelangen zu lassen.
All dies ereignete sich im April.
Zwei Monate waren bereits vergangen, als ich plötzlich erfuhr und andere mit mir: Elliot komme nach Berlin, um sich mit mir zu schlagen. Die Sache machte begreiflicherweise Sensation, und im Publikum sprach man eine Zeitlang von nichts anderem. Ich meinerseits ließ die Leute reden und wartete der angekündigten Dinge, bis ich eines Tages in Erfahrung brachte, der Generalfiskal habe Befehl erhalten, ein Rencontre zwischen Elliot und mir unter allen Umständen, ja nötigenfalls mit Gewalt zu hintertreiben. Auf diese Mitteilung hin verließ ich Berlin sofort, um mich behufs ungehinderter Ausfechtung unserer Sache hierher ins Mecklenburgische zu begeben. Es war das um so nötiger, als man seitens der Elliotschen Partei, die sich durch Rücksichtslosigkeit und Lüge auszeichnet, bereits verbreitet hatte, die angedrohte Einmischung des Generalfiskals sei durch mich veranlaßt worden.
So liegt momentan der Streit. Elliot ist brieflich benachrichtigt worden, daß ich mich hier in Fürstenberg befinde. Mehr konnte mir nicht obliegen. Sobald sich Weiteres ereignet haben wird, werd ich nicht säumen, Sie, teuerster Vater, davon in Kenntnis zu setzen.
Ihr G. W. Kn.
6. Kapitel
Die Krautentochter wird Ursach eines Duelles zwischen Mr. Elliot und Baron Knyphausen
Soweit Knyphausen in seinem ersten, die Duellfrage berührenden Schreiben.
Als er vierzehn Tage später einen zweiten Brief an seinen Vater richtete, hatte das Duell bereits stattgefunden, nachdem demselben ein seltsames Vorspiel, ein Überfall, vorausgegangen war.
Ich gebe diesen Brief, der im wesentlichen (alle Briefe sind französisch geschrieben) des folgenden Inhalts ist.
Baruth in Sachsen, 18. Juli 1783
Mein hochgeehrter Herr Vater. Der letzte Brief, den ich an Sie richten durfte, war von Fürstenberg im Mecklenburgischen aus datiert. Ich schrieb Ihnen damals, daß ich Elliot von meiner Anwesenheit in dem genannten Grenzstädtchen Mitteilung gemacht und dieser Mitteilung hinzugefügt hätte, »ich befände mich daselbst, um auf ihn zu warten«. Übrigens will ich Ihnen, mein hochgeehrter Herr Vater, gleich an dieser Stelle bemerken, daß mir Fürstenberg, als zu nah an der preußischen Grenze gelegen, zur Ausfechtung unserer Sache nicht sonderlich geeignet erschien, weshalb ich schon damals den Plan hegte, meinem Gegner, bei seinem Eintreffen, einen Zweikampf auf schwedisch-pommerschem Grund und Boden zu proponieren. Auf solchem waren Störungen kaum zu gewärtigen.
So waren vierzehn Tage vergangen, als ich eines Abends erfuhr, daß Elliot in Rostock gelandet und von dort aus, nach einem Souper in Strelitz, auf Rheinsberg zu gefahren sei. Von Rheinsberg aus aber, nach erfolgter Weigerung des Prinzen, ihn zu sehen oder zu begrüßen, hab er sich nach Hoppenrade begeben, um zunächst seiner Schwiegermutter, der Madame de Verelst, einen Besuch zu machen.
Ich erwartete hiernach eine baldige Nachricht von Elliot oder einem seiner Vertrauten und saß andern Tages bei Sonnenuntergang ruhig in meinem Zimmer und las, als ich einen Kutschwagen die Straße heraufkommen und vorfahren sah. Ich rief meinem Diener zu, die Türe zu schließen, »ich wolle niemand empfangen«; aber im selben Augenblicke sah ich auch schon einen Wütenden, etwa im Zustand eines türkischen Opiumrauchers, in mein Zimmer eindringen. Es war Elliot, der, mit einem spanischen Rohr in der Hand, ohne weiteres auf mich losstürzte. Durch eine Seitenbewegung wich ich aus, ergriff ihn und warf ihn ohne sonderliche Mühe zu Boden. Und würd ihn erwürgt haben, wenn ihn nicht einer seiner Kammerdiener mir aus den Händen gerissen hätte. Jetzt wieder frei, zog er ein Pistol, das er mir auf zwei Schritt Entfernung entgegenhielt. Es war ein regelrechter, von drei Komplicen unterstützter Mordanfall. Ein ihn begleitender Irländer, den er mir später als seinen Sekundanten vorstellte, war mit zwei Pistolen und einem Degen bewaffnet; ebenso führten seine zwei Leute Pistolen und Hirschfänger. In diesem bedrohlichen Moment erschienen der Wirt und einige Bürger auf dem Hausflur, um mich zu schützen, fragten mich, was es sei, und machten Miene, über die Eindringlinge herzufallen. Ich hinderte dies und sagte, »daß ich alles mit dem Herrn allein abzumachen hätte«. Darauf forderte mich Elliot auf, ihm bis vor die Stadt zu folgen und mich dort mit ihm zu schlagen. Ich erwiderte, dies gehe nicht wohl an, weil ich ohne Sekundanten sei, den dritten Tag aber wollten wir uns auf neutralem Boden, in Schwedisch-Pommern, treffen und daselbst unsern Streit unter Innehaltung herkömmlicher Formen ausfechten. Er wollte jedoch von einer solchen Vertagung nichts wissen und fragte mich, und zwar der Umstehenden halber auf deutsch, »ob ich keine Courage hätte?«
Dies zeigte, daß er mich aufs Äußerste treiben wollte. So nahm ich denn die Herausforderung an. Er ging nun auf das Stadttor zu, zunächst von seinen drei Begleitern und im weiteren von etwa 500 Personen jeden Alters und Standes gefolgt. Als ich ein paar Minuten später ebenfalls aufbrechen wollte, fand ich den Burgemeister vor meiner Tür, welcher mich beschwor, mich nicht mit Mördern einzulassen, »er werde Elliot und seine Bande verhaften lassen«. Ich lehnte diesen Beistand indessen abermals ab und erschien auf dem Rendezvous mit zwei Pistolen und meinem Diener, einem guten, nur leider wenig encouragierten Menschen, der vor Furcht halb tot war. Es dämmerte schon, aber trotz der Dunkelheit, die herrschte, sah ich doch deutlich die halb komischen Vorbereitungen, die Elliot getroffen hatte: vier Degen waren feierlich in die Erde gesteckt, acht Paar Pistolen lagen davor und daneben einige Kleidungsstücke, deren sich Elliot entäußert hatte. Ich fragte ihn, »was das alles solle«, worauf er mir wutschäumend antwortete: »Mich aus der Welt blasen. Er hoffe, daß es die Pistolen tun würden, wenn aber nicht, so wären auch noch die Degen da.« Niemals in meinem Leben war ich kälteren Blutes, und so sagt ich ihm denn in aller Ruhe. »Der Umstand, daß ich noch zurechnungsfähig sei, gäbe mir einen Anspruch, die Sache zu regeln. Einen Sekundanten hätt ich nicht, und so wollten wir denn einfach Stellung nehmen und zweimal auf fünfzehn Schritt Distance schießen.« Er aber wollte von einer solchen Reglung nichts wissen und schrie nur immer: »In des Teufels Namen nein, nein. Wir wollen freieres Spiel haben. Ich meinerseits werde erst auf zwei Schritt Distance schießen.« Es war alles Torheit; indessen mocht er’s halten, wie er wollte, war ich doch sicher, daß er nicht ungestraft bis auf zwei Schritt herankommen würde. So stimmt ich denn zu und nahm meine Position.
Elliot hatte jedoch mittlerweile mit seinen Pistolen in der ungeeignetsten Weise herumgefuchtelt und sich dadurch neben dem Unwillen der Umstehenden auch allerlei Schimpfreden einer Gruppe von Personen zugezogen, unter denen zufällig einige Beurlaubte der königlichen Armee waren. Er bemerkte dies, und rasch erkennend, daß ihn im Fall eines Konflikts mit der erregten Volksmenge meine Fürsprache nicht retten werde, schlug er mir, einlenkend, nunmehr vor, die Sache, da’s ohnehin schon dunkel sei, für heute ruhen zu lassen und an einem der nächsten Tage erst wieder aufzunehmen.
Es handelte sich nun für mich vor allem darum, einen Sekundanten zu beschaffen. Ein Herr von Maltzahn hatte mir, nach einer früheren Verabredung, diesen Dienst leisten wollen, war aber behindert worden, weshalb ich mich denn gezwungen sah, eine Estafette nach Berlin zu schicken, um mich des Beistandes eines dort lebenden Offiziers, des Capitains Koppi, zu versichern, der mir schon einige Zeit vorher für den Fall, daß Maltzahn nicht könne oder wolle, seine Bereitwilligkeit ausgedrückt hatte. Koppi kam auch, forderte jedoch hundert Louis für seinen Dienst und ließ sich einen Schuldschein darüber ausstellen, nachdem ich ihm erklärt hatte, daß mir die Summe für den Augenblick nicht zur Verfügung stehe.
Der Generalfiskal hatte mittlerweile nicht aufgehört, die Sache zu verfolgen, ja mir wurde Mitteilung, daß er damit umgehe, mich in Fürstenberg verhaften zu lassen. Einer solchen Verhaftung mich zu entziehen, ging ich weiter landeinwärts und ließ Elliot, unter Angabe der Gründe, weshalb ich den Ort gewechselt hätte, wissen, daß ich ihn zu der zwischen uns festgesetzten Zeit in dem Städtchen Penzlin erwarten würde. Wer aber nicht kam, war Elliot. Erst am fünften Tage ließ er mir sagen, daß er Anfang August in Lübeck sein werde. Zu gleicher Zeit erfuhr ich, daß er in hauptstädtischen Kreisen in echt Elliotscher Weise mit der Versicherung von Haus zu Haus gegangen sei, mich in Fürstenberg »malträtiert« zu haben. Ich beschloß nun, auf jede Gefahr hin inkognito nach Berlin zu gehn und ihn am selben Tage noch, oder doch am folgenden, zum Duell zu zwingen. Es gelang mir auch, unentdeckt in die Stadt zu kommen, woselbst ihm Capitain Koppi dieselbe Nacht noch meine Herausforderung zutrug, in der ich ihm zwischen einer Berliner Vorstadt und der sächsischen Grenze die Wahl ließ. Er wählte Baruth, und zwar für den nächsten Tag. Und hier kam es denn auch wirklich zum Duell. Wir wechselten zwei Kugeln auf fünfzehn Schritt. Als dieser doppelte Kugelwechsel ohne Resultat geblieben war, verlangte Elliot mich zu sprechen und sagte mir: »daß der Überfall in Fürstenberg ihm unendlichen Schaden tue, so sehr, daß er weder aufs neue seinen Posten antreten noch auch nach England zurückkehren könne, wenn ich dem Gerüchte, daß er mich à la mode d’un assassin angegriffen habe, nicht in einer Erklärung entgegenträte«. Nach meiner Weigerung, eine solche Erklärung abzugeben, schritten wir zum dritten Gang. Ich hatte wieder den ersten Schuß und verwundete ihn an der Hüfte. »Geben Sie mir das Papier«, rief er mir zu, »so schieß ich in die Luft.« Ich antwortete: »Nein, mein Herr; schießen Sie zunächst; nachher werd ich mich erklären.« Er legte auf mich an, gab aber seinem Pistol plötzlich eine veränderte Richtung und schoß in die Luft. Dadurch war ich entwaffnet und gab ihm nunmehr eine noch viel weiter gehende Erklärung, als die war, die er von mir gefordert hatte.
Noch an Ort und Stelle ließ er mich wissen, daß er nach Berlin gehe, daselbst das Scheidungserkenntnis in Empfang zu nehmen, und knüpfte daran die Frage, »ob ich gesonnen sei, seine Frau zu heiraten?« Ich antwortete, »daß dies nicht der Platz sei, darüber zu verhandeln«, worauf wir uns trennten. Er kehrte danach auch wirklich nach Berlin zurück, was er in seiner Eigenschaft als fremder Gesandter konnte, wohingegen ich erst abwarten mußte, wie man den ganzen Hergang aufnehmen werde. So begab ich mich denn zunächst in die Stadt Baruth hinein, um von dort aus nach Dessau weiterzureisen. Aber ehe ich noch Pferde vom Postmeister erhalten konnte, wurd ich schon durch einige Gerichtsdiener arretiert, die gemeinschaftlich mit sechzehn Bürgergardisten mein Haus umstellten. Am Tage danach erschien ein Unteroffizier mit sechs Mann, der aus der nächsten sächsischen Garnisonstadt zu meiner weiteren Bewachung abkommandiert worden war. Ich schickte sofort einen reitenden Boten an unseren Dresdener Gesandten, aber alles geht hier langsam, und so verbrauch ich denn viel Geld, und zwar um so mehr, als ich nicht bloß für mich, sondern auch noch für meinen Sekundanten aufzukommen habe.
Man rät mir Flucht und ich werd es, aller Mißlichkeit unerachtet, versuchen. Sobald etwas in diesem Sinne geschehen ist, schreib ich aufs neue. Heute bitt ich nur noch, von dem, was sich in vorstehendem auf das Duell und meine Baruther Internierung bezieht, Abschrift nehmen und diese Kopie meines Briefes an Herrn von Gaudi gelangen lassen zu wollen.
Unter der Versicherung tiefsten Respekts, hochgeehrter Herr Vater, Ihr ergebenster und gehorsamster Sohn George.
7. Kapitel
Was nach dem Duell geschah
Baron Knyphausen, wie sein letzter Brief es andeutete, befreite sich wirklich aus seinem Baruther Gewahrsam und kam glücklich nach Berlin. Aber freilich ohne seines Aufenthaltes daselbst froh zu werden. Er hatte durch seine Handelsweise niemanden zufriedengestellt.
Die Gerichte zogen ihn vor ihr Forum und trafen ernstlich Anstalt, ihn als einen Duellanten, Friedensbrecher und Raufbold zu bestrafen, während ihm umgekehrt die Bevölkerung, insonderheit aber die vornehme Welt, einen Vorwurf daraus machte, nicht raufboldig genug, vielmehr viel zu schwach und ängstlich gewesen zu sein. Er litt unter jedem dieser Vorwürfe, zumal unter dem zweiten, und die dieser Zeit angehörigen, an seinen Vater gerichteten Briefe geben Zeugnis von einer gewissen Niedergeschlagenheit. Ich fahre fort in Mitteilung dieser Briefe.
Berlin, 30. Juli 1783
Mein hochgeehrter Herr Vater. In meinem letzten, aus Baruth datierten Briefe hatt ich bereits die Ehre, Ihnen über mein Duell mit Mr. Elliot und daran anschließend über meine Gefangenschaft in dem kleinen sächsischen Städtchen zu berichten. Gestatten Sie mir, in diesem Berichte fortzufahren. Ich versuchte jedes Mittel in Dresden, meine Freilassung zu bewirken, aber man antwortete mir, »daß man trotz des besten Willens nichts ändern oder beschleunigen könne, da der Kurfürst selbst nicht das Recht habe, dem Gange der Justiz vorzugreifen«. Einem Schreiben unseres Gesandten konnt ich entnehmen, daß es das beste sein würde, Begnadigung nachzusuchen, will sagen Pardonierung um Geld. Ich überlegte mir, daß man mich in jenem Lande nach Willkür taxieren und meine Begnadigung auf etwa 200 Dukaten festsetzen würde. Das war mir zu hoch, und da mich auch Herr von Hertzberg um ebendiese Zeit wissen ließ, »er rate mir, mich anderweitig aus der Sache herauszuziehn«, so beschloß ich Flucht.
Ein Doppelposten hatte mich zu bewachen, indessen war mir um meiner Gesundheit willen gestattet worden, in einer Ausdehnung von etwa hundert Schritt vor dem Hause zu promenieren. Ich benutzte dies als Mittel, mich zu befreien, instruierte meinen ängstlichen, aber durchaus verständigen und zuverlässigen Diener und ließ ihn, als er genau wußte, was zu tun war, abreisen. Am andern Tag fünf Uhr früh erschienen denn auch zwei berittene Leute vor der Stadt, jeder noch mit einem Handpferde neben sich, und gaben sich, während sie ruhig einritten, das Ansehen, als ob sie die Hauptstraße der Stadt und bei der Gelegenheit meine Wohnung passieren wollten, in demselben Augenblick aber, wo sie bis dicht heran waren, schwangen wir uns, Koppi und ich, hinauf und jagten auf das Tor zu. Die Straße war sehr lang, und ehe wir den Ausgang erreichen konnten, sahen wir schon, daß man Miene machte, das Gatter von obenher herabzulassen. Jetzt galt es Eil. Auf die Gefahr hin, mir den Kopf einzuschlagen, prescht ich durch, Koppi mir nach, und nur unsere zwei Leute, die den rechten Augenblick versäumten, wurden gefangengenommen. Sind übrigens inzwischen auf Reklamation unserer Behörden wieder in Freiheit gesetzt worden. Unsere Flucht war also geglückt.
Ich wandte mich nunmehr von Baruth aus direkt nach Britz, wo mir Herr von Hertzberg ein vorläufiges Asyl zugesichert hatte. Daselbst erfuhr ich denn auch, daß meinem Inkognitoaufenthalt in Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach nichts im Wege stehen werde, woraufhin ich mich, von Britz aus, in die Stadt begab. Aber sehr zur Unzeit, da bereits am andern Morgen auf eine von Baruth her an das Kammergericht gerichtete Requisition meine Verhaftung erfolgte. Beiläufig eine Dummheit, insoweit das Kammergericht dieser Requisition keine Folge zu geben brauchte, vielleicht nicht einmal durfte. Sechs Tage später erst wurd ich auf Fürsprache des Herrn von Hertzberg und nach eidlicher Versicherung meinerseits, mich wieder stellen zu wollen, aus der Haft entlassen, nachdem ich all die Zeit über in der Hausvogtei (ganz wie Vetter Dodo nach seinem Duell mit Herrn von Bredow) eingesperrt gewesen war. Zwei Landreiter vor meiner Tür.
Ich hatte bei meiner Hierherkunft wenigstens gehofft, vor einem aus der Duellgeschichte hergeleiteten Kriminalprozeß sicher zu sein, aber sehr mit Unrecht; ein schändlicher Kerl, der Generalfiskal, hat mich, auf ich weiß nicht welche Veranlassung hin, denunziert, und so wird denn doch ein Prozeß stattfinden, an dem ich wiederum das am meisten beklage, daß er mutmaßlich große Kosten verursachen wird. In meinem nächsten Briefe werd ich wohl von diesem Prozesse zu berichten haben. Bis dahin und für immer in tiefstem Respekt Ihr ergebener und gehorsamer Sohn George.
Berlin, den 15. August 1783
Mein hochverehrter Herr Vater. Meine Verhöre sind beendigt. Bei der Unzahl von Zeugen, die sowohl die Fürstenberger wie die Baruther Affaire gehabt hat, hab ich in bezug auf das Tatsächliche nichts verheimlichen können, aber in bezug auf alles das, was vorausging, habe ich vieles unterdrückt, entstellt und gedreht, um unsren Streit als ein »Rencontre« und nicht als ein »Duell« (worauf härtre Strafen stehn) erscheinen zu lassen. Im übrigen brauch ich Ihnen nicht zu versichern, mein hochgeehrter Herr Vater, wie sehr man bemüht gewesen ist, mich, besonders bei Behandlung des »delikaten Punkts«, in die Enge zu treiben.
Sie haben, so schreiben Sie mir, von den Gerüchten gehört, die betreffs meiner umgehen, und verlangen Aufklärung darüber. Was mir zu sagen obliegt, ist kurz das: all diese Gerüchte sind begreiflich und erstaunen mich nicht. Ich habe, dies bitt ich rundheraus versichern zu dürfen, zu viel Vertrauen und Entgegenkommen, zu viel versöhnlichen Geist und Delikatesse gezeigt, um auf ein volles Verständnis meiner Handelsweise rechnen zu können. Am wenigsten bei dem großen Haufen. Ich begegne hier tagtäglich Personen, auch Gebildeten, die mir ihre Verwunderung darüber ausdrücken, daß ich aus meiner Fürstenberger Situation nicht größeren Vorteil gezogen und die mir günstig gesinnte Bevölkerung nicht einfach zum Angriff gegen Elliot angeregt habe. Wohlan, so viel ist gewiß, daß ich bei solchem Verfahren in meinem vollen Recht gewesen wäre. Doch lag es mir fern, mein Recht in solcher Ausdehnung üben zu wollen. Wieder andere begreifen nicht und tadeln mich bitter, einem solchen Gegner die von ihm so sehr gewünschte »Erklärung« und in ebendieser Erklärung die Verzeihung für all seine Tollheiten gegeben zu haben. Und alle solche Vorwürfe muß ich ruhig hinnehmen. Es gibt eben wenig Personen, die von Generosität eine Vorstellung haben und sich klarmachen, daß ein Ehrenhandel etwas anderes ist und einer andern Beurteilung unterliegt als ein Zivil- und Kriminalprozeß. Eine noch geringere Zahl von Menschen erwägt die Macht des Moments und wie sehr der Moment angetan war, mich wenigstens vorübergehend zugunsten Elliots zu stimmen. Er schoß in die Luft statt auf mich, und das alles, nachdem er mir eine Minute zuvor in Gegenwart meines Sekundanten erklärt hatte, »daß er, wenn ich ihn nicht rehabilitierte, sich selber eine Kugel durch den Kopf jagen müsse«.
Daneben freilich, mein teurer Herr Vater, soll nicht bestritten sein, daß im Laufe dieser Angelegenheit auch meinerseits allerhand Unklugheiten und Unvorsichtigkeiten begangen wurden, Unvorsichtigkeiten, die gewiß zu tadeln sind, aber unter gewöhnlichen Verhältnissen jedenfalls minder tadelnswert erscheinen würden. Ich hatte nur von Anfang an das Unglück, in diesem Ehrenhandel mit einem Menschen engagiert zu sein, der, schon von Natur ein Narr, bei jedem ausbrechenden Streit ein Verrückter, ein Tobsüchtiger wird.
Ich hoffe, mein teurer Vater, daß dies der letzte Kummer ist, den ich Ihnen bereitet habe. Wenn ich Ihnen wieder schreibe, so wird es geschehen, um Ihnen einen Plan vorzulegen, der, denke ich, Ihre Zustimmung finden soll. Ich bitte nur, ein ganz klein wenig meinem Urteil und meiner ruhigen Überlegung vertrauen und ein für allemal davon ausgehen zu wollen, daß meinerseits nichts geschehen wird, was Ihre oder meine Ehre zu kompromittieren imstande wäre. Ihr ergebener und gehorsamer Sohn George.
8. Kapitel
Die Krautentochter wird in zweiter (heimlicher) Ehe Baronin Knyphausen
»Wenn ich Ihnen wieder schreibe, so wird es geschehen, um Ihnen einen Plan vorzulegen, der, denk ich, Ihre Zustimmung finden soll«, so hieß es am Schlusse des zuletzt mitgeteilten Briefes, aber es scheint nicht, daß es zu Vorlegung dieses oder irgendeines anderen Planes kam. Als der junge Freiherr in seinen brieflichen Mitteilungen fortfuhr, war das, was sich in jenem Briefe mehr oder weniger mysteriös angekündigt hatte, bereits ausgeführt, und anstatt einer zu diskutierenden Sache lag einfach eine Tatsache vor. Diese Tatsache hieß: Ehe zwischen Baron Knyphausen und Frau von Elliot. Am 1. Oktober 1783 hatte die Heirat stattgefunden, indessen zunächst nur heimlich und nach gegenseitigem Übereinkommen auch nur »auf Versuch«. Dem jungen Freiherrn aber, nachdem er die betreffende Mitteilung lange hinausgeschoben, lag es jetzt ob, über all dies an seinen »Herrn Vater« zu berichten. Er tat dies in einem langen und weit zurückgreifenden Exposé, weit zurückgreifend deshalb, weil er das Mißliche seiner Situation einsah und sich von einer im Zusammenhange gegebenen historisch-psychologischen Darstellung am ehesten noch eine gute Wirkung auf das Herz seines alten Vaters versprechen mochte.
Hoppenrade, 1. März 1784
Seit meinem letzten an Sie gerichteten Briefe haben sich Dinge vollzogen, die Sie, mein hochgeehrtester Herr Vater, aus dem einen Umstande schon, daß diese Zeilen das Datum Hoppenrade tragen, erraten werden. Ich habe mich, nachdem bereits am 30. Juni die Scheidung ausgesprochen war, am 1. Oktober v. J. mit Frau von Elliot, geborenem Fräulein von Kraut, verheiratet, aber heimlich und, was am verwunderlichsten erscheinen mag, auf Probe.
Die Reihe von Ereignissen, die zu diesem Schritte führte, bitt ich Ihnen noch einmal vor Aug und Seele stellen zu dürfen. Ich werde dabei manches, was ich schon in früheren Briefen sagte, wiederholen müssen, aber diese Wiederholungen werden kurz sein und keinen anderen Zweck verfolgen, als einen Zusammenhang in meiner Erzählung und einen Überblick über das Geschehene herzustellen.
Fräulein Charlotte von Kraut (ich nenne sie mit Vorliebe bei diesem ihren Geburtsnamen) wurde, dank ihrer Mutter, mit kaum sechzehn Jahren einem Manne ohne Geist und Herz, dem englischen Gesandten Mr. Elliot, vermählt. Auch er war jung, nicht über vierundzwanzig, und glich mehr einem Pagen als dem Minister und Bevollmächtigten einer großen Macht. Das Verhältnis zwischen beiden gestaltete sich bald so, wie sich’s erwarten ließ und wie sich’s überall gestalten wird, wo sich ein Kind mit einem Narren verheiratet. Indiskreter als irgendwer, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, gefiel er sich darin, auf seiner regelmäßigen Vormittagstournée häusliche Szenen und eheliche Geheimnisse vor aller Welt auszukramen. Dabei kam es ihm auf die schreiendsten Widersprüche nicht an, und wenn er heute seine Frau an den Pranger gestellt hatte, konnte man sicher sein, sie morgen von ihm in den Himmel erhoben zu sehen. Dazwischen fielen Andeutungen, daß seine Frau gestört sei und zum mindesten der Überwachung, vielleicht sogar einer gelegentlichen Internierung bedürfe. Hinter Äußerungen wie diese, deren Unberechtigtheit Elliot selbst am besten kannte, stand übrigens nicht er, sondern die Mutter der jungen Frau, die mehrerwähnte Madame de Verelst, ein hochmütiges, von einem unsinnigen Verlangen nach Macht und Besitz beherrschtes Weib, das nur den einen Wunsch kannte, die leibliche Tochter, ihr einziges Kind, unter Kuratel gestellt oder eingesperrt – oder mindestens an einen entfernten Punkt der Erde verschlagen zu sehen, alles nur, um das Vermögen dieser Tochter verwalten, das heißt also, ebendies Vermögen sich und ihrem Herrschergelüst dienstbar machen zu können. Es bestand zu diesem Zweck ein vollständiges Komplott zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn und gipfelte zunächst in Heraufbeschwörung eines öffentlichen Skandals, um an ebendiesem die geistige Gestörtheit oder doch wenigstens die verdorbene Moral der Tochter demonstrieren zu können. Es wurde dies alles auch wirklich inszeniert und lief auf ein angedichtetes, absolut lächerliches Liebesverhältnis hinaus, das die junge Frau zu dem alten holländischen Gesandten unterhalten haben sollte. Sie wissen davon, mein teurer und hochgeehrter Herr Vater, indem ich mich entsinne, gerad über diesen Punkt ausführlicher an Sie geschrieben zu haben. Es war dies um die Zeit, als ich von Ostfriesland nach Rheinsberg zurückkehrte. Was ich hier am Hofe des Prinzen sah, empörte mich; ich machte mich also zum Verteidiger der unglücklichen Frau, sprach für sie, riet ihr und erregte dadurch jene Zorn- und Wutausbrüche, die, wie Sie sich gütigst erinnern wollen, erst zur gewaltsamen Wegnahme der Papiere, dann aber zu dem Fürstenberger Überfall und dem Baruther Rencontre führten. Ein Gutes nur begleitete diese Vorgänge: die Scheidung ward eingeleitet.
Und hier, mein teurer hochgeehrter Herr Vater, bitte ich nunmehr, etwas ausführlicher werden zu dürfen, weil ich in allem Folgenden nicht mehr bloß zu rekapitulieren, sondern auch Neues zu sagen haben werde.
Der erste Schritt war, daß man die junge Frau dem Gedanken einer Scheidung zugänglich zu machen suchte. Dies hielt bei den Gefühlen, die sie hegte, nicht schwer, und alles, was sie forderte, lief darauf hinaus, daß nicht eine Schuld ihrerseits, sondern einfach eine gegenseitige unüberwindliche Abneigung als Grund der Trennung angegeben werden möge, was ihr denn auch bewilligt wurde. Bald danach aber erschrak sie heftig, als sie den beigebrachten Motiven entnehmen mußte, daß nicht »unüberwindliche Abneigung«, sondern ein unerlaubter Briefwechsel die Scheidungsklage veranlaßt habe. Die junge Frau, wie sich denken läßt, wollte gegen diese Perfidie protestieren, indessen ihr nebenher auch noch im Solde der Gegenpartei stehender Anwalt gab ihr zu verstehen, daß es mit der »unüberwindlichen Abneigung« immer ein mißliches Ding sei, jedenfalls aber zeitraubend, und daß es kein besseres Mittel für sie gäbe, die Scheidung rasch durchzusetzen, als das Zugeständnis, einen solchen unerlaubten Briefwechsel geführt zu haben. Übrigens wurde ihr aus diesem Zugeständnis kein weiterer Schaden erwachsen; es handle sich einfach um Anerkennung der Tatsache. So, halb beschwatzt und halb in die Enge getrieben, gab die geängstigte, freilich zugleich auch von einem äußersten Verlangen nach Scheidung erfüllte Frau nach, nachdem man ihr noch die Zusatzworte zugestanden hatte, »daß sie sich, infolge von Eifersüchteleien ihres Gatten und eines jeden anderen Verkehrs beraubt, in gewissem Sinne gezwungen gesehen habe, mit befreundeten Personen wenigstens eine Korrespondenz zu führen«. Ob dieser ihr zubewilligte Satz in der Folge wirklich aufgenommen worden ist, hab ich nicht in Erfahrung bringen können, und nur eines, mein teurer und hochgeehrter Herr Vater, möge hier noch stehen, um Ihnen die schändliche List zu zeigen, mit der von seiten Elliots und seiner schwiegermütterlichen Komplicin in dieser Angelegenheit verfahren wurde.
Das einzige Schuldobjekt, wenn denn schon von einem solchen die Rede sein soll, war die Korrespondenz. Aber wie stand es mit dieser? Es waren einfache Briefe, wie sie zwischen Freunden und Bekannten gewechselt zu werden pflegen, und die wenigen, aus denen vielleicht etwas in gesetzlichem Sinne Straffälliges hergeleitet werden konnte, waren ununterzeichnet. In der Tat, niemand mehr als Elliot selbst war von der au fond absoluten Bedeutungslosigkeit dieses angeblichen Schuldmaterials überzeugt. Aber was demselben an wirklicher Schuld fehlte, damit mußt es künstlich ausgestattet werden, und so trug denn Elliot eine beständige Sorge, daß die sogenannte »Schuldkorrespondenz« immer nur als ein mit vielen Gerichtssiegeln ausgestattetes Riesenkonvolut erschien, auf dessen Öffnung und Befragung er »aus Anstandsgefühl und zarter Rücksicht gegen seine Frau« zu verzichten vorgab. In Wahrheit aber lag es so, daß das geöffnete Konvolut gar nichts bewiesen haben würde, während es mit seinen sieben Siegeln ein großes Geheimnis darstellte, das zu lüften und zur Kenntnis von aller Welt zu bringen im Interesse der Gesellschaft und der Sittlichkeit am besten unterbliebe. Sie haben hierin ein Musterbeispiel, wie verschlagen man verfuhr. Und das alles um nichts weiter als um ein paar Dutzend Briefe willen, in denen ich eine gequälte Frau gewarnt und ihr zur Bekämpfung ihrer Gegner ein paar Ratschläge gegeben hatte.
Ja, das war alles. Und doch muß ich in diesem Augenblicke selber ausrufen: Oh, diese leidige Korrespondenz! Denn so wenig sie nach der Seite wirklicher Schuld hin bedeutet, so viel bedeutet sie gesetzlich und leider auch praktisch. Ausschließlich auf diese zugestandene Korrespondenz hin heißt es jetzt in dem Scheidungsurteil: »daß sich die gesetzlich Geschiedene ohne vorgängigen Dispens nicht wieder verheiraten dürfe«, eine Klausel, die hundert Ungelegenheiten im Gefolge hat. Allerlei Schritte sind freilich schon geschehen und geschehen noch, um diese Klausel aus dem Urteile herauszuschaffen, aber vergeblich, vergeblich wenigstens bis zu diesem Zeitpunkte, wobei gesagt werden muß, daß diese Schritte sehr wahrscheinlich einem geringeren Widerstande begegnet sein würden, wenn sich die durch Mad. de Verelst inszenierte Familienkabale nicht bis in die Gerichtshöfe hinein fortsetzte. Was zur Partei dieser Dame gehört, hat ein für allemal einen Trumpf darauf gesetzt, mich wenigstens in meinen Plänen und Wünschen scheitern zu sehen, in Plänen und Wünschen, die man darauf zurückführt (ich darf sagen, törichterweise), daß mir mehr an dem Besitz einer großen Erbschaft als an dem Besitz einer schönen und liebenswürdigen Frau gelegen sei. Jeder beurteilt eben andere nach sich selbst und sucht hinter der Tür, hinter der er selber gestanden.
Erbschaft! Ich weiß nicht, ob ich Ihnen früher schon über diesen Erbschaftspunkt geschrieben habe, fast bezweifl ich es. So gestatten Sie mir denn einige kurze Notizen, die vielleicht ein Interesse für Sie haben werden.
Das Erbe, um das es sich in den Hoffnungen und Befürchtungen so vieler Personen handelt, ist die sogenannte Löwenbergsche Herrschaft, ein Komplex von Gütern, unter denen Löwenberg und Hoppenrade die bedeutendsten sind. Nun, diese Löwenbergsche Herrschaft ist zur Zeit ein Bredowscher Besitz und wurde durch den verstorbenen Propst von Bredow, insonderheit aber durch das Vermögen der reichen Gemahlin desselben, einer Schwester des Hofmarschalls von Kraut, erworben. Sie ersehen hieraus unschwer, auf welche Verwandtschaftsgrade hin das Erbe von seiten der Tochter des Hofmarschalls einst angetreten werden wird.
Ich bitte jedoch, dieser allgemeinen Notiz auch noch einiges Besondere hinzufügen zu dürfen, um Sie, hochgeehrter Herr Vater, bestimmter in dieser Sache sehen zu lassen. Aus der Ehe des dompröpstlich Bredowschen Paares wurden im ersten Viertel dieses Jahrhunderts zwei Söhne geboren, unter die sich, unter gewöhnlichen Verhältnissen, der große Besitz geteilt haben würde. Beide Brüder indes fielen in Krankheit, ihre Krankheit wurde Geistesgestörtheit, und als die Dompröpstin (ihr Gatte war vor ihr gestorben) in die Jahre gekommen und ihres Ablebens gewärtig war, sah sie sich gezwungen, mit der Tatsache zweier erbunfähiger Söhne zu rechnen und über die Köpfe dieser Söhne hinweg in betreff ihres Vermögens zu testieren. In der Tat fand sich beim Tode der Dompröpstin ein Testament vor, in dem es der Hauptsache nach hieß, »daß bei Lebzeiten ihrer zwei geistesgestörten Söhne die Löwenberger Herrschaft unter bestimmten Modalitäten verwaltet, nach dem Hinscheiden dieser zwei Söhne jedoch der gesamte Besitz an ihren Bruder, den Hofmarschall von Kraut, eventuell an die Deszendenz ebendieses Bruders übergehen solle«. Die Deszendenz dieses Bruders aber, wie schon vorstehend hervorgehoben, ist das ehemalige Fräulein Charlotte von Kraut, geschiedene Frau von Elliot, seit 1. Oktober v. J. mir in heimlicher Ehe vermählt.
Im übrigen bleibt es zweifelhaft, ob die »Krautentochter«, wie sie der Volksmund zu nennen pflegt, das Erbe, das so viel von sich reden macht, antreten und, wenn antreten, auch behaupten wird. In diesem Augenblicke nämlich leben noch die beiden geistesgestörten Söhne der Dompröpstin und vertagen durch ihr einfaches Noch-am-Leben-Sein den Austrag einer komplizierten Erbschaftsfrage; von dem Moment an aber, wo der Tod derselben erfolgen und das zugunsten der Familie Kraut abgefaßte Testament in Kraft treten wird, wird aller Wahrscheinlichkeit nach gegen ebendies Testament ein Protest erhoben und die Rechtsgiltigkeit desselben, ich lasse dahingestellt sein, ob mit Grund oder Ungrund, von seiten der Bredowschen Familie bestritten werden. Über diese diffizilen Punkte jedoch will ich mich heute nicht weiter verbreiten. Dazu wird Gelegenheit sein, wenn jener Zeitpunkt eingetreten sein wird, von dem ich kaum weiß, ob ich ihn mehr wünschen oder fürchten soll.
Nur über den Wert dieses Erbes, dessen Einkünfte, laut Testament, schon jetzt zu weitaus größrem Teile der Krautschen Erbtochter, also meiner mir heimlich angetrauten Gemahlin, zufließen, bitt ich noch einiges sagen zu dürfen. Der Wirtschaftsertrag erreicht etwa die Höhe von 10 000 Taler, in welche Summe die Forsterträge mit eingerechnet sind. Meine Gemahlin, in ihrer Erbtochter-Eigenschaft, genießt außerdem das Wohnungsrecht in Hoppenrade sowie das Recht einer freien Wohnung im Bredowschen Hause zu Berlin. Es muß dabei bemerkt werden, daß die gegenwärtige Kuratorenwirtschaft eine Räuberwirtschaft ist und daß sich die zur Zeit verhältnismäßig geringen Erträge bei selbständiger und besserer Administration leicht verdoppeln lassen werden.
Hier, mein teurer und hochverehrter Vater, haben Sie, soweit meine Kenntnis und Einsicht reicht, ein Bild der Lage. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich begründete Hoffnung habe, den eingangs erwähnten königlichen Dispens, aller Widersacherei zum Trotz, über kurz oder lang eintreffen zu sehn. Ich sehne mich danach, weil ich dieser Heimlichkeiten müde bin und ein herzliches Verlangen trage, die, die vor dem Altar meine Frau wurde, auch vor der Welt als solche präsentieren zu können.
Und nun noch eines. Ich habe vorstehend mehrfach auf die Tatsache meiner heimlichen und sogar bloß versuchsweis abgeschlossenen Ehe hingewiesen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen auch darüber noch ein Wort sage. Sie werden mir glauben, daß ich für das Sonderbare darin ein volles Gefühl habe, ja mir bewußt bin, das Lächeln der Welt dadurch herausgefordert zu haben. Eine Verheiratung »auf Probe« hat etwas Ridiküles. Aber trotz dieser klaren Einsicht erschien mir eine solche Vorsicht geboten. Wie lag es zwischen uns? Frau von Elliot und ich hatten zwar viel miteinander verhandelt, aber wir kannten uns eigentlich wenig. Ich fragte mich nach dem Charakter der Frau, deren Berater und Beschützer ich gewesen, und hatte keine rechte Antwort darauf. War sie gut und edel, oder war sie’s nicht? Sie zeigte mir eine große Neigung und Anhänglichkeit und, was mehr war, eine mich geradezu rührende Bescheidenheit in bezug auf alles das, was ihr, ihrem eigenen Zugeständnisse nach, noch fehle; nichtsdestoweniger blieb ich in Zweifel, ob nicht der Einfluß der Mutter und vor allem das mehrjährige Zusammenleben mit einem eitlen, oberflächlichen und total depravierten Narren ihr ein für allemal eine Richtung auf das Niedere hin gegeben habe. Brauch ich Ihnen zu versichern, mein teurer und hochgeehrter Herr Vater, daß ich in meinem Herzen alle diese Zweifel mit einem »Nein« beantwortete. Dennoch fehlte mir Gewißheit, Gewißheit, die mir so nötig erschien, und so kamen wir denn beiderseits überein, unsere Verheiratung nicht bloß eine heimliche, sondern zugleich auch eine bloße Versuchsehe sein zu lassen. Es wurde stipuliert, daß wir, wenn wir nach einer bestimmten Zeit den Versuch als gescheitert betrachten müßten, in aller Stille wiederum uns trennen wollten, ein Weg, der um so leichter zu beschreiten sei, als den Gerichten nicht obliegen könne, Verträge wieder aufzuheben, die die Zustimmung der Landesgesetze noch gar nicht empfangen hätten.
Dieser Art war das Übereinkommen, das wir unmittelbar nach unserer Trauung trafen.
Die Zeit, die seitdem vergangen ist, hat mich in meiner Liebe bestärkt und als endliches Resultat ergeben, daß ich Sie hiermit, mein teurer und hochverehrter Herr Vater, um Ihre Zustimmung und Ihren Segen bitte. Sie werden mit Ihrer Schwiegertochter zufrieden sein; ebenso werden meine Brüder und Schwägerinnen sie des Namens nicht unwürdig finden, den sie nun führen soll. Dessen bin ich sicher. Sie hat übrigens selber schreiben wollen, und wenn es geschehen sollte, so bitt ich ihrem Briefe mit Ihrer stets bewiesenen Nachsicht und Güte zu begegnen.
Unterdessen nehmen Sie die Versicherung meiner tiefsten Ehrerbietung, mit der ich bin Ihr ganz ergebener und gehorsamer Sohn George.
9. Kapitel
Die Krautentochter, nunmehr Baronin Knyphausen, reist nach Lützburg. Es wird ein Sohn geboren. Baron Knyphausen wird krank und stirbt
Am 30. Juni 1783 hatte die mehrerwähnte Scheidung von Mr. Elliot, am 1. Oktober desselben Jahres die heimliche Trauung mit Baron Knyphausen zu Rosenthal in Sachsen und am 25. April 1784 unter Vorzeigung einer inzwischen eingetroffenen königlichen Dispensation die öffentliche Trauung mit letztgenanntem Baron K. stattgefunden.
Unsere Krautentochter war nun also Baronin Knyphausen.
Im Mai oder Juni wurde dem zweimal getrauten Paar ein Sohn geboren, Karl Wilhelm Tido, und abermals zwei Monate später erfolgte die seit lange geplante Reise nach Ostfriesland, um daselbst die junge Schwiegertochter dem alten Freiherrn und der gesamten Verwandtschaft vorzustellen. Alles, was voraufgegangen war, konnte sie dem in strenger Zucht und Sitte stehenden Hause nicht sonderlich empfohlen haben, demungeachtet würde sie bei den vielen Vorzügen, über die sie Verfügung hatte, die Herzen aller, insonderheit aber das des alten Freiherrn, unschwer gewonnen haben, wenn dieser nicht, als man eintraf, ein bereits bedenklich Kranker gewesen wäre. Sein Zustand verschlimmerte sich rasch, und vor Ablauf der dritten Woche starb er. Das waren denn nun freilich nicht Zeiten, um durch Schönheit und Liebenswürdigkeit alte Schulden quittzumachen, alles kleidete sich in Trauer, und als der Ernst der Begräbnistage vorüber war, war er nur vorüber, um dem noch größeren Ernst erbschaftlicher Verhandlungen Platz zu machen. Es gab dabei die herkömmlichen Verstimmungen, ein Plus von Anspruch und ein Minus von Gewährungslust, was aber all diesen Verstimmungen erst die rechte Schärfe gab, war einfach ein Resultat der eigentümlich veränderten Situation, in der man sich durch den Todesfall des Vaters befand. Als ein Besuch, der um Nachsicht zu bitten hatte, war die schöne junge Schwägerin ins Haus gekommen, und ebendiese Schwägerin, die gestern noch beflissen gewesen war, allerlei kleine Huldigungen darzubringen, ebendiese war über Nacht in ihrer Eigenschaft als Gattin des ältesten Sohnes und nunmehrigen Chefs des Hauses in die vordere Linie gerückt, war eine Respektsperson geworden und nicht mehr dazu da, Huldigungen darzubringen, sondern umgekehrt entgegenzunehmen. Es scheint auch nicht, daß dieselben verweigert wurden, im Gegenteil, aber die diese Besuchstage besprechenden Aufzeichnungen der Lützburger Chronik lassen doch so viel erkennen, daß unsere Krautentochter schließlich nicht unfroh war, aus Ostfriesland scheiden zu können, und daß die Schwäger und Schwägerinnen noch weniger unfroh waren, sie scheiden zu sehen.
Im Oktober 1784 war das junge Paar wieder in der Mark zurück und teilte nun während der nächsten zwei, drei Jahre den Aufenthalt zwischen Berlin und Hoppenrade. In Berlin bewohnte man das auf der Jägerbrücke gelegene Bredowsche Haus, in welchem auch im Herbste 1785 eine Tochter geboren wurde: Sophie Oriane Constanze Friederike. Das Verhältnis zu der ostfriesischen Verwandtschaft blieb auch bei wiederholten Besuchen dasselbe, will sagen freundlich und förmlich, ohne daß es geglückt wäre, die Freundlichkeit in Herzlichkeit umzuwandeln.
Ob ein Glück im eigenen Hause dies aufwog? Es mag fast bezweifelt werden. Wohl war es eine gegenseitige Neigung gewesen, was sie zusammengeführt hatte, nebenher aber lief eine große Sinnes- und Charakterverschiedenheit: er war reserviert, mit einem Anfluge von Nüchternheit, sie sanguinisch, mit einem Anfluge von Gefallsucht. Das Leben bei Hofe, das ihn degoutierte, hatte für sie nicht bloß Reiz und Zauber, sondern war auch, aller trüben persönlichen Erfahrungen unerachtet, eigentlich das, wonach sie sich sehnte.
So waren wohl von Anfang an Differenzpunkte gegeben, aber möglich, daß es nichtsdestoweniger zu Verständnis und Ausgleich auf diesem Gebiete gekommen wäre, wenn nicht ein schweres Leiden, in das der Freiherr verfiel, ihm und alsbald auch seinem Hause jede Lust und Freudigkeit genommen hätte. Schon Ende 1787 traten Anzeichen einer bedenklich komplizierten Krankheit hervor, einer Krankheit, die sich zunächst in Taubheit und heftigen Ohrenschmerzen äußerte. Nach dem Rate der Ärzte wurde Spa versucht, aber erfolglos, und der Patient unterbrach alsbald seine Kur, um auf der Rückreise den berühmten braunschweigischen Leibarzt Ritter von Zimmermann zu konsultieren, der einige Zeit vorher auch an das Sterbebett König Friedrichs II. gerufen worden war. Wie kaum gesagt zu werden braucht, verordnete die konsultierte Berühmtheit das, was in aussichtslosen Fällen immer verordnet zu werden pflegt: »eine Reise nach dem Süden«, und diese Reise sollte denn auch eben begonnen werden, als die Nachricht eintraf, daß der letzte Löwenberger Bredow gestorben und der Augenblick für den Antritt des großen Erbes gekommen sei. Das wog denn freilich so schwer, daß die Reise, nötig oder nicht, vorläufig wenigstens zurücktreten mußte; dringendste Geschäfte forderten tagtäglich Erledigung, und die Reihe jener Aufregungen und Ärgernisse begann, die von Gutsübernahmen und Erbschaftsauseinandersetzungen unzertrennlich zu sein pflegen und wovon das, was einige Jahre vorher in Lützburg gespielt hatte, nur ein Vorschmack gewesen war.
Endlich aber war alles geregelt, und der jetzt im Besitz einer großen Doppelherrschaft, einer ostfriesischen und einer märkischen, stehende Freiherr hätte sich füglich auf der Höhe des Lebens fühlen müssen. Aber er stand nur angesichts des Todes, und als es das Jahr darauf, im Sommer 1789, kein Geheimnis mehr war, wie schlecht es stehe, traf, neben anderen Besuchern, auch sein Bruder Edzard auf dem Hoppenrader Schloß ein, um den schwer krank Darniederliegenden noch einmal zu sehn. Edzard war erschüttert von dem Anblick und schrieb tags darauf in die Heimat: »Ich fand ihn sehr verändert und konnt ihn kaum noch verstehn, weil auch seine Sprachorgane gelitten haben. Außerdem aber haben seine langen und heftigen Schmerzen im Kopf, dazu seine Schlaflosigkeit und der beständige Opiumgebrauch auf seine Seelenkräfte merklich eingewirkt und jenen hellen und glänzenden Verstand eingeschränkt, mit Hilfe dessen er sonst die schwersten Begriffe zu ordnen und überhaupt im Umgange mit der Welt so hervorragend zu gefallen wußte. Er hat nun oft Mühe, seine Gedanken so zu fügen, wie sie sich, seinem Wunsche nach, wohl fügen sollten, und gerät darüber in solchen Unmut, daß er es mehrmals vorzog, mitten im Sprechen abzubrechen. Ich habe wenig Hoffnung auf seine Wiederherstellung.«
In der Tat, eine solche Wiederherstellung war unmöglich; aber eine lange Leidenszeit war ihm doch nichtsdestoweniger noch vorbehalten. Er wurde sehr bald nach diesem Besuch, einer vorzunehmenden Operation halber, von Hoppenrade nach Berlin geschafft, indessen man stand hier von einem chirurgischen Einschreiten ab, als man das Übel in seiner Unheilbarkeit erkannt hatte. Es war Knochenfraß und Drüsenverhärtung. So konnt es sich nur noch um beständige Linderungen handeln. Er bekam Laudanum und Moschus. Öfters wurden die Wohnungen gewechselt, um ihn wenigstens nach Möglichkeit vor Straßenlärm zu schützen. Aber all das ergab nur ein Hinfristen. Er war so elend, daß selbst kein Fieber mehr eintrat, und am 25. Dezember 1789 entschlief er und wurde die Woche darauf im Krautschen Erbbegräbnis in der Nikolaikirche beigesetzt.
Auch hinsichtlich seines Charakters, genauso wie hinsichtlich der Charaktere seiner Schwiegereltern, also des Hofmarschalls von Kraut und der Gemahlin desselben, der späteren Madame de Verelst, gehen die zeitgenössischen Aufzeichnungen auseinander. Thiébault erwähnt des Barons mehrfach. »Unter den dem Prinzen Heinrich am aufrichtigsten ergebenen Personen«, so schreibt er, »befanden sich auch zwei Barone Knyphausen, von denen der eine, Baron Dodo von Knyphausen, längere Zeit preußischer Gesandter in Paris und dann in London gewesen war. Er führte den Beinamen ›der große Knyphausen‹ oder ›der alte‹ zur Unterscheidung von einem jüngeren Träger desselben illustren Namens, der einer der Kavaliere des Rheinsberger Hofes war und ›Le beau Knyphausen‹ hieß. Er hatte nicht nur den frischesten Teint und das feingeschnittenste Profil, sondern war überhaupt von einer apollonischen Schönheit; nur schade, daß ein kaltes, stolzes und etwas steifleinenes Wesen (peu compassé) seine große Schönheit wieder in Frage stellte.« Dieser »Le beau Knyphausen« ist der unsrige.
Thiébaults Worte lauten nicht allzu günstig, und der als »kalt und stolz« Bezeichnete wird unmaßgeblich seine Schwächen und Fehler gehabt haben, vielleicht sogar solche, die sich in der Gesellschaft sehr fühlbar machten. Andererseits ist es unmöglich, seine Briefe zu lesen, ohne von der Überzeugung erfüllt zu werden, daß er dem ganzen Rest der in dieser Tragikomödie mitspielenden Personen, Elliot an der Spitze, sehr überlegen war. Und so werden denn auch die von seinem Bruder in der Lützburger Chronik über ihn geschriebenen Zeilen sehr wahrscheinlich das Richtige treffen. Sie lauten: »Er war wie von einer vorzüglichen körperlichen Schönheit, so ganz besonders auch von einem hervorragenden und mit allerlei Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestatteten Verstande. Reisen und langer Umgang an Höfen hatten ihm die feinsten Umgangsformen gegeben, die den Verkehr mit ihm, wenigstens bis zum Eintritt seiner Krankheit, ungemein angenehm und anziehend machten.«
Im Einklange hiermit ist das, was sich im Hoppenrader Kirchenbuche (das übrigens, abweichend von der Lützburger Chronik, den 1. Januar 1790 als seinen Todestag angibt) über ihn aufgezeichnet findet. Es heißt daselbst wörtlich: »Am 1. Januar 1790 starb in Berlin Herr Georg Freiherr von Inn und Knyphausen, Majoratsherr der Herrschaft Knyphausen in Ostfriesland, Herr auf Hoppenrade, Löwenberg, Teschendorf, Grüneberg. Er verfiel vor zwei Jahren in schwere Krankheit, von der wieder zu genesen ihm nicht beschieden war. Er war ein vernünftiger und menschenfreundlicher Herr. Wenn ihm Gott das Leben und Gesundheit geschenkt hätte, würd er viel Gutes auf den hiesigen Gütern gestiftet haben.«
Ebenso günstig beurteilt ihn sein späterer Schwiegersohn von Wülknitz, der, bei den zahlreichen und andauernd von ihm geführten Prozessen (ich komme darauf zurück), aus einem intensiven Aktenstudium der Knyphausenschen Zeit all sein Lebtag nicht herausgekommen ist. Wülknitz schreibt über Knyphausen: »Er war ein tüchtiger, umsichtiger und charakterfester Mann, in betreff dessen es lebhaft zu bedauern bleibt, daß der Tod ihn so frühzeitig abrief.«
Alle ruhig Urteilenden sprechen in ähnlicher Weise für ihn.
Zum Schluß erübrigt nur noch ein Wort über seine Duellaffaire mit Elliot. Ich habe bereits hervorgehoben, und Knyphausen bestätigt es in seinen Briefen, daß sich die damalige Berliner Gesellschaft, und unter ihrem Einfluß auch das große Publikum, ungleich mehr auf Elliots als auf Knyphausens Seite stellte, was sich denn auch – und zwar ganz abgesehen von Elliots eminenter Begabung, alle Welt (nötigenfalls auch durch Lügen) auf seine Seite zu ziehen – einfach aus den Tatsachen heraus erklären läßt. Elliot, was immer seine Fehler sein mochten, war und blieb der gekränkte Ehemann. Das war eins. Was ihm indessen, weit über dies Maß einer immerhin fraglichen Teilnahme hinaus, eine ganz aufrichtige Bewunderung eintrug, das war, aller gegenteiligen Versicherungen unerachtet, der Fürstenberger Überfall, der Brutalakt »à la mode d’un assassin«. Er hatte Knyphausen zum Duell nach Kopenhagen hin zitiert, war ob dieser seiner Zitierung verspottet worden und erschien nun in seines säumigen Gegners Wohnung, um nicht bloß diesen, sondern, wenn es nötig sein sollte, die ganze Stadt Fürstenberg zum Kampfe herauszufordern. Was darin ungesetzlich und unsinnig war, übersah man gern, man sah nur die Waghalsigkeit und freute sich ihrer, und es hätte der Großsprechereien, an denen es Elliot wie gewöhnlich so auch diesmal nicht fehlen ließ, gar nicht bedurft, um ihn in einem glänzenden Licht erscheinen zu lassen. Wer übermütig hazardiert und zugleich für den nötigen Lärm sorgt, ist immer eine populäre Figur. Und eine solche war denn auch Elliot in dieser ganzen Affaire. Man sympathisierte mit ihm.
Aber sympathisierte man mit Recht? Ich glaube nein. Es ist der Haltung seines Gegners Knyphausen nur dann gerecht zu werden, wenn man Elliots Charakter beständig im Auge behält. »Er war ein Narr, der bei jeder ihm passend erscheinenden Gelegenheit ein Tobsüchtiger wurde.« So wird er geschildert, und diese Schilderung wird im wesentlichen richtig sein. Vielleicht hätte Knyphausen, als die Herausforderung zum Duell an ihn herantrat, besser getan, dieser Herausforderung zu folgen und nach Kopenhagen hin abzureisen. Er hätte seinem Gegner mit den Worten entgegentreten müssen: »Ihr Brief hat mich getroffen; hier bin ich. Ich bekenne mich gern und mit allem Nachdruck zu jedem Vorwurfe, den Sie mir machen. Ich hasse Sie. Sie haben Ihre Frau schlecht behandelt, was sag ich, schlecht, nein, als ein Nichtswürdiger, und voll Empörung darüber hab ich getan, was ich getan. Und nun bestimmen Sie Zeit und Ort.« Eine derartig freie Sprech- und Handelweise hätte meinem Geschmack mehr entsprochen, hätte frischeren Sinn und besseres Gewissen gezeigt; aber wenn eine solche Sprache bei Durchfechtung einer auf diesem Gebiete liegenden Affaire vielleicht überhaupt nicht gefordert werden kann, so gewiß nicht einem Elliot gegenüber, der, ohne jede Disziplin und Selbstkontrolle herangewachsen, nicht bloß aller möglichen Extravaganzen fähig, sondern auch mit Hilfe seiner gesandtschaftlichen Stellung in all seinen Extravaganzen so gut wie vorweg freigesprochen war.
So wird sich denn bei billiger und gerechter Würdigung aller Verhältnisse – darunter auch die Geldverhältnisse – mit Fug und Recht sagen lassen, daß Knyphausens Haltung im großen und ganzen nicht bloß eine richtige, sondern auch eine mutige war. Wenn sein Mut andre Formen hatte wie der seines Gegners, so kann ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden, auch dann nicht, wenn er bei dem Erscheinen Elliots in Fürstenberg und dem gleichzeitig erfolgenden Eindringen einer ganzen Rotte Bewaffneter einen Augenblick lang von der Vorstellung beherrscht gewesen sein sollte, »das ist ja eine verteufelte Situation, und ich wollt, ich wär aus ihr heraus«. Einem Maniac, einem Tollen gegenüber hat der bei Verstand und Ruhe Gebliebene nicht nur tatsächlich allemal ein mehr oder weniger bedrücktes und selbst ängstliches Gefühl, nein, er darf es auch haben. Es ist sein Recht. Allerdings ein Recht, das ihm der große Haufe nie zugestehen wird, am wenigsten aber der Flanellphilister, der von jedem, nur nicht von sich selbst, eine nie müde werdende Heldenschaft verlangt und Mutgeschichten nicht auf ihre menschliche Wahrscheinlichkeit, sondern immer nur auf sein allerpersönlichstes Gruselbedürfnis hin ansieht.
10. Kapitel
Die Krautentochter wird Frau von Arnstedt
Baron Knyphausen war im Krautschen Erbbegräbnis in der Berliner Nikolaikirche beigesetzt worden, und eine Woche lang läuteten allabendlich auch die Löwenberger Glocken und verkündeten dem umher liegenden Lande, daß der Gutsherr gestorben sei. Dann saß auch seine Witwe, die Krautentochter, am Fenster und sah in die Schneelandschaft hinaus, die lange Linie der Pappelweiden hinunter, aus deren Gipfeln einzelne Krähen in den dunkel geröteten Abendhimmel aufflogen.
Sie sah das alles und sah es auch nicht und ging die Rechnung ihres Lebens durch, dabei des Toten gedenkend, dem zu Ehren es draußen läutete. Trauerte sie? Vielleicht. Aber wenn sie trauerte, so geschah es, weil alles so traurig war; nicht aus Schmerz um ein hingeschiedenes Glück. Nein, sie war nicht geschaffen, einem Schmerz zu leben oder gar unglücklich zu sein. Und nun gar dieser Tod! War er denn überhaupt ein Unglück? Was er ihr mit Sicherheit bedeutete, hieß: Befreiung. Sie sagte sich’s nicht, aber es war so, trotzdem sie jeder guten Stunde gedachte. Gewiß, es war aus Liebe gewesen, daß sie sich gefunden hatten, und sie hatte Gott aufrichtig und von ganzem Herzen gedankt, einer doppelten Tyrannei, der eines exzentrischen Gatten und einer imperiösen Mutter, entrissen zu sein, wohl, er war ihr Retter gewesen und dazu schön und gesittet und klug. Ja, sehr klug sogar, und sie hatte sich seiner Überlegenheit gefreut. Aber dieser Klugheit und Überlegenheit war sie doch manchmal auch überdrüssig geworden, und als sich zu der unbequem werdenden geistigen Überlegenheit auch noch körperliche Krankheit und zu der körperlichen Krankheit ein bittres und menschenscheues Wesen zu gesellen begann, da hatte sie geseufzt, und die Liebe war geschwunden. Und was geblieben war, war Leid und Last.
All das überschlug sie jetzt und sah hinauf in den Abendstern, der eben durch die Dämmerung blitzte, blaß und zitternd, und sie frug ihn nach ihrem Glück. Und siehe, da war es, als ob er plötzlich heller aufleuchtete. War es der Stern? oder war es nur ihre Hoffnung, die sein Licht verdoppelte?
Zu Trost und Segen wurd es ihr, daß es viel zu tun gab. Alles Geschäftliche widerstritt eigentlich ihrer Natur, aber es war ihr jetzt willkommen, weil es ihr die Möglichkeit eines Verkehrs gewährte. Sie brauchte Leben und Menschen und sehnte sich um so mehr danach, je weniger ihr die nächste Verwandtschaft Anlehnung und Stütze bot. Nach Lützburg hin, an ihren Schwager Edzard, wurden wohl ein paar Briefe gerichtet, aber sie waren anders als zu Lebzeiten ihres ihren Stil und ihre Grammatik überwachenden Gatten und mochten bei dem Empfänger ein Lächeln wecken. »Es ist mir gesagt worden«, so hieß es in einem dieser Briefe, »daß in Lützburg versiegelt worden ist und daß diese Versiegelung vor neun Monaten nicht aufgehoben werden soll. Ich begreife, wie lästig dieses für Ihnen ist und so sagen Sie mir denn, liebster Bruder, ob ich an der Regierung soll schreiben lassen.« Am Berliner und auch am Rheinsberger Hofe waren diese Dativa nicht anstößig, aber in Lützburg ließen sie doch aufs neue fühlen, was der preußischen »Frau Schwester« fehlte, die, trotzdem sie »charmant« und voll natürlicher, vielleicht sogar überlegener Klugheit war, ihrem Benehmen und Wesen nach zu dem alten ostfriesischen Hause nicht recht passen wollte.
Wie sich um diese Zeit ihr Verhältnis zur eignen Mutter (wenn diese noch am Leben war) gestaltete, darüber erfahren wir nichts, ebensowenig darüber, um welche Zeit unsere »Krautentochter«, nunmehrige verwitwete Baronin von Knyphausen, ihr einsames Hoppenrade verließ, um wenigstens zeitweise wieder die Rheinsberger Luft zu atmen. Es kann aber kaum später als im Sommer 1790 gewesen sein, da wir sie schon vor Eintritt des Spätherbstes in Rheinsberg wieder verlobt und noch vor Abschluß des Jahres zum dritten Male verheiratet sehen. Verheiratet mit dem dem Prinz Heinrichschen Hofe zugehörigen Rittmeister von Arnstedt.
An die Sitte hatte man sich dabei nicht allzu rigorös gebunden, indem bereits vierzehn Tage vor Ablauf der Trauerzeit eine große Hochzeit ausgerüstet worden war, ausgerüstet von niemand Geringerem als dem Prinzen selbst, der bekanntlich eine große Vorliebe für Festlichkeiten hatte. Das war am 16. Dezember 1790 gewesen, und die Frau Baronin von Knyphausen war nun also Frau Rittmeister von Arnstedt.
Eigentlich war sie jetzt erst an ihrem Platz. An Elliot war sie durch Befehl, an Knyphausen, neben Dank und Liebe, durch die Verhältnisse gekommen; aber zu beiden hatte sie nicht recht gepaßt. Auch zu Knyphausen nicht. Er war ihr zu superior gewesen, zu klug, zu verständig, zu solide. Solche Vorwürfe ließen sich nun dem Rittmeister nicht machen. Er war hübsch und heiter, ein enfant gaté der Gesellschaft, ein bon camerade, ganz besonders aber kein Kopfhänger, vielmehr umgekehrt immer geneigt, einen Scherz zu machen und sich über das Morgen nicht zu grämen, solange nur das Heute noch allenfalls erträglich erschien. Das entsprach ihrer eigenen Natur. Vor allem war er weder Schotte noch Ostfriese, sondern ein allermärkischster Märker, der an Preußen und Rheinsberg glaubte, beides für etwas Besonderes hielt, ein Pferd über ein Buch, eine besetzte Tafel über ein Bild oder ein sonstiges Kunstwerk und einen Spieltisch über alles stellte. Das paßte. Nun gab es doch wieder Ausgelassenheiten, und an die Stelle von Elliotscher Eifersucht und Brutalität und nicht minder an die Stelle von Knyphausenscher Krankheit samt Trauer und Krepp (von Krepp, der ihr nicht einmal kleidete) konnte doch nun wieder ein Leben treten, ein Leben, das sich zu leben verlohnte. Sie lachte so gern. Und warum nicht? War sie doch noch jung. Ihr neunundzwanzigster Geburtstag fiel in die Flitterwochen ihrer dritten Ehe.
So gingen ihre Hoffnungen, und es scheint, daß sie sich erfüllten, obwohl speziell in dem, was ihr Glück ausmachte, die Keime künftigen Unglücks bereits erkennbar waren. Aber ihrem Auge waren sie’s nicht, und so wird sich denn von dem ersten Jahrzehnt ihrer dritten (von Arnstedtschen) Ehe wie von einer Reihe glücklicher und beinah ungetrübter Jahre sprechen lassen. Unbedingt waren es die glücklichsten ihres an Wechselfällen so reichen Lebens. Es wurden Kinder geboren, deren man sich freuen konnte, weil sie hübsch waren und gediehen und der Eitelkeit der Eltern immer neue Nahrung gaben. Aus den Gütern aber mehrten sich die jährlichen Erträge. Dabei verband ein reger und beinah unausgesetzter Verkehr all jene kleinen und großen, über die ganze Grafschaft Ruppin hin ausgestreuten Edelsitze, die damals als die Dependancen und Außenwerke von Rheinsberg gelten konnten, und wenn heute die mit vier Schimmeln bespannte Chaise von Hoppenrade nach Köpernitz im Sande mahlte, so ging es morgen auf Meseberg und den dritten Tag auf Wulkow oder Wustrau zu. Heute war es die schöne Kaphengst, morgen die schöne La Roche-Aymon, der man huldigte, bis sich der Besuchszirkel in dem reichen und gastlichen und deshalb neben Rheinsberg tonangebenden Hoppenrade wieder schloß.
Eigentliche Festins aber gab es nur dann, wenn der »Prinz« in Person, und zwar in formellster Weise, seinen Besuch angesagt hatte. Dann galt es, ihn zu »surprenieren« und dem Meister im Festarrangement, wenn nicht gleich-, so doch nahezukommen. Und hierin exzellierte Frau von Arnstedt. Eine dieser Feiern lebt noch fort in der Erinnerung der Enkel. An der Granseer Straße hin, eine Viertelmeile südlich von Hoppenrade, zieht sich der »Harenzacken-Wald«, ein damals und vielleicht auch heute noch reich bestandener Forst, in den man, an einem dieser Besuchstage, den Prinzen zu führen und es derartig einzurichten gewußt hatte, daß sich Monseigneur in Wald und Abenddämmer verirren mußte. Verzeihungen wurden erbeten, Entschuldigungen gestammelt, bis man endlich auf eine mit Erlengebüsch überwachsene Wiese hinaustrat. Da wurd es plötzlich hell und licht, und ehe sich der Prinz von seinem Erstaunen erholen konnte, stand der Waldrand um ihn her in mehr als tausend Lichtern, denn alles, was auf den umliegenden Gütern wohnte, war aufgeboten und an die Bäume postiert worden, um in einem einzigen Moment eine Beleuchtung der Waldwiese mit buntfarbigen Lampen in Szene setzen zu können. Da küßte der Prinz der schönen Frau die Hand und erklärte sich für besiegt, und eine Woche lang zehrte man von diesem gnädigen Wort und fühlte sich gehoben in der Idee, nicht umsonst gelebt zu haben.
Auch von Berlin her kam Besuch, und wenn es junge Frauen waren und die Jahreszeit es gestattete, so ging es bei Sonnenuntergang oder auch wohl in aller Morgenfrühe nach »Mon Caprice« hinaus, welchen Namen ein Badetempelchen, ein Pavillon führte, den Frau von Arnstedt am Ufer eines von Schilf und hohem Werft umstandenen Seetümpels errichtet hatte. Da hinaus ging es, um zu baden und zu plätschern und allerhand Spiele zu spielen. In dem Schilf- und Werftgürtel standen alsdann die jüngeren Gefährtinnen und hielten sich an dem herniederhängenden Gezweige, während Frau von Arnstedt, eine brillante Schwimmerin, über den See schoß und die Losung gab, ihr zu folgen und sie zu haschen. Und nun schwamm und jagte man ihr nach und zog den Kreis immer enger, aber im selben Augenblicke, wo man sie schon umstellt und gefangengenommen glaubte, schlüpfte sie durch und entkam siegreich bis an die rettende Tempelschwelle. Das gab denn ein Lachen und ein Bewundern, und in Rheinsberg und an den Prinz Heinrichschen Edelhöfen, an denen nichts so voll und üppig in Blüte stand als die Medisance, medisierte man wieder von »Diana und ihren Nymphen«.
Aber es waren nicht Zeiten, um durch Scherze der Art empfindlich berührt oder in irgendeiner guten Laune gestört zu werden.
Im Gegenteil.
Alles war Lust und das Leben ein Feiertag.
11. Kapitel
Die Krautentochter kommt in schweres Leid
Aber dieser Feiertag ging zu Rüste.
Den 3. August 1802, als man überall in den Rheinsberger Dependancen und nicht zum wenigsten in Schloß Hoppenrade festlich zu Tische saß, um den Geburtstag König Friedrich Wilhelms III. in Wein und Rede zu feiern, erschien ein Bote mit einem Flor um Hut und Arm und brachte Meldung, daß »Monseigneur« in vorhergehender Nacht aus dieser Zeitlichkeit geschieden sei. Da wandelte sich das Festmahl in ein Trauermahl, weil alle fühlten, daß ihnen ein guter Herr und wahrer Freund genommen sei, der nicht bloß philanthropische Sentenzen hergesagt und klugen Rat gegeben hatte, nein, der auch half und Fürsprache tat und immer verzieh. Und aufrichtige Tränen flossen ihm, auch bei denen, die sich längst der Tränen entwöhnt hatten, und als endlich die Grabpyramide fertig und der große Grabstein mit der berühmt gewordenen Inschrift: »Jetté par sa naissance dans ce tourbillon de vaine fumée, / Qui le vulgaire appelle / Gloire et grandeur, / Mais dont le sage connait le néant«, in das Grabmal eingelassen war, da war ein Trauern im ganzen Lande Ruppin, und alles fuhr heim und hatte seiner Schwatzhaftigkeit ein Maß, denn jeder wußte, daß man in dem heimgegangenen Freunde den letzten Großen aus einer großen Zeit begraben hatte.
Niemand aber wußt es besser als unsere Krautentochter, und in ihrem Herzen regte sich die Vorstellung, daß ein Wendepunkt für sie gekommen sei, bald vielleicht, und daß eine Reihe böser Tage vor der Türe stehe.
Wirklich, sie kamen.
Es begann daheim, im eigenen Hause. Sie hatte kein Glück mit den Männern, wenigstens nicht in der Ehe. Der Rittmeister war ein Mann nach ihrem Sinne gewesen, als sie, verwitwet und vertrauert, an seiner Lebenslust sich aufgerichtet hatte. Das alles aber lag jetzt eine gute Weile zurück. Ihre Temperamente hatten miteinander gestimmt, nichts mehr, nichts weiter, und wenn sie vorher jahrelang in einer gewissen Verdrossenheit zu dem ostfriesischen Baron, ihrem zweiten Manne, hinaufgeblickt hatte, so sah sie jetzt auf diesen dritten herab. Und auch das wollt ihr nicht gefallen. Wohl war sie das Kind ihrer Zeit und verabscheute nichts mehr als die Langeweile gelehrter Allüren, aber zu gleicher Zeit entbehrte sie doch keineswegs eines feineren ästhetischen Sinnes, und wenn ihr Gründlichkeit verhaßt war, so war es ihr Seichtheit und Oberflächlichkeit noch mehr. Oberflächlichsein war nur statthaft oder ein Vorzug, wenn es sich mit Witz und guter Laune paarte. Davon hatte der Rittmeister seinerzeit ein freundlich und bescheiden Teil gehabt. Aber das war längst aufgezehrt, und sie litt jetzt unter seiner Unbedeutendheit und Schwäche. Möglich nichtsdestoweniger, daß sich ihr Leben in jenem wohlbekannten Halbzustande von Nicht-glücklich- und Nicht-unglücklich-Sein über den Rest der Tage hinweggeschleppt hätte, wenn nicht unmittelbar fast nach dem Tode des bis zuletzt einen gewissen Kontrolleinfluß ausübenden Prinzen eine Verschlimmerung und bald danach eine Zeit völligen Niedergangs bei von Arnstedt eingetreten wäre. Wo früher nur das Gute gefehlt hatte, zeigte sich jetzt auch das positiv Schlechte, laut werdende Vorwürfe verdarben es völlig, und eh abermals ein Jahr um war, war aus dem lustigen Rat und liebenswürdigen Gesellschafter ein Trinker und Spieler geworden, ein nur noch Halbzurechnungsfähiger, über dessen traurigen Lebensausgang in einem folgenden Kapitel zu berichten bleibt.
Und das Unglück, wie das Sprichwort sagt, kommt nie allein. Auch hier nicht. Um dieselbe Zeit, wo die Sorgen um den Mann sich mehrten, mehrten sich auch die Sorgen um Gut und Habe, weil der, wie schon vorstehend erzählt wurde, fast vom Momente der Besitzergreifung an über Löwenberg und Hoppenrade schwebende Prozeß inzwischen nicht nur überhaupt angestrengt, sondern auch von Jahr zu Jahr immer energischer und bedrohlicher in Angriff genommen worden war. Die Bredows verlangten ihr ihnen wegtestiertes Erbe zurück.
An der gerichtlichen Entscheidung dieser Frage hing Leben und Sterben.
12. Kapitel
Die Krautentochter stirbt
Die Gefahr ging vorüber.
Der 1791 begonnene Prozeß ward 1809 zugunsten der Krautentochter entschieden.
Aber soviel Grund zu Dank und Freude vorliegen mochte, durch diesen Entscheid vor einem Äußersten bewahrt geblieben zu sein, sowenig Grund lag doch überhaupt zu Dank und Freude vor. Es waren durchweg traurige Zeitläufte, Kriegsbeunruhigungen und Truppendurchzüge nahmen kein Ende, Gesindel aller Art fiel lästig, und Strolche, denen man ein Almosen oder ein Nachtquartier verweigerte, ließen die Scheunen und Kornmieten in Feuer aufgehen. Unglück über Unglück. Aber zu Kalamitäten wie diese, die damals allgemein waren, gesellten sich für unsere Krautentochter doch noch besondere: der Hausfrieden schwand immer mehr, und mit dem Ehemanne, dessen Wandel seit Jahr und Tag im Niedergange war, wurd es schlimmer und schlimmer. Es zeigten sich Geistesstörungen, und neben einer äußerlichen erwies sich schließlich auch eine gesetzliche Scheidung als unerläßlich. In welchem Jahre diese stattfand, hab ich nicht mit Bestimmtheit in Erfahrung bringen können, doch muß es annähernd um dieselbe Zeit gewesen sein, in der sich der Prozeß entschied. Wenigstens find ich in einer Taufpatenaufzeichnung unteren 28. September 1809 das Folgende: »Frau Luise , geschiedene von Arnstedt, geborene von Kraut«. Im Herbst genannten Jahres also war die Scheidung bereits ausgesprochen.
Dies Fakt an sich konnte, wie die Dinge lagen, unmöglich als ein Unglück gelten, im Gegenteil. Aber was mit dem geschiedenen Ehemanne beginnen? Das gab eine neue schwere Sorge. Privatinstitute, wie sie jetzt existieren, existierten damals noch nicht, und ihn, den von A., einer jener allgemeinen, in jener Zeit noch nach einem gewissen Schreckenssysteme verwalteten Irrenanstalten anzuvertrauen, widersprach durchaus dem feinen Sinn unserer Krautentochter und fast mehr noch ihrem gütigen Herzen. Endlich indes einigte man sich dahin, ihn in einem Predigerhause, gegen hohe Zahlung, unterzubringen, und gab ihn auch bald danach nach einem in Nähe von Fehrbellin gelegenen Dorfe hin in Pension. Dies Dorf war Hakenberg, und in der Pfarrpension daselbst hat er noch an die vierzig Jahre gelebt. Im Hakenberger Kirchenbuch findet sich folgende Stelle: »Herr Karl Heinrich von Arnstedt, Rittmeister außer Dienst, starb neunundsiebzig Jahre alt am 30. Mai 1847 und ist am 2. Juni selbigen Jahres auf dem Kirchhofe bei der Kirche begraben worden.« Zweien Briefen aus Dorf Hakenberg darf ich noch folgendes entnehmen: »Alte Leute hier erinnern sich noch sehr wohl des Rittmeisters von Arnstedt. Er soll bald nach 1813 von Hoppenrade her zu Prediger Drake gekommen sein und hat dort bis zu seinem Ende gelebt. Er war ein schöner, großer Mann, freundlich und gesprächig, aber sofort wütend, wenn das Gespräch auf die Franzosen kam. Er haßte sie, weil ihm seine Frau durch einen französischen Offizier entführt worden war. Auch ist derselbe nie wieder nach Hoppenrade zurückgekehrt. Wegen seiner aufgeregten Gemütsart war stets ein Wärter um ihn, der ihn auch auf seinen Spaziergängen begleitete. Während der ersten Jahre wurd er öfters von seinen Brüdern besucht, später nicht mehr. Er starb im Pfarrhause. Geboren war er in Liebenberg.«
Ein zweiter Brief bestätigt das in vorstehendem Gesagte: »Der Familie von Arnstedt lag daran, den Rittmeister von A. nicht in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht zu sehen; so gab man ihn denn zu dem hiesigen Pastor in Pension. Die Küche der Frau Pastor Drake jedoch soll ihm wenig zugesagt haben, weshalb es oft vorkam, daß er das Essen ohne weiteres zum Fenster hinausschüttete. Bemerkte das eine dem Pfarrhofe gegenüber wohnende, sehr gutmütige Pachtersfrau, so wurd ihm von dieser oder ihrem Töchterchen heimlich ein Töpfchen Kaffee gebracht, wofür er immer sehr dankbar war. Er war ein großer, schlanker Herr von durchaus militärischer Haltung und hing, solang er rüstig war, seinen fixen Ideen mit einer gewissen Energie nach. Auf seinen Spaziergängen sprach er viel vor sich hin, empörte sich über die ›französischen Spitzbuben‹ und fuchtelte dabei mit seinem Stock umher. Begegneten ihm dann Kinder, so wurd er ruhig und gab ihnen kleine Stückchen von seinem Frühstückszucker, den er sich zu diesem Zweck absparte. Hart am Wege, zwischen dem Turm und dem Kirchhofseingang, ist er begraben worden. Ein Denkmal fehlt. Ein Wärter, der ihn bewachte, hatte nur Tagesdienst und ging abends in sein Tagelöhnerhäuschen nach Linum zurück.«
Das ist alles, was ich von dem schmucken Rittmeister, dem einst verwöhnten Liebling der Rheinsberger Gesellschaft, erfahren konnte.
Wunderbare Wege! Die Hinterlassenschaft der beiden geisteskranken Bredows war unter Fehlern, um nicht zu sagen unter direkten Unzulässigkeiten, aus der Bredowfamilie wegtestiert worden, und der erste, der in den Mitgenuß dieses unter mindestens zweifelhafter Berechtigung angetretenen Erbes eintrat, erlag demselben Los und wurde geistesgestört wie sie »zu Tode gefüttert«.
Im Hoppenrader Schloß atmete man inzwischen auf, aber nur eine kurze Weile; der Zug gegen Rußland und die Kriegsoperationen, die folgten, sogen aufs neue das Land aus, und wer nicht fest im Sattel saß (wie beispielsweise der alte Hertefeld auf dem benachbarten Liebenberg), der erlag unter einer Last von Schulden. Unter diesen Schwerbedrängten und fast Erliegenden war auch unsere Krautentochter, und gleich nach dem Kriege bot sich ihr nur ein einzig Mittel noch, um sich zu hatten: der Wald. Es mußte niedergeforstet und alles zu Gelde gemacht werden, und derselbe Harenzacken-Wald, der einst, in zurückliegenden Tagen, der Schauplatz unvergeßner Triumphe gewesen war, er fiel jetzt unter der Axt der Holzschläger, und die schönen Stämme wurden verschleudert, um einigermaßen die Mittel für ein auch jetzt noch auf vornehmem Fuße geführtes Leben herbeizuschaffen. Von in Betracht kommenden Erträgen aus der Landwirtschaft konnte keine Rede sein in einer Zeit, wo der Scheffel Roggen einen Taler und unter Umständen auch nur einen Gulden kostete.
So war denn »Geld und wieder Geld« die Losung im Leben unserer Hoppenrader Erbherrin geworden, und einer ihrer Untergebenen, ein Förster, dem sie durch ihren Einfluß nicht bloß einen höheren Titel erwirkt, sondern zu dessen Klugheit und Umsicht sie gleichzeitig ein großes Vertrauen hatte, war ihr dabei zu Willen. Es war dies der Oberförster oder Forstinspektor Görwitz, ein Lebemann, frank und frei, der aller Welt gefiel, vor allem auch seiner Herrin, und ein Jahrzehnt lang oder länger eine Försterexistenz führte, von der noch jetzt gesprochen wird und die damals in der halben Grafschaft Ruppin eine Mischung von Neid und Bewunderung erregte. Mit Hilfe der ihm unterstellten Forsten, deren Gesamtheit mehr als 9000 Morgen umfaßte, war er der eigentliche »Mann der Situation«, ja, in gewissem Sinne der große Financier der Löwenberg-Hoppenrader Herrschaft geworden und lebte denn auch seinerseits im Vollbewußtsein dieser seiner Machtstellung auf dem Fuße der haute finance. Zweimal wöchentlich führten ihn Geschäfte, wirkliche oder vorgebliche, nach Berlin, und im elegantest aufgeschirrten Jagdwagen oder noch lieber in einer in Löwenberg genommenen Extrapost fuhr er um elf Uhr vormittag bei Lutter und Wegner vor, um ein Gabelfrühstück zu nehmen. Aber der Nachmittag kam und ging, und am Abend hielten und warteten die Pferde noch, und erst wenn die Theater aus und das Neueste, das die »Habitués« aus dem Schauspielhause mit herüberbrachten, unter den Kommentaren der Witzköpfe mit durchgeredet war, ging es um mitternächtige Stunde wieder bis in seine Försterei zurück.
Die war nun selber keine »Försterei« mehr, sondern präsentierte sich als ein villenartiges Landhaus, auf dessen Vorplatz allerlei seltene Pflanzen im Freien oder in großen Kübeln standen: Aloe, Hortensien und Georginen, die gerade damals in die Mode gekommen waren.
Alles das unter Zustimmung seiner Herrin, die klug und recht tat, ihn gewähren zu lassen. Denn er hatte neben dem raschen Blick auch die glücklich rücksichtslose Hand des Lebemannes und half, eben weil er der war, der er war, ohne Skrupel und Schwerfälligkeiten über den Tag hinweg. Und »après nous le déluge«.
Und wirklich, als die Sündflut kam, war es »après«, und die lebenslustige Dame, die nicht sparen und marchandieren und, aller wachsenden Lebensnot unerachtet, auch nicht entbehren oder gar entsagen gelernt hatte, war nicht mehr unter den Lebenden. Am 13. September 1819 starb sie während ihres Aufenthalts in Berlin und wurde, wie’s einer »Krautentochter« zukam, im Krauten-Erbbegräbnis zu Sankt Nikolai beigesetzt. Mutmaßlich als die letzte, die diesen Namen geführt. Sie war ihres Alters siebenundfünfzig Jahre und hinterließ eine beträchtliche Last persönlicher Schulden, weil ebendiese Schulden auf ihre Güter, die Fideikommißgüter waren, nicht eingetragen werden konnten.
Es hatte sich ein reiches und bewegtes Leben geschlossen. Ob auch ein glückliches? Alles in allem, ja. Sie verstand die Kunst, den Augenblick zu genießen und sich das, was die Stunde bot, durch Zukunftsbetrachtungen oder gar durch Zukunftsbefürchtungen nicht allzusehr trüben zu lassen. Sie war sanguinisch und erfreute sich der Vorzüge dieses Temperaments.
Es liegen mir hinsichtlich ihres Charakters allerhand Aussprüche vor. Am ungünstigsten lautet das, was Thiébault in seinen »Souvenirs« über sie sagt. Aber Thiébault war nicht von der Partei der »Krautentochter«. Überdies, als diese sich – und zwar weit über das Ansehen ihrer Mutter, der Madame de Verelst, hinaus – im Jahre 90 in Rheinsberg retablierte, war Thiébault längst aus Preußen nach Frankreich zurückgekehrt. Er spricht anerkennend nur von ihrer Schönheit (»elle était sans contredire la plus belle personne de ce pays-là«), versichert aber an selber Stelle, »daß sie leichtfertig, kapriziös und eigentlich beschränkt gewesen sei«. Dies trifft nun sicherlich nicht zu, und der Sohn Thiébaults, General in der französischen Armee, hielt es, bei Publizierung einer späteren Auflage der »Souvenirs« seines Vaters für angemessen, in einer Anmerkung einen im Jahre 13 geschriebenen Brief abzudrucken, der ihm behufs Richtigstellung dieser Dinge zugegangen war. »Die frühre Frau von Elliot«, so heißt es in dieser kritikübenden Zuschrift, »ist weit entfernt davon, eine beschränkte Dame zu sein, so weit, daß vielmehr umgekehrt ihre zahlreichen Erfolge mehr noch ihrem Esprit als ihrer Schönheit zuzuschreiben sind. Und bis zu dieser Stunde noch erfreut sie sich des Vorzuges, in ihrem Auftreten ebenso gefällig zu sein wie tatsächlich zu gefallen.«
Hiermit stimmt auch das Bild überein, das in dem weiten Zirkel ihrer Verwandtschaft von ihr fortlebt. In einer mir zugehenden Zuschrift heißt es: »Sie war der Typus einer Grande Dame des vorigen Jahrhunderts und hatte viel Verwandtes mit der entzückenden Gräfin La Roche-Aymon (geborene von Zeuner), die mit ihr gleichzeitig am Rheinsberger Hofe glänzte. Doch war sie dieser letzteren – an der, außer ihrer Schönheit, nur eine gewisse Naivetät des Nicht-Wissens hervorleuchtete – durch Esprit und ein natürliches Verständnis für Dinge der Kunst und Literatur überlegen.«
Über all das, was ihr fehlte, geben die mehr zu Beginn dieses Aufsatzes mitgeteilten Briefe, die Baron Knyphausen an seinen Vater schrieb und aus denen ich seinerzeit alles Wichtigste mitgeteilt habe, den genausten Aufschluß. Aber fast möcht ich die darin Geschilderte mehr noch und entschiedener in Schutz nehmen, als es seitens ihres damaligen, ihr »heimlich« und »versuchsweis« angetrauten Gatten geschah. Indem er sie verteidigt, klagt er sie doch zugleich auch an, und dieser Ton klingt überall durch. Er persönlich mochte dazu berechtigt sein, ebensosehr seiner seriösen Natur als seiner aparten Lage nach, wir Nachlebenden aber können milder und in dieser Milde vielleicht auch gerechter sein. Ist es richtig (und es wird richtig sein), daß sie der Typus einer »vornehmen Dame« des vorigen Jahrhunderts war, so liegt uns die Pflicht ob, sie nicht bloß aus ihrer Epoche, sondern vor allem auch aus ihrem Gesellschaftskreise heraus zu beurteilen, will sagen aus einem Kreise heraus, darin der Charakter nicht viel und die Tugend noch weniger bedeutete und in dem, bei Beurteilung schöner Frauen, über vieles hinweggesehen werden durfte, wenn sie nur über drei Dinge Verfügung hatten, über Schönheit, Esprit und Charme.
13. Kapitel
Der Krautentochter Deszendenz
Als Frau von Arnstedt, verwitwete Baronin Knyphausen, geschiedene von Elliot, am 13. September 1819 gestorben war, hinterließ sie Kinder aus allen drei Ehen. Und zwar
Aus der Ehe mit Hugh Elliot
1) Luise Isabelle von Elliot. Dieselbe wurde wahrscheinlich 1779 geboren, da die Verheiratung ihrer Mutter mit Elliot im Jahre 1778 stattfand. Als Ende Juli 1783 die gerichtliche Trennung erfolgte, wurde nachstehende Festsetzung getroffen: »Madame Elliot, geborne Baronesse von Kraut, verspricht ihrer Tochter Luise Isabelle von Elliot ein Kapital von 25 000 Talern in Gold sicherzustellen, und zwar derart, daß an dem Tage, wo Madame Elliot in den Besitz des Bredowschen Erbes (Hoppenrade-Löwenberg) eintritt, obiges Kapital von 25 000 Talern auf der königlichen Bank deponiert werden muß.«
Gemäß dieser Anordnung wurde denn auch, als der vorgesehene Fall eintrat, verfahren. Zu welcher Zeit das Geld erhoben worden ist, ist aus den Aufzeichnungen nicht ersichtlich. Miß Elliot aber vermählte sich später mit einem Mr. Payne. Weitere Schicksale nicht bekannt.
Aus der Ehe mit Baron Knyphausen
2) Sophie Friederike Oriane Constanze, geboren 1785. Sie war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit dem Landrat von Schwerin, in zweiter Ehe mit dem Rittmeister, späteren Major Freiherrn von Kettler auf Jeesch-Kittel. Aus beiden Ehen wurden je drei Kinder geboren.
Der Tod der Frau von Kettler kann nicht vor 1856 erfolgt sein, in welchem Jahre sie noch an weiterhin zu nennenden Erbschaftsverhandlungen teilnahm. Sie war eine kluge Dame, praktisch, energisch und in allen Stücken mehr ihres Vaters (Baron Knyphausens) als ihrer Mutter Tochter. Ihren zweiten Gatten, von Kettler, verlor sie auf tragische Weise. Kettler war 1830 aus dem preußischen in den russischen Dienst getreten und machte die gleich darauf ausbrechende Campagne gegen Polen mit. In der Schlacht bei Grochow wurd er erheblich verwundet und gefangengenommen. Als man ihn auf einem Wagen nach Warschau brachte, drängte sich der Pöbel heran und heulte und johlte; einer aber stieg auf das Wagenrad und spie ihm ins Gesicht. Ein Faustschlag war Kettlers Antwort. Aber freilich war es auch das Signal, um über ihn herzufallen und ihn buchstäblich zu zerreißen. – Auch seinem ältesten Sohn war ein jäher Tod vorbehalten. Ein herabstürzender schwerer Baumast erschlug ihn.
Aus der Ehe mit Rittmeister von Arnstedt
3) Henriette Sophie Rosalie. Verheiratete sich um das Jahr 20 (oder vielleicht auch schon zu Lebzeiten der Mutter) mit dem Baron von Wülknitz und starb 1861 im Bade zu Doberan. Auf dies von Wülknitzsche Paar komm ich am Schlusse des Kapitels zurück.
4) Mathilde Julie Friederike war 1802 geboren. Vermählte sich 1826 mit Hans von Oertzen auf Ankershagen, Schloßhauptmann und Kammerherr in Neustrelitz. † 1878.
5) Heinrich Adolf Friedrich von Arnstedt. Wahrscheinlich 1796 geboren. Er trat unter Major von Sohr ins brandenburgische Husarenregiment und machte die Kriege von 1813 bis 15 mit. An dem Unglückstage von Versailles (Juli 1815), an dem auch der junge Yorck fiel, war er mit unter den Verwundeten. In die Heimat zurückgekehrt, entschied er sich für Verbleib im Regiment und suchte durch ein Leben auf großem Fuß über die Langeweile des kleinen Dienstes und über die noch größere der kleinen Stadt (abwechselnd Beeskow, Düben, Kemberg) hinwegzukommen. Natürlich war er beliebt und ein »guter Kamerad«. Er überschätzte sein Vermögen sehr, weil er den Wert von Hoppenrade-Löwenberg, als deren eigentlichen Erben er sich trotz der Existenz seiner drei Schwestern betrachtete, viel zu hoch anschlug, und erschrak erst, als in der Mitte der dreißiger Jahre die Pachtsummen ausblieben und die helle Not vor der Tür stand. In persönliche Schulden verstrickt, nahm er als Major den Abschied und lebte zurückgezogen in Oranienburg oder in Nähe desselben. Anfang der vierziger Jahre befiel ihn eine Krankheit, und er starb unter traurigen Verhältnissen in der Charité.
Die letzten dreißiger Jahre waren überhaupt Unglücksjahre für das Haus Arnstedt, und wohin man um die genannte Zeit in Mark Brandenburg auch blicken mochte, mit vielleicht alleiniger Ausnahme des von Arnstedt auf Groß-Kreuz, überall sah man die Familie von Leid und schweren Schicksalsschlägen getroffen. Ob verschuldet oder nicht, änderte wenig. In Hakenberg, wie schon erwähnt, pflegte man einen alten von Arnstedt zu Tode, während in Oranienburg ein jüngerer (der Sohn jenes Alten) in Bitterkeit auf ein verfehltes Leben zurückblickte. Trauriger aber als alles war die Geschichte vom Fähnrich von Arnstedt, die sich um ebendiese Zeit, Winter 1836 auf 1837, in Frankfurt a. O. abspielte. Wir kommen am Schluß dieses Abschnittes ausführlicher darauf zurück, während es zunächst, in unsrem 14. Kapitel, uns obliegen wird, die Geschichte des Krautenerbes zum Abschluß zu bringen.
14. Kapitel
Hoppenrade von 1819 bis jetzt
Hoppenrade kommt unter ein Kuratorium (von Rabe) und wird an den Amtmann Haupt verpachtet. 1819–36
Nach dem Ableben der Frau von Arnstedt (1819) hätte der einzige Sohn derselben, der vorerwähnte, damals in Düben stehende Husarenlieutenant von Arnstedt, die Güter übernehmen und jeder seiner drei Schwestern ihren Anteil auszahlen oder verzinsen müssen. Er empfand indes, daß er weder der wirtschaftlichen noch der geschäftlichen, am allerwenigsten aber einer sich vielleicht erhebenden finanziellen Schwierigkeit auch nur annähernd gewachsen sei, weshalb er sich mit seinen Schwestern dahin einigte, daß man dem Landrate Grafen von Wartensleben und neben diesem dem Kammerdirektor von Rabe eine Generalvollmacht über Hoppenrade-Löwenberg erteilen und ihr und der Güter Schicksal in die Hände dieser beiden Kuratoren niederlegen wolle. Graf Wartensleben war nur ein Name, der Kammerdirektor von Habe jedoch, der von jetzt ab in seiner Kuratoreneigenschaft auf fast vierzig Jahre hin erst in den Vordergrund und später wenigstens in die Mitte der Szene tritt, unterzog sich seiner Aufgabe mit Ernst und Eifer, wenn auch zeitweise mit nicht ausreichendem Erfolg, und schritt sofort zur Verpachtung der großen Güterkomplexe. Hoppenrade, das uns hier ausschließlich interessiert, kam bei dieser Gelegenheit an den Amtmann Haupt in Pacht, einen renommierten Landwirt, und nach dem Tode desselben an den jüngern Haupt. Aber weder der eine noch der andere, von Förderung der Kulturen gar nicht zu sprechen, zeigte sich auch nur imstande, den Betrieb au niveau zu halten. Unter dem älteren Haupt waren wenigstens die Pachtzahlungen immer noch prompt geleistet worden, unter dem jüngeren nahm auch das ein Ende. Ja, der eintretende Verfall war ein so vollkommener, daß nicht einmal mehr die Steuern und Abgaben bezahlt werden konnten. So kam es denn, daß sich 1836 der Pächter, der jüngere Haupt, für insolvent erklärte.
Hoppenrade bleibt unter dem Kuratorium von Rabe, wird aber, statt an die Familie Haupt, an den Kammergerichtsrat von Wülknitz verpachtet. 1836–56
Die Folge dieser Insolvenz wurde notwendig die Sequestration der Güter gewesen sein, wenn nicht, in so bedrängter Lage, der Kammergerichtsrat Otto von Wülknitz, einer der Schwiegersöhne der Frau von Arnstedt, ein kühnes und kluges Spiel gespielt und dadurch sein und seiner Anverwandten Vermögen gerettet hätte. 1836 trat er, ohne sich durch die Hauptsche Bankrutterklärung abschrecken zu lassen, in die Pacht ein und schritt ungesäumt zur Wiederherstellung einer auf jedem Gebiete devastierten Wirtschaft.
Er würde dies, bei den bedeutenden Mitteln, die dazu nötig waren, einfach nicht gekonnt haben, wenn ihm nicht kurz vorher ein kleines, aber ziemlich wertvolles Gut, das Gut Hohenthurm bei Halle, durch Erbschaft zugefallen wäre. Er verkaufte Hohenthurm für 80 000 Taler, teilte diese Summe mit seiner miterbenden Schwester, einer Frau von L’Estocq, und warf nun den ganzen ihm verbleibenden Rest von 40 000 Talern in Hoppenrade hinein. Alles gewann dadurch rasch ein anderes Ansehen, und schon Anfang der vierziger Jahre ließ sich an einem zufriedenstellenden Resultate nicht mehr zweifeln, immer vorausgesetzt, daß der Ausgang des 1809 erst vorläufig abgeschlossenen und seitdem von seiten der Familie von Bredow wieder aufgenommenen Erbschaftsprozesses nicht alles wieder in Frage stellte. Wülknitz indessen, ein eminent kluger Mann und speziell durch seine juristische Kenntnis unterstützt, erwies sich auch auf diesem Gebiet als glücklich und überlegen und hatte den Triumph, eine hüben und drüben mit Aufwand aller Kraft geführte Streitsache zum zweiten Male zu seinen und seiner Anverwandten Gunsten entschieden zu sehen.
Das war im Sommer 1848. Von diesem siegreichen Prozeßschluß an, der endlich einen bis dahin nie dagewesenen Sicherheitszustand geschaffen hatte, durchdrang ihn nur noch der eine Wunsch, das bis dahin lediglich in Pacht gehabte Hoppenrade zu seinem freien Eigentum zu machen. Dazu waren, voraufgehend, drei Dinge nötig,
erstens: Zustimmung der Familie behufs Aufhebung der Fideikommißeigenschaft von Hoppenrade,
zweitens: entsprechender Antrag und Durchsetzung dieses Antrages bei den Gerichten und
drittens: Abfindung aller Gläubiger aus den alten von Arnstedtschen Zeiten her, will sagen, Abfindung aller der Geldleute, die bis dahin an das Fideikommiß-Hoppenrade mit ihren endlosen Geldansprüchen nicht herangekonnt hatten, das Allod gewordene Hoppenrade dagegen sofort mit Beschlag belegt haben würden.
Am meisten Schwierigkeit unter diesen drei Punkten bot der erstgenannte: die Zustimmung der Familie.
Dies hing so zusammen.
Es lag selbstverständlich bei Beginn dieser Umwandlungsangelegenheit Herrn von Wülknitz ob, allen anderen Erbschaftsberechtigten gegenüber – deren Interessen nach wie vor von dem Kurator und Kammerdirektor von Rabe wahrgenommen wurden – Erklärungen darüber abzugeben, bis zu welcher Höhe Hoppenrade, seinen Erträgen nach, von ihm, Wülknitz, bezahlt werden könne. Die Summe, die von W. bei dieser Gelegenheit nannte, war keine geringe. Frau von Kettler indes, eine scharf rechnende Frau, fand sie zu niedrig, protestierte mithin und schuf aus dieser Anschauung heraus allerlei Schwierigkeiten. Ihnen zu begegnen würde nun freilich dem klugen Wülknitz, der unter andern auch die Klugheit hatte, den Bogen nie zu straff zu spannen, ein leichtes gewesen sein, wenn nicht der Widerstand der damals in Dresden lebenden Frau von Kettler von Berlin aus, und zwar durch niemand anders als durch den Kurator und Generalbevollmächtigten von Rabe, beständig genährt worden wäre. Was diesen zu diesem Widerstande bewog, ob Kuratoren-Herrschergewohnheit oder Launenhaftigkeit oder bloß die Lust, einem andern die Pläne zu kreuzen und das Spiel zu verderben, ist nicht recht ersichtlich, aber das steht fest, daß er sich von Anfang an gegensätzlich, ja geradezu feindlich gegen Wülknitz stellte, den er doch, aller zuzugebenden Eigennützigkeit des letzteren unerachtet, als einen Retter der Familie hätte begrüßen müssen. Aber davon war er weit entfernt und faßte vielmehr seine Kuratorenstellung einfach dahin auf, daß die beiden unschuldigen und bedrohten Parteien, Kettler und Oertzen, gegen die beständig machinierende Partei Wülknitz unter allen Umständen geschützt werden müßten. Dieser in der Persönlichkeit beider begründete Antagonismus zeigte sich im großen und kleinen, und als Wülknitz, um nur ein Beispiel zu geben, unmittelbar nach der Pachtübernahme die doch mindestens nicht zu verachtende Summe von 40 000 Talern in das devastierte Hoppenrade hineingesteckt hatte, schrieb Rabe an Baron Oertzen: »Er wird bald damit ausgewirtschaftet haben; uns aber kommen die 40 000 Taler unter allen Umständen zugute.«
Das waren nicht Worte, die freundliche Beziehungen anknüpfen konnten, und so ging denn der Krieg durch volle zwanzig Jahre hin. Im Vorteil blieb auch hier wieder Wülknitz, weil er doch der gescheitere war, was von Rabe selbst schließlich anerkannt wurde. »Respekt vor Wülknitz. An dem hab ich meinen Mann gefunden. Der hat mich überlistet.« Und Wülknitz seinerseits versicherte: »Wo Rabe hinsieht, gibt es ein Loch; sein Blick brennt bis auf die Haut, und wenn ich den dicksten Flaus anhabe.« Beide waren märkische Naturen, wie sie nicht schöner gedacht werden konnten, scharf und schneidig, auch wohl, wenn es nichts kostete, mit Gemütlichkeitsallüren, aber immer eulenspiegelsch, vorsichtig und sarkastisch. Unter allem, was in ihrer Seele blühte, war die blaue Blume der Romantik, insonderheit aber die des romantischen Vertrauens am spärlichsten vertreten.
Im Jahre 56 (nach andern Angaben erst am 4. Dezember 58) war Wülknitz auf jedem Punkte Sieger, alles war geglättet, und er erstand Hoppenrade für die Summe von 350 000 Talern.
Hoppenrade wird freier Besitz des Kammergerichtsrats von Wülknitz. 1856 bis 60
Wülknitz, so sagt ich, war Sieger, und dieser endliche Sieg war ihm zu gönnen, ihm, der auf jedem erdenklichen Gebiete so viel Rührigkeit und Energie gezeigt hatte. Denn was sich auch, wie wohl kaum zu bestreiten, von Selbstischem in sein Tun mit eingemischt haben mochte, das Geleistete war groß, und alle Teile hatten schließlich ihren Vorteil davon. Aus den brachliegenden Ländereien waren wieder gut bestellte Felder, aus dem niedergeschlagenen 9000-Morgen-Forst ein neu heranwachsender Wald und aus dem vernachlässigten Viehstand eine Stammschäferei geworden.
Er hatte gewonnen, wonach er gestrebt, aber eigentliches Glück war doch nicht seiner Mühen Lohn gewesen. Er kam, wie schon mehrfach bemerkt, aus dem Kampfe nicht heraus, und wenn auch zuzugestehen ist, daß er sein lebelang nicht bloß kampfesmutig, sondern auch kampfeslustig war, so ward ihm doch schließlich des Kämpfens zu viel. Besonders hart litten die Seinen unter seiner beständigen Arbeit und Unrast, am meisten die Frau, die nicht nur die ruhigen und idyllisch-heiteren Prinz-Heinrich-Tage, wenigstens als Kind, noch mit erlebt hatte, sondern auf deren Herz und Gemüt auch alle die weichen und liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Mutter, unsrer Krautentochter, übergegangen waren. Es ist erschütternd, in einem mir vorliegenden Briefe von ihrem Betroffensein zu lesen, als sie nach siebzehn Jahren, und nun als »Pächterin«, in das einst so schöne Schloß Hoppenrade zurückkehrte. »Das war also die Stätte meiner Kindheit und meiner Jugend; alle Tapeten von den Wänden gerissen und Löcher in den Dielen. Niemand da, der mich empfing, und da saß ich denn auf dem Koffer, der eben abgeladen war, und sah vor mich hin und in eine sorgenvolle Zukunft.«
Hoppenrade seit 1860
Und was nun noch zu berichten ist, ist kurz.
Hoppenrade blieb nur auf wenige Jahre hin ein freier und ritterschaftlicher Besitz in von Wülknitz’ Händen. Am 15. Oktober 1860 bereits ging es durch Kauf an den Kammerherrn und Erbmundschenk von Vorpommern, Hellmuth von Heyden-Linden, über, der die ganze Kaufsumme bar auszahlte. Sämtliche Kinder und Enkel aus der Krautentochter-Deszendenz, und zwar, außer den Wülknitzens, drei Schwerine, drei Kettlers, drei Oertzens, empfingen ihren Anteil, und alle Beziehungen zu Hoppenrade waren gelöst.
Von Wülknitz selbst, nachdem er sich eine Zeitlang an Baugründungen in Berlin beteiligt hatte, ging nach der Schweiz. Daselbst starb er 1866 zu Montreux.
Auch Herr von Heyden-Linden, in Pommern reich begütert, hatte sich seines neuen märkischen Besitzes nur kurze Zeit zu freuen. Er starb bald danach, und Hoppenrade kam an seine beiden Enkel: Georg Freiherr von Werthern und Ida Maria Freiin von Werthern.
Ersterer ist der gegenwärtige Besitzer. Er hat die schönen Räume wieder herstellen lassen und bewohnt sie wenigstens zeitweilig.
Eine stille Stätte jetzt, dies abseits vom Wege gelegene Schloß, eine Stätte, von der niemand mehr spricht, am wenigsten vielleicht die, die tagaus, tagein es umwohnen. Aber von ihr, die hier auf ein paar Jahrzehnte hin ein poetisches und fast märchenhaft phantastisches Leben hervorzuzaubern wußte, von ihr erzählen sie noch, und in den Spinnstuben horcht alles auf, wenn von Elliot und seiner goldenen Kutsche, von den tausend Lichtern im Harenzacken-Wald und von dem Badegetümmel in Mon Caprice, versteht sich unter allerlei Zusätzen aus eigner erregter Phantasie, gesprochen wird.
Ja, die schöne, längst aus dieser Zeitlichkeit geschiedene Krautentochter, sie lebt fort an dieser Stelle. Von all denen aber, die nach ihr kamen, erzählt niemand mehr, und nur ein Grab im Park noch gibt Andeutung von dem, was später und bis in unsere Tage hinein hier halb zu Gast und halb zu Hause war. Ein Grab im Park und auf einem Steine die wenigen Worte: »Clara von Wülknitz, geboren am 10. September 1826, heimgegangen am 1. November 1850.«
Blumen und Efeu wachsen drüber hin, und zur Seite steht eine Gruppe von Zypressen und Weimutskiefern.
Einer Enkelin letzte Ruhestatt und darunter ein Leben, das vielleicht ernst und schwermütig gerade hier erlosch, an einer Stelle, wo die schöne »Grandmama« den Becher der Freude leerte, erst den Schaum und dann – den Rest.
Ohne Beziehungen zu Hoppenrade selbst, noch zu seiner vieljährigen Herrin, der schönen Frau von Amstedt, steht der schon auf S. 208 von uns erwähnte
Fähnrich von Arnstedt,
der uns in einem Schlußkapitel dieses Abschnittes beschäftigen soll. Nur eine Namensvetterschaft liegt vor, freilich begleitet von einer in mehr als einem Stück verwandten, keine Selbstbeherrschung kennenden Natur- und Temperamentsanlage, die die schöne Frau schließlich bis an den Rand des wirtschaftlichen Ruins, den Namensvetter aber aufs Schafott führte.
Emil von Arnstedt
Fähnrich im Leibregiment; enthauptet am 25. April 1837
I
Am 25. April 1837 mittags stand an den Straßenecken in Frankfurt a. O. die folgende Warnungsanzeige:
Der Portepeefähnrich Emil Otto Friedrich Alexander von Arnstedt des 8. Infanterieregiments, einundzwanzig Jahre alt, aus Ballenstedt im Herzogtum Anhalt-Bernburg gebürtig, hatte – aus Rache für angeblich von seinem Lehrer an der hiesigen Divisionsschule, dem Lieutenant Wenzel, unverdient erhaltene Zurechtweisungen und vermeintliche, aber unbegründet befundene Verleumdungen bei den höheren Vorgesetzten – am 5. Dezember v. J. morgens, mit schon Tags vorher überlegtem Vorsatze, den Wenzel im Gange der Kaserne durch einen Pistolenschuß getötet.
Das in der Untersuchungssache wider den von Arnstedt am 7. Januar d. J. angeordnete Kriegsgericht hatte seinerseits dahin erkannt:
daß der Angeschuldigte wegen Ermordung des Vorgesetzten mit dem Rade von oben herab vom Leben zum Tode zu bringen,
welcher Ausspruch durch Allerhöchste Cabinets-Ordre vom 14. d. M. dahin mildernd bestätigt worden:
daß der Angeschuldigte wegen Ermordung des Vorgesetzten, statt der verwirkten Strafe des Rades von oben, durch das Beil vom Leben zum Tode zu bringen sei,
und ist diese Todesstrafe heut öffentlich an dem von Arnstedt vollzogen worden.
Im Meer gen Süden wohnt auf Inseln ein Geschlecht,
Reich in Zufriedenheit, in Einfalt schlicht und recht;
Und über alle herrscht die Inselkönigin,
Die hat nicht Waffenmacht und friedlich ist ihr Sinn,
Ihr Waffen ist Gebet etc.
Frankfurt, 25. April 1837. Königl. Gericht der 5. Division.
Hierdurch war eine Sache zum Abschluß gebracht, die, vom ersten Augenblick an, nicht nur in Frankfurt a. O., sondern auch in den Adels- und Militärfamilien der ganzen Provinz ein großes und gerechtfertigtes Aufsehn erregt hatte. Hinsichtlich des voraufgegangenen Lebens des von Arnstedt aber stehe hier, was ich darüber bei Personen, die dem Unglücklichen einst nahestanden, erfahren konnte.
Emil von Arnstedt wurde 1816 zu Ballenstedt im Anhaltischen geboren. Sein Vater war der Hauptmann von Arnstedt, der sich zu nicht genau zu bestimmender Zeit, wahrscheinlich gleich nach Schluß der Befreiungskriege, mit einer sehr schönen Dame, einer geborenen Aldobrandini, vermählt hatte. Während der zwanziger Jahre wurde von Arnstedt, der Vater, als Hauptmann in das 12. Infanterieregiment, dessen eines Bataillon damals in Sorau stand, versetzt, und auf dem Sorauer Gymnasium empfing Emil von Arnstedt, der Sohn, seine Ausbildung. »Wir vergeudeten unsere Zeit«, so heißt es in Mitteilungen eines ihn überlebenden Mitschülers. »Es wurd uns nichts geboten, was wir im späteren Leben hätten brauchen können. Immer Latein und Griechisch und daneben etwas Mathematik, noch dazu bei Lehrern, die selber keinen Begriff davon hatten. Wir mußten uns damit getrösten, einen Direktor zu haben, der als ein Ausbund von klassischer Gelehrsamkeit galt und vielleicht es auch war. Aber daß diese Gelehrsamkeit einem von uns zugute gekommen wäre, dürfte sich kaum behaupten lassen. So war uns die Schule widerwärtig, und anstatt etwas zu lernen, gingen wir Abenteuern nach oder durchlebten sie doch in unserer Phantasie. Bei Arnstedt kam noch sein Äußeres hinzu. Er war bildhübsch und schien für Aventüren und Liebesverhältnisse wie geboren. Etwa mit achtzehn Jahren kam er nach Frankfurt und trat ins Leibregiment. Sein Umgang und seine Lektüre waren, wie sie damals zu sein pflegten. Avantageure, Fähnriche, dann und wann auch ein paar der jüngeren Offiziere, versammelten sich, um sich von gehabten oder noch zu habenden erotischen Triumphen zu unterhalten. Es war nicht das Feinste, was da zur Sprache kam, um so weniger, als man sich’s angelegen sein ließ, das ohnehin nicht sehr Lobesame noch durch Übertreibung und Renommisterei zu würzen. Idealen wurde nachgestrebt, aber woher waren diese Ideale genommen? Aus lasziven Romanen, die mit Hilfe zahlreicher Übersetzungen eben damals in die Mode kamen. Die knappen Geld- und Lebensverhältnisse besserten nichts; im Gegenteil, alles, was sonst vielleicht einen wenigstens äußeren Anstand gezeigt hätte, verlor auch diesen noch. Es war eine traurige Zeit, innerlich haltlos, äußerlich mittellos. Arnstedt persönlich hatte Verfügung über Esprit und Energie, beide Vorzüge jedoch traten in den Dienst von etwas Schlechtem und verhäßlichten sein Bild mehr, als daß sie’s verschönert hätten. Auch der ›Dienst‹ litt schließlich in unzulässiger Weise. Von Ordnung, Pünktlichkeit und Adrettheit konnte keine Rede sein, wo Debauchen aller Art auch dem von Natur kräftigsten Körper den Frohsinn und die Frische nahmen. Allerlei kleine Strafen waren an der Tagesordnung und steigerten sich mehr als einmal bis zu strengem Arrest. Aus dem Arrestlokale wurde dann fleißig in Zetteln korrespondiert, meist an einen Freund und Vetter Adalbert von L.«
Neben den weiterhin mitzuteilenden Hauptbriefen liegt mir auch eine der Vorspielzeit angehörige Korrespondenz vor, und ich entnehme derselben einige charakteristische Stellen. Am 6. November 1836, einen Monat vor der unheilvollen Tat, heißt es, aus dem Arrest, auf einem dieser Zettel: »Wie bist Du mit dem lettre d’amour angekommen? Vergiß heut abend die Gitarre nicht. Ist es wahr, daß Jolly übergefahren? Es sollte mir sehr leid tun. Vergiß auch nicht die Pfeifenspitze, das Buch und den Zucker.« Und am 12. November. »Heut ist Dein Geburtstag. Ich erinnere Dich an die Bibelworte: ›Habe Gott vor Augen und im Herzen‹, und an das für Dich noch gewichtigere: ›Hüte Dich, daß Du in keine Sünde fallest.‹« Und nun folgt eine völlige Kapuzinerpredigt, abwechselnd in Reim und Prosa, darin er sich selbst als ein sittliches Vorbild aufstellt und den Freund, versteht sich ironisch, auffordert, ihm auf dem einzig heilbringenden Tugendwege zu folgen. Am 25. schreibt er auf rosafarbenem Papier und fühlt sich deshalb zu besonderen Zartheiten veranlaßt. Wenigstens eine kleine Weile. »Grüße meine liebe Modeste, vor allen aber grüße meine liebe Clara. Du kennst ja meine Connaissancen besser als ich. Clara steht mir am höchsten. Wenn es in Deinen Kräften steht, so verschaffe mir wieder etwas Geld und Zucker. Es braucht ja nicht harter zu sein, wenn er nur halbwege süß ist. Und schicke mir auch das Gesangbuch. Es liegt linker Hand in meinem Fach.«
Dieser Brief vom 25. ist unterzeichnet »Dein unglücklicher E. von A.« Ob dies »unglücklich« ernsthaft oder scherzhaft gemeint war, ist nicht recht ersichtlich, ich vermute jedoch das erstere. »Mein Onkel, der Oberst von Werder«, so heißt es nämlich zwei Tage später, am 27., »hat mich wissen lassen, daß ich wahrscheinlich nicht länger im Regimente bleiben könne. Das ist mir unangenehm. Doch laß ich mir deshalb keine grauen Haare wachsen. Mein Capitain hat ihm alles gesagt, und ich habe sein ganzes Mißfallen erregt. Bei seinem letzten Besuch las ich in einem Deiner Bücher, worauf er mir sagte: ›ich sollte mich lieber mit etwas Nützlicherem beschäftigen, statt Romane zu lesen‹. Wie kann der gute Mann nur glauben, daß ich jetzt zu etwas anderem Lust hätte! Vorzüglich aber ist er darüber aufgebracht, daß ich, wie er sich ausdrückte, mit lüderlichen Referendarien und sogar mit einem Küper Umgang hätte. Kommt es zum Schlimmsten und werd ich entlassen, so findet ein junger Kerl wie ich auch wohl sonst noch sein Fortkommen, in einer andern Stadt oder einem andern Land oder unter einer andern Zone. Leute meines Schlages sind nie ganz zu verachten und werden als Soldaten zum Totschießen immer gesucht. Mißlingt aber alles, so befreit mich wohl ein Lot Pulver von meiner Qual. Es sollte mir aber leid tun, scheiden zu müssen, denn erstens wär es doch schade um ein so fideles Haus und zweitens, weil ich verliebt bin.«
Nun folgen sentimentale Betrachtungen, eine ganze Seite lang, die dann wieder in Zynismen auslaufen.
II
Der vorstehende Brief vom 27. November ist der letzte vor der Tat geschriebene. Vielleicht, daß diese schon beschlossene Sache war, als er drei Tage später (am 30. November) aus dem Arrest entlassen wurde, wenigstens war ihm der Offizier, der seinem Rachegelüste zum Opfer fiel, seit lange verhaßt. Einige behaupten, daß auch Eifersucht mit im Spiele gewesen sei. Gleichviel, am 5. Dezember früh geschah die Tat, Arnstedt selbst machte die Meldung davon und wurde, kaum aus dem Gefängnis entlassen, aufs neue dahin abgeführt. Die vorgesetzte militärische Behörde nahm es, wie selbstverständlich, sehr ernst, sah von allen Rücksichten ab und ließ ihn in Ketten legen. Er machte jedoch das Unmögliche möglich und führte, trotz dieser Ketten und sonstiger Behinderungen, eine lebhafte Korrespondenz, die nicht bloß bruchstückweis wie die vorhergehende, sondern in ihrer Totalität mir vorliegt. Ihr charakteristischer Zug ist ein ungeheures Maß von Selbstsucht und Leichtsinn. An diesem Leichtsinn nimmt einigermaßen auch der Freund, Adalbert von L., teil, an den sich die Briefe richten. Bis zuletzt sprechen sie von Ball, Vereinen, Cotillonorden und Liebesgeschichten. Aber das ist nicht das Schlimmste. Schlimmer ist der Gefühlsmischmasch, das entsetzliche Durcheinander von Sentimentalität und Obszönität, in welcher Hinsicht diese Briefe vielleicht einzig dastehen und geradezu ein psychologisches, sicherlich ein zeitbildliches Interesse beanspruchen dürfen. Oft wechselt der Inhalt von Zeile zu Zeile; Liebe zu Mutter und Geschwistern, Anflüge wirklicher Herzensneigung, Anruf und Gebete zu Gott, Gedichte, Flehen um Erhörung, Freundschaftsversicherungen (auch ehrlich gemeinte), Rachegelübde, Vergiftungspläne, Sammetrock, Blumensträuße, Pikschlitten und Gitarre, Witzeleien und Zynismen – in diesem Mengemus geht es fort bis zur letzten Stunde, bis ans Schafott. Von Reue keine Spur; es ist, als ob er einfach ein ihm feindliches Tier über den Haufen geschossen habe. Was ihn beschäftigt, ist nur die Frage: »Komm ich bald wieder frei? Und wie hübsch wird es dann sein!« Eine bodenlose Rücksichtslosigkeit in jedem Wort, und nur immer auf Augenblicke dämmert in ihm die Vorstellung von dem Ernst seiner Lage. Eine wahre Höllenlektüre, deren Kernstücke sich der Mitteilungsmöglichkeit entziehen, aber deren anständigere Stellen auch vollkommen ausreichen, um die Häßlichkeit jener halben, unehrlichen und verlogenen Zeit der dreißiger Jahre zu demonstrieren.
Emil von Arnstedts erster Brief aus dem Gefängnis
30. Dezember 1836
Mein lieber Adalbert. Mit Dir unterhalte ich mich am liebsten, denn Du bist mein Vertrauter. Daher sollst Du etwas von jenem Morde hören. Du reistest doch Freitag abend ab, an jenem Tage, dem der schönste Abend meines Lebens folgte. Ich sprach mit Deiner Mutter und äußerte ihr mein Bedauern über die Reise. Clara war so gut, so liebenswürdig, wie ich sie nie sah; ich überließ mich ganz der Freude, obgleich ich schon eine trübe Ahnung hatte. Lieutenants Keßler, Putlitz, Gauvain waren auch da; mit letzterem tauschte ich noch die Cotillondame (Clara gegen Modeste), und wir waren sehr vergnügt. Emma Bantz, die Schiller, die eine Faller (Sidonie) und mehrere hübsche Mädchen (Flora) waren da. Nach dem Balle fuhr Clara nach Hause, und ich begleitete Flora. Sonnabend gehe ich in die Divisionsschule, Sonntag auf Parade; fragt Wenzel mich, ob ich Donnerstag neun Uhr abends zu Hause gewesen sei? Ich sage »ja«. Da meint er, »es ist eine ungeheure Frechheit von Ihnen, das zu behaupten«. Er zeigt mich an, beide Obersten machen mich schlecht, und ich erhalte wieder mal vierundzwanzig Stunden Arrest. Es kochte fürchterlich in mir. Ich wollte zu Schlomkas gehen, wo Clara war, auf dem Beamtenverein. Alles war vorbei, ich mußte in der Stube bleiben. Kurze Zeit nach der Parade kommt Wenzel wieder zu mir und macht mich schlecht, »daß meine Stube nicht so in Ordnung sei«, während doch mein Bursche auf Wache war. Nicht die Worte selbst, sondern die Art und der Ton, wie sie gesagt wurden, haben mich so in Wut gesetzt. Dazu kam, daß mir mein Onkel (es war dies der später kommandierende General von Werder) sagte, »er würde sich genötigt sehen, den König um meine Entlassung zu bitten«. Ich war wütend. Hätte nur ein Mensch freundlich mit mir gesprochen, so wär ich auf andere Gedanken gekommen. Hättest Du mir doch zur Seite gestanden! Kurz, ich faßte den Entschluß, meinem Leben ein Ende zu machen. Pistol, Pulver, Blei, alles war bald angeschafft und die Waffe geladen. Da dacht ich an meine Mutter, an meine Freunde und Kameraden, an Dich und vor allem an meine liebe Clara. Ohne Abschied konnte ich nicht von Euch scheiden. Ich war, offen gesagt, zu schwach, mich schon von der Welt loszureißen. Da fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, er muß sterben. Dieser Gedanke hat mich nicht wieder verlassen. Da ich überzeugt war, daß ich meine Lieben nicht mehr sprechen würde, so nahm ich schriftlich von den drei mir am teuersten auf dieser Welt Abschied. Es sind dies die Briefe an Dich, Clara und meine Mutter. Mein Tagebuch hatte ich geschlossen, und eine meiner Locken solltest Du nebst diesem Brief erhalten. Am Montag früh (um fortzufahren) kam Wenzel zu mir und fuhr mich an, »warum ich nicht in der Schule sei?« Ich sagte ihm, »weil ich Arrest habe«. Schon den vorigen Nachmittag hatte ich ihn erwartet und die geladene Pistole in Bereitschaft; er kam nicht. Jetzt antwortete ich ihm, »daß ich gleich kommen würde«, worauf er eilig mein Zimmer verließ, da er wohl meine wütenden Blicke sah. Ich sprang nach dem Spinde, holte die Waffe und stürzte ihm nach. Auf fünfzehn bis zwanzig Schritte schoß ich das Pistol ab und traf ihn, da er sich gerade umdrehte, in die linke Achsel quer durch die Brust, so daß die Kugel, nachdem sie den rechten Arm noch zerschmettert hatte, dicht unter der Haut sitzen blieb. Er ging nun noch einige Schritte taumelnd zurück und stürzte dann vorwärts aufs Gesicht. Ich meldete mich sogleich selbst als Mörder und wurde nach der Wache gebracht. Am folgenden Tage hatte ich an der Leiche Verhör; der Körper wurde seziert und die Brust ganz aufgeschnitten. Keine Miene habe ich verzogen, bloß um zu beweisen, daß dieser Anblick mich nicht schreckte. Die ersten Tage meiner Einkerkerung waren für mich fürchterlich; nur alle vierundzwanzig Stunden erhielt ich warmes Essen, bis ich dann von mitleidigen Menschen gespeist wurde. Du hast hier ein offenes, wahres Bekenntnis einer schrecklichen Tat; nur die Liebe zu Euch, Ihr Lieben, hielt mich an diesem Leben fest. Denn ich zog doch die Festung dem Tode vor, und daß ich nicht hingerichtet würde, davon war ich damals fest überzeugt. Jetzt ist es freilich anders, denn ich sehe nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Wahrscheinlichkeit ein. Aber laß das gut sein, es kann alles noch besser werden, als wir denken. Für jetzt freu ich mich nur, daß meine liebe Mutter hier ist und daß ich mich mit Dir unterhalten kann. Denn obgleich mir Weitze und Landvogt soviel Gutes erweisen, so kann ich doch nicht das für sie fühlen, was mein Herz für Dich empfindet. Mit welcher Gefahr ich schreibe, glaubst Du gar nicht, denn an meiner Stubentür, in welcher eine Scheibe ist, steht der Posten, und ich habe nur einen kleinen Winkel, wo er mich nicht beobachten kann. Wenn ich nur bald von hier wegkomme. Zwar werde ich dann Dir und meiner Clara entführt, doch mein Herz bleibt bei Euch, und gewiß werde ich Dich stets von meinem Befinden benachrichtigen. Nur muß ich bitten, daß auch Du mich recht ausführlich benachrichtigst und mir schreibst, was ihr für den Silvesterball vorhabt. Du weißt gar nicht, wie glücklich es mich macht, von Dir und Clara etwas zu hören; daher sei nicht karg mit Deinem Schreiben, es soll Dir keinen Schaden verursachen. Grüße meinen guten Heinrich, August, Jean etc., aber vor allen grüße sie, die ich so heiß liebe. Sage ihr, daß alle Pulse nur für sie schlagen, daß kein Augenblick vergeht, in welchem ich nicht an sie denke. Ach, es heißt mit Recht: »Süße Quelle meiner Leiden, ewig, ewig lieb ich dich«, denn jener unvergeßliche Abend (Freitag, den 2. Dezember) ist die Hauptursache. Aber ich klage keinen Menschen an, nur mich allein und meine fürchterliche Verblendung. Ich kann mit Recht sagen, »ich opferte mich für andere«, denn mir bleiben von der Tat nur die Hefen, meine Kameraden genießen das Gute. Nur bleib mir treu, erfreue mich mit einem recht langen Schreiben und grüße Clara von Deinem immer noch verliebten
Vetter Emil.
Zweiter Brief Emil von Arnstedts an seinen Vetter Adalbert von L.
1. Januar 1837
Mein lieber Adalbert! Von Herzen Glück zum neuen Jahr. Du bist doch mein bester Junge und wirst es bleiben, daher will ich Dir auch vertrauen. Ist mein Tod nicht zu umgehen, so steht mir der Weg der Flucht immer noch offen. Ich habe schon im stillen gearbeitet und Du wirst mich gewiß dabei nicht im Stich lassen. Als ich gestern gegen sieben Dein kräftiges »Oho!« erschallen und die Schellen läuten hörte, war ich schon im Begriff, als Maske auf den Silvesterball zu kommen. Nur der Gedanke an die Bemühungen meiner guten Mutter hielt mich davon ab. Daß es mir gelungen wäre, wirst Du wohl nicht bezweifeln, denn ich gab Dir schon Beweise der Art. Über Deinen Brief habe ich eine unaussprechliche Freude gehabt. Schreibe mir ja, was Clara macht, wie sie von mir denkt, ob sie sich meiner noch erinnert. Glaube mir, nichts straft mich mehr als das Vernageln meiner Fenster, aber ich muß gestehen, es war in den ersten Tagen auch zu auffallend. Alle Mädchen gingen an meinem Fenster vorüber und schauten herauf. Mir war so rasend zumute; doch habe ich mich köstlich dabei amüsiert. Denn Du kennst mich ja, wenn ich hübsche Mädchen sehe. Aber nur eine erfreut mich wahrhaft, wenn sie mich eines Blickes würdigt. Schon oft hatte ich das Vergnügen, sie zu sehn. Ach, wenn ich sie nur noch einmal sprechen könnte! O guter, treuer Freund, wenn Du ein kleines Liebeszeichen für mich empfangen könntest, es sollte mir meine Ketten tragen, ja vergessen helfen. Meine gute, liebe Mutter arbeitet Tag und Nacht für mich, und ihren Bemühungen verdanke ich so viel. Ach, wenn ich ihr doch genug dafür danken könnte! Wenn Du wüßtest, wie es in mir gärt und kocht; wenn das so fort geht mit meiner Behandlung, werd ich nächster Tage verrückt. Denke Dir, alle vierundzwanzig Stunden wird bei dieser Kälte nur einmal eingeheizt; wenn ich schlafen gehe, darf ich mich nicht ausziehen, und was dergleichen Schikanen mehr sind, die man sich ausdenkt. Keine Binde, keine Hosenträgerschnalle, nichts darf ich haben; daß ich andere Sachen habe, das wissen sie nicht. Aber nun will ich alles gern ertragen. Ich besitze eine liebe, treue Mutter, eine gute Schwester, geprüfte, treue Freunde und vielleicht auch das Herz eines Mädchens, das mein ganzes Sein ausmacht. Ich bin nicht verlassen, denn man nimmt sich meiner tätig an. Wenn nur nicht gerade meine Richter auch meine Feinde wären. Aber laß das gut sein, ihren Zweck erreichen sie nicht, denn obgleich ich dem Tode mit Trotz ins Gesicht sehe, so ziehen mich doch alle Pferde der Erde nicht zum Schafott. Dafür sage ich Dir gut, und Du kennst mich alte, treue Seele. Der Frau kannst Du unbedingtes Vertrauen schenken, sie ist treu wie Gold, und obschon sie sehr beobachtet wird, Weiberlist geht über alles. Und ich bin Gott sei Dank auch nicht auf den Kopf gefallen. Bald mehr. Lebe froh, genieße Deine Zeit; man ist bloß einmal jung. Grüße meine Freunde und meine heißgeliebte Clara, und sage ihr, wie unaussprechlich ich sie liebe und wie ich nur stets an sie denke. Lebe wohl.
Adalbert von L. an Emil von Arnstedt
3. Januar 37
Mein lieber Arnstedt. Von Clara soll und will ich Dir schreiben. Ja, sie liebt Dich noch mit der Liebe, wie sie Dich stets geliebt hat, und Deine Locke trägt sie beständig auf ihrem Herzen. Sie lebt nur für Dich; auf dem Beamtenverein sprachen wir nur von Dir, und heut noch gehe ich zu ihr, um sie zu einem Briefe zu vermögen. Es war am Sylvester wenig los auf dem Verein, nur ungefähr zehn bis zwölf tanzbare Damen; ich habe mit Clara den Cotillon getanzt und, wie gesagt, nur von Dir gesprochen. Als ich nach Frankfurt zurückkam, hörte ich gleich, daß Du im Gefängnis ungeheuer becourt worden wärest; aber Du hast auch wirklich die ganze Damenwelt auf Deiner Seite. Wenn Deine Richter Damen wären, so würdest Du gewiß freigesprochen und noch obenein General. Deinem vis-à-vis traue ich nicht; sprich nicht davon, daß ich mit Dir korrespondiere. Wenn Du heraus könntest, fast glaub ich, ich würde Dich wegbekommen. Überlege Dir die Sache und schreibe mir darüber. In der Stadt geht das Gerede, ich korrespondierte mit Dir und sollte deshalb festgenommen werden; es ist aber nichts, und ich mache mir auch nichts daraus. Nimm Dich nur in acht, daß Du nicht schlecht dabei wegkommst, denn der alte Oberst von Werder sieht mir höllisch auf die Finger und sitzt jetzt den ganzen Tag am Fenster. So weit schrieb ich heute vormittag; jetzt kann ich Dir auch etwas von Clara erzählen. Ich fuhr sie heute Pikschlitten, und ich hoffe von meiner Überredungskunst das Beste. Es würde mich glücklich machen, wenn sie Dir ein paar Zeilen schriebe. Mein lieber Arnstedt, bist Du in Deinem Briefe auch ganz offen gegen mich gewesen? Hast Du wirklich ganz allein den Entschluß gefaßt? Ich nehme zwar nicht an, daß Du eine Verbindung mit andern in dieser Hinsicht gehabt hast, aber wenn es wirklich so sein sollte, so rette uns Dein teures Leben. Du hast vielleicht Dein Ehrenwort gegeben; es ist so, nun gut, in Amerika, wenn Du loskämest, weiß niemand etwas davon, und Du stehst so gut als Ehrenmann da wie jeder andre. Glaube mir, meine einzige Bitte zu Gott ist jetzt Dein Leben, und wenn alle die Gebete erhört werden, welche dafür zum Himmel emporsteigen, so wirst Du gewiß erlöst. Verzweifle nur nicht, stelle Dich wahnsinnig, aber werde es nicht. Kann ich Dir in sonst etwas dienen, so sprich es aus. Alles, was ich tun kann, tu ich gewiß mit Freuden. Tu nur keinen übereilten Schritt; Dein Entschluß, nicht auf dem Schafott zu sterben, ist Dir von Gott eingegeben. Ich könnte nicht leben, wenn ich Dich hinrichten sähe.
Dein A. von L.
Emil von Arnstedt an Adalbert von L.
12. Januar 37
Mein guter lieber Adalbert. Meine Flucht aus dem Kerker, auf die Du hinweist, ist kinderleicht; bedenke aber dann weiter. Ich bin hier entblößt von allen Mitteln, zur Reise braucht man Geld, auch müßt ich von Kopf bis Fuß anders gekleidet werden. Die Sache ist also kostspielig, und ich kann von Dir solches Opfer gar nicht annehmen. Reißen aber alle Stränge, so muß Rat geschafft werden, auch Geld, es mag kommen, woher es will, und wenn ich mich dem Satan verschreiben sollte. Ich warte mit Schmerzen auf die Rückkehr meiner Mutter (wahrscheinlich von Berlin, wo sie dem König ein Gnadengesuch überreichen wollte), von der hängt viel ab. Fällt das Resultat glücklich aus, so bleib ich vernünftig, wo nicht, so werd ich wahrscheinlich wahnsinnig, und dann fang ich damit an, daß ich alles kurz und klein schlage. Ich werde meine Rolle schon spielen. Du mußt mir jedesmal schreiben, wann Du meinen Brief erhalten hast, und das Datum darauf setzen. Ich schicke Dir Deine Briefe mit; Du hebst sie mir auf, daß, wenn ich sie fordere, Du sie mir geben kannst. Verwahre die von mir geschriebenen so, daß, wenn man bei Dir nachsuchen sollte, man keinen findet. Ich schicke Dir hier einen Brief an meine liebe Cl. mit; ich überlasse es Deinem Gutachten, denselben abzugeben oder nicht. Zugleich liegt hier die Zeichnung zu dem Schlüssel meiner Ketten bei, zur Flucht muß ich sie lösen; habe ich aber den Schlüssel nicht, so muß ich das Schloß zerbrechen, was mich verraten möchte. Kannst Du mir nicht diesen Schlüssel machen lassen? In diesem Falle benachrichtige mich, wenn er fertig ist. Das Weitere sollst Du dann hören… Ach, wenn ich Dir doch mit Worten schreiben könnte, welche Freude ich über Deinen Brief empfand! Im Vertrauen auf diesen Brief schrieb ich an Clara. Möchte sie mir doch antworten. Sie ist mein Gedanke bei Tag und Nacht. Im Traume umgaukelt sie mich. Liege ich abends so wachend auf meiner Pritsche, so ist es oft, als stände sie vor mir und lächelte mich freundlich an.
Sehnend breit ich meine Arme
Nach der Teuren Schattenbild,
Ach, ich kann es nicht erreichen,
Und das Herz bleibt ungestillt.
Wenn Du, lieber Vetter, mir von ihr einen Brief senden könntest, ich würde vielleicht schon aus Liebe wahnsinnig. Es ist doch ein köstlich Ding, daß wir uns so unterhalten können. Ja, ja, die Liebe und die Not sind erfinderisch, und wer weiß, wie es stünde, wenn dies nicht wäre. Benachrichtige mich doch offen, was die Leute so über meine Bestrafung sprechen. Ob der Entschluß in mir oder bei andern gereift ist und ob ich freiwillig oder durch das Los zum Mörder wurde, darüber laß mich schweigen, und auch Du schweige gegen andre. Nun lebe wohl, schreibe bald und sei nicht so kurz mit Deinen Worten; Du schreibst fünf Zeilen und ich Dir immer ellenlange Briefe. Laß ja den Schlüssel machen; siehe Dich aber mit dem Schlosser vor, er muß Dich entweder genau oder gar nicht kennen.
Dein Emil.
III
Um die Mitte Januar bricht die Korrespondenz ab, um erst zwei Monate später wieder aufgenommen zu werden. Ob hier Briefe fehlen oder ob einfach die Wachsamkeit eine größere geworden war, läßt sich aus der Korrespondenz selbst nicht entnehmen. Diese wird immer äußerlicher und zum Teil auch zynischer, je näher die Katastrophe rückt, was unerklärlich wäre, wenn man nicht annehmen müßte, die Hoffnung auf Begnadigung habe ihn bis zuletzt begleitet. Ich lasse nun wieder die mit dem 10. März aufs neu beginnenden Briefe sprechen.
Adalbert von L. an E. von Arnstedt
10. März 37
Lieber Arnstedt. Gott sei Dank, endlich mal wieder etwas von Deiner lieben Hand. Meine Freude beim Anblick Deiner letzten Zeilen war unaussprechlich. Du verlangst einen ausführlichen Bericht, und ich versuch es. Mit Deiner lieben Mutter und Deiner schönen, Dir sehr ähnlichen Schwester waren wir am Abend vor Deiner Abreise (dies ist unverständlich) recht vergnügt bei Landvogts; Dein Schwesterchen war etwas angetrunken und daher sehr liebenswürdig und heiter. Auch von Clara, so verlangst Du, soll ich Dir schreiben. Nun, ich darf Dir der Wahrheit gemäß versichern, daß sie Dich liebt und immer lieben wird. Unsre Gespräche haben nie einen andern Gegenstand als Dich, und Du erfüllst ihre ganze Seele. Nur einmal hat sie mich geärgert: als ich ihr Deinen Brief gab, hat sie diesen Brief an Kirchner gezeigt. Neulich, auf dem Beamtenvereine, haben wir uns ziemlich amüsiert; die Stelle dicht an der Tür, wo Du mit Clara das letzte Mal gesessen, wird jetzt immer von uns eingenommen, weil sie ihr die liebste ist. In der Loge war ich auch neulich. Franziska wird jetzt von einigen Dragonerfähnrichen becourt; zugleich macht sie Gedichte an Dich.
Ewig wird die Freundin Dich lieben,
Mit Dir sterben will sie, bei Dir ruhn.
Immer mag die Welt mich auch darum verdammen,
Leben kann ich ohne Dich nicht mehr.
Nur um eine Zeile von Ihrer Hand bittet Franz…
(Darunter hatte von Arnstedt mit Bleistift geschrieben: äußerst dumm.)
Es ist alles weder gehauen noch gestochen, doch es sind ja Verse. Woher weißt Du, daß ich jetzt einen kurzen schwarzen Samtrock habe? Tanze nur fleißig schottisch, damit Du doch etwas Bewegung hast. Schreibe mir auf die Rückseite dieses Briefes. Dein treuer Vetter A. L.
Dein treuer Vetter A. L.
Arnstedt antwortete denselben Tag noch (10. März) und schrieb, wie proponiert war, auf die Rückseite des Briefes.
Mein lieber guter schwarzröckiger Vetter. Daß Du einen schwarzen Samtrock hast, habe ich längst gewußt, aber das ist neu, daß ich Dich vielleicht nächstens darin sehen werde. Ich habe nämlich Hoffnung, als »Staatsgefangener« nach Magdeburg zu kommen; ist das aber der Fall, so werde ich mit Extrapost fortgebracht. Da können wir uns dann möglicherweise sehen und sprechen; man muß nur alles ausspekulieren und pfiffig sein. Was hat denn Kirchner zu dem Briefe gesagt? Ihr werdet mich übrigens sehr verändert finden. Mein Haar umhüllt mich wie ein Mantel, und mein Bart hängt bis zur Erde, denn es sind jetzt runde funfzehn Wochen, daß ich eingesperrt wurde. In zwei bis drei Jahren hoff ich wieder frei zu sein; kann und darf ich dann in unserem Heere nicht fortdienen, so ist Rußland oder Griechenland mein Asyl. Aber erst verlebe ich einige Zeit bei Dir. Nächsten Freitag kommt Vetter Fritz wieder zu mir; da könntest Du mir etwas Herzstärkendes zuschicken, eine Flasche Wein oder einen guten Leckher oder Leckhin. Aber es muß in einer Flasche sein, die der Vetter in die Tasche stecken kann. Franziska dichtet. Nun, ich auch, und mein Neuestes ist ein Lied »An den Arrest«.
Als ich Dich zum erstenmal erblickte,
Diesen Augenblick vergeß ich nie,
Als ich mich auf Deine Pritsche drückte,
Wurde mir, ich weiß es selbst nicht wie.
Du siehst, ich bin auch ein Dichter. Dein Emil, Suitier in Ketten.
Fünf Tage später, derselbe an denselben
15. März 37
Mein lieber Adalbert… Mein Urteil wird und muß bald kommen und wird hoffentlich nicht so streng ausfallen. Daher Geduld. Bin ich erst an meinem Bestimmungsort, so erhältst Du die erste Nachricht. Nun aber, was macht Clara? Denkt sie meiner noch, oder bin ich vergessen. Laß mich nicht vergebens auf Antwort warten. Grüße sie und sage ihr, daß mein Herz nur für sie schlägt, daß ich durch sie lebe und atme… Ich hoffe noch auf frohe Tage und rufe deshalb auf Wiedersehen. Grüße Clara. Gesund bin ich und fidel wie immer, obgleich mir die Flügel beschnitten sind.
Dein Emil.
Adalbert von L. an Emil von Arnstedt
24. März 37
Mein guter, lieber Arnstedt. Dein liebes Briefchen habe ich erhalten. Du fragst darin unter andern, wie Claras Vater und ihre Mutter von Dir denken? Ersterer urteilt wie fast alle Männer, also lieblos, die letztere jedoch bedauert Dich von Herzen. Du frägst auch, wer jetzt Clara becourt? Die Leute meinen, ich täte es; aber es ist nicht wahr, unser Gespräch dreht sich immer nur um Dich. Du schreibst auch, Deine Locken wären jetzt Dein Mantel und Dein Bart reiche bis zur Erde. Junge, da mußt Du ja allerliebst aussehen, doch bitte ich Dich, opfere etwas davon und schicke es mir, aber einen recht großen Wusch, denn alle Welt will eine von Deinen Locken haben. Heute zum Karfreitag ist nirgend etwas los, aber am Ostermontag bin ich auf dem dritten Club.
Dein A. von L.
Emil von Arnstedt an Adalbert von L.
25. März 37
Mein lieber Adalbert. Heut ist der Geburtstag meiner Mama, ich durfte ihr direkt keinen Gruß, keinen Glückwunsch senden und mußte es durch einen Mann tun lassen, dem ich nicht gewogen bin, durch meinen Hauptmann. Früher trat ich an der Hand meiner Geschwister und meines guten sel. Vaters vor meiner Mutter Ruhebett und beschenkte sie mit Blumen und anderen Kleinigkeiten, sagte auch, als der Älteste, ein hübsches Gedicht her. Jetzt darf ich ihr nicht einmal schreiben! Bei Gott, das schmerzt tief, das kränkt mich; doch weg mit trüben Gedanken. Wiederkommen bringt Freude. Weiß ich doch, daß liebende Herzen mir entgegenschlagen. Ich sende Dir auf Deinen Wunsch eine Locke, so gut ich sie habe. Gib aber davon nicht jedem oder auch nicht jeder. Brauchst Du mehr, so steht mein Kopf zu Diensten, doch bitte ich Dich um die Namen der Expektanten. Habe Dank für die Flasche. Hast Du nicht ein altes Spiel Karten zu meiner Unterhaltung, es wird Tod und Leben gespielt. Morgen also siehst Du Cl. »Ach, süße Quelle meiner Leiden, ewig, ewig lieb ich dich.« Beobachte sie gut. Wenn sich irgendein fremder Schnippschnapp an sie machen sollte, sieh, ich schwöre Dir, meine Hand griffe zum zweiten Male nach der Mordwaffe, und dieses Ziel würde sie noch weniger fehlen. Ach, ich bin ein schrecklicher Mensch in meiner Einsamkeit geworden und denke nur an blutige Rache. Du verzeihst mir, daß ich so rede. Aber Du weißt, lügen ist nicht meine Passion. Auf ein fröhliches Wiedersehn. Gott segne Dich! Wie immer Dein Vetter Emil von A.
Adalbert von L. an Emil von Arnstedt
Lieber guter Arnstedt! Ich habe eben jetzt keine guten Nachrichten für Dich bekommen; der König soll das kriegsgerichtliche Urteil dem Kammergericht übergeben und dieses das Urteil bestätigt haben. Doch harre und hoffe. Vielleicht, daß Dir doch noch die Gnade offensteht. Wenn Dir Dein Urteil publiziert ist, kannst Du verlangen, die zu sehen und zu sprechen, welche Du gern hast, und ich glaube, ich werde doch einer der ersten sein. Hoffentlich aber ist alles nur Fama.
Emil von Arnstedt an Adalbert von L.
Lieber Adalbert! Laß das gut sein. Im Fall der Not weiß ich zu sterben. Ich beschwöre Dich bei allem, was Du liebst, laß Dir ein schnell wirkendes Gift für mich bereiten, denn ich bin fest überzeugt, daß du mich nicht willst richten sehn. Wenn es dann Not am Mann ist, schickst Du mir die Pülverchen oder die Mixtur, und ich lache dem Schafott Hohn. Du wirst mir dies nicht abschlagen. Volto (?) subito.
Dein E. von A.
Derselbe an denselben
2. April 37
Mein lieber Vetter Adalbert. Du antwortest mir nicht; das ist nicht recht; denke Dir doch meine Ungeduld! Ich rechne zum 5. auf einen langen Brief von Dir. Ich habe jetzt die Erlaubnis, Reisebeschreibungen zu lesen, und bin deshalb bald in den Sandwüsten Afrikas, bald in Amerikas reizenden Gefilden. Könnt ich dort in Wirklichkeit mit Dir sein! Wie lauten die Nachrichten über mich? Zum Tode wird es wohl noch nicht gehen; ich habe ja noch nichts gemacht im Leben und sollte schon sterben! Aber sorge nur immer für eine kleine Phiole mit Rettung aus der Not. Wie ist es Dir am Freitag ergangen? Was macht Modeste, Louise, Flora, Agnes, und vor allem, was macht sie? Schreibe bald Deinem alten Vetter.
Nachschrift. Das Wetter ist furchtbar und tobt und heult. Es würde sich bessern, wenn ich frei wäre. Dein Aemilius Buridan, Hauptmann der schwarzen Bande.
Adalbert von L. an Emil von Arnstedt
6. April 37
Lieber Arnstedt. »Harren und Hoffen hat oft eingetroffen.« Ich ruf es Dir heute zu. Deine Sache soll jetzt wie folgt stehen. Der König hat zu seiner Beruhigung das (wahrscheinlich auf Tod lautende) Urteil dem Oberauditoriat übergeben; dieses hat sich die Zeichnung des Ganges, in welchem Du Wenzel erschossen hast, schicken lassen und hat nach Kenntnisnahme dieser Zeichnung den Ausspruch getan: daß ein Zielen in diesem Gange nicht möglich gewesen sei. Worauf Du nun, so heißt es, und in gleichzeitiger Berücksichtigung Deiner Jugend, zu zwanzig Jahr Festung verurteilt seist. Nun weiß der König nicht, was er tun soll. Das ursprüngliche Urteil liegt zu seiner Unterschrift da. Er wird es aber hoffentlich nicht unterschreiben… (Es folgen nun wieder ganz gemütlich Ball- und Gesellschaftsnachrichten, allerlei kleiner Klatsch, Rendezvous und zuletzt Bemerkungen über Treue und Untreue…) »Du darfst nicht zu viel von Clara fordern und darfst nicht vergessen, daß sie Deine erste Liebe nicht war und Deine letzte hoffentlich nicht sein wird. Ich glaube bestimmt, wenn Du schönere Mädchen sähest, würdest Du Clara vergessen. Und zuletzt: »Was mir angenehm ist, ist das, daß Du Reisebeschreibungen zu lesen hast. Suche nur ein hübsches Plätzchen in jenen Regionen aus; ich ziehe mit Dir, so weit der Himmel blau ist.«
Dein Adalbert.
E. von Arnstedt an Adalbert von L.
Mein lieber Adalbert. Ein ruhiges Plätzchen in jenen Regionen aufzusuchen ist wohl leicht; doch ob Du mit mir dort Freud und Leid teilen willst, das bedenke. Man verläßt nicht gern ohne Not Eltern, Hab und Gut. Nein, wähle Dir ein hübsches junges Weib, habe Kinder, und wenn ich dann vielleicht aus jenen Regionen ohne Fuß oder Arm zurückkehre, so gewähre dem alten zerschossenen, aber gewiß noch fidelen Krüppel ein Plätzchen an Deinem Herd. Doch das liegt in weiter Ferne. Vorläufig nur das, daß ich in der ganzen Welt mein Fortkommen zu finden hoffe, denn wenn schon ich nichts als Blut zu vergießen gelernt habe, so braucht man doch Leute, die sich für Geld und gute Worte totschießen lassen, allerorten, sogar bei den Wilden und Negern. Es umarmt Dich Dein Vetter Emil.
Adalbert von L. an E. von Arnstedt
Lieber Arnstedt. Noch eins, aber etwas Ernsthaftes. Ich glaube, ja ich bin gewiß, daß wir einander gut sind und uns von Herzen lieben. Versprich mir, so wie ich Dir jetzt hier verspreche, daß wir – – – nein, es ist zu phantastisch; laß den Satz unausgeschrieben. Wenn wir uns lebendig wiedersehn, will ich Dir mündlich sagen, was ich eigentlich wollte. Da dies vielleicht die letzten Briefe sind, die wir wechseln, so noch einen Vorschlag. Wenn Du verurteilt wirst, ist das einzige Mittel, Dich nicht auf das Schafott bringen zu lassen, Du beißt Dir die Pulsadern durch. Es ist der beste Tod, und man soll sanft einschlafen. Wenn Du leben bliebest und, wie Du schreibst, als Krüppel wiederkämst, so wollt ich das letzte Stückchen Brot mit Dir teilen. Lebewohl. Dein Adalbert.
E. von Arnstedt an Adalbert von L. (Letzter Brief)
Lieber Adalbert! Dank, tausend Dank für Speis und Trank und für Deine Nachrichten. Aber was meinst Du mit dem, was Du unausgesprochen läßt? Du machst mich neugierig. Freund, was lange währt, wird gut; laß nur sein, und wenn ich auch 7000 Jahre auf Festung komme, das schadet nichts; dann leben wir doch noch einmal vergnügt zusammen und gedenken vergangener Mißgeschicke.
Zittre nicht, zage nicht
Sei nicht ungeduldig,
Was du nicht bezahlen kannst,
Bleib den Leuten schuldig.
Dein Vetter Emil von A.
Mit diesem, dem Commersbuch statt dem Gesangbuch entnommenen Trostesverse ging er aus der Welt: »Was Du nicht bezahlen kannst, bleib den Leuten schuldig.«
Am liebsten (und dies soll ihm unverdacht sein) wär er den Leuten seinen Tod schuldig geblieben. Aber es war anders beschlossen, und er mußte mit seinem Leben zahlen. Der König, wie schon eingangs hervorgehoben, bestätigte am 14. April das schon am 7. Januar vom Kriegsgericht gefällte Urteil, und elf Tage später erfolgte die Hinrichtung. Dem Bericht eines Augenzeugen entnehm ich darüber das Folgende.
»Fähnrich von Arnstedt wurde den 25. April 1837, fünf Uhr morgens, auf einen mit zwei Pferden bespannten bäuerlichen Korbwagen gesetzt und, begleitet von einer kleinen Abteilung seines Regiments (Leibregiment), in einem raschen Schrittempo nach dem für die Hinrichtung bestimmten Platze hinausgefahren. Ihm gegenüber rückwärts saßen zwei Unteroffiziere. Der Weg war nicht allzu weit und lag auf den Frankfurter Wiesen, dicht am sogenannten Meisterwerk. Am Ende der hier die Dammvorstadt durchschneidenden Sonnenburger Straße war ein Sandhügel aufgeworfen, und vor dem in Nähe davon aufgestellten Richtblock stand der Scharfrichter. Als Arnstedt all dieser Vorbereitungen von seinem Sitz her ansichtig wurde, gab er sich einen Ruck und sagte zu den Unteroffizieren: ›er werd ihnen zeigen, wie ein preußischer Soldat sterben müsse‹. Gleich danach angekommen, sprang er rasch vom Wagen, trat an den Scharfrichter heran und fragte diesen, ›was er zu tun habe, um ihm sein Amt zu erleichtern‹. Worauf dieser antwortete, ›daß er den Atem anhalten solle‹. Nach Verlesung der Ordre wurde dann das Urteil rasch vollstreckt und der Körper eingesargt und an Ort und Stelle begraben.«
In einem zweiten Briefe, der von seinem noch lebenden Vetter an mich gerichtet wurde, heißt es: »Als der Zug vorüberkam, lag ich im Fenster meines elterlichen Hauses und empfing ein letztes, freundliches Kopfnicken. Ein mir unvergeßlicher Moment. Worte des Abscheus über von Arnstedts Tat hab ich nie vernommen, aber viel Tränen sind dem bildhübschen Menschen nachgeweint worden, ja, eine mir bekannte ältre Dame, die jenen Hinrichtungstag mit erlebt hat, gerät noch jetzt in ein nervöses Zittern, wenn sie desselben gedenkt.«
Ich meinerseits füge hinzu: das Ganze (neben manch andrem, was sich daraus lernen läßt) kann als ein merkwürdiger und beängstigender Beweis von der berückenden Macht einer dämonisch sinnlichen Persönlichkeit gelten. An dem siegreichen Einflusse dieser Persönlichkeit scheiterten alle moralischen Bedenken. Einem ungewöhnlich hübschen Menschen zuliebe verwischen sich die Begriffe von Recht und Unrecht, und ein Verbrecher wurd ein Held. Die Frauen, alt und jung, gingen natürlich mit gutem Beispiel voran. Andererseits können wir einzelnen Briefen der vorstehend mitgeteilten Korrespondenz wenigstens das als Trost entnehmen, daß es neben diesem innerhalb der Frankfurter Frauenwelt epidemisch auftretenden Fähnrich-Enthusiasmus auch Männer gab, die das Ding als das ansahen, was es war, als die schnöde, schändliche Tat eines reichbegabten, aber durchaus bösen und von Anfang an den finstren Mächten verfallenen Menschen.
Er hatte nur einen Mitschuldigen: die Halbheit, Zerfahrenheit und Verwirrung der Zeit in der er lebte. Nichts war innerlich in Ordnung, ein Bovist, alles hohl und faul, und ein bitteres Lächeln überkommt den, der jene Tage noch mit durchkostet hat wenn er von ihnen wie von einer hingeschwundenen »guten, alten Zeit« oder gar wie von einem »verlorengegangenen Paradiese« berichten hört.