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Ich erwachte in völliger Dunkelheit, total neben der Spur. Als hätte ich mir zusammen mit meiner Jeans eine falsche Haut über-gestreift, so fühlte ich mich. Zudem schlugen mehrere Ambosse meinen Schädel in Trümmer. Nein, es ging mir nicht gerade blendend, wirklich nicht. Ich versuchte, mich auf die Seite zu drehen, doch schon bei der kleinsten Bewegung hämmerte mein Kopf drauflos, also hörte ich damit auf, bevor ich richtig angefangen hatte.

»Verdammter Mist!«, fluchte ich und wünschte im gleichen Moment, ich hätte es gelassen. Ich bin sicher keine Kandidatin für American Idol, aber normalerweise verursachten mir meine Stimmbänder keine extremen Schmerzen. Heute schon.

Heute? Als ob ich gewusst hätte, welcher Tag es war. Oder wo ich war. Oder, wenn wir schon gerade dabei sind, warum ich war.

Immerhin war ich gestorben.

Oder?

Verwirrt richtete ich mich auf, nur um sofort zurückzutaumeln.

Ich versuchte es wieder, bis mir klar wurde, dass meine Hände und Füße gefesselt waren. Was zum …?

Das Herz schlug mir bis zum Hals, doch ich redete mir ein, ich hätte keine Angst. Eine haarsträubende Lüge; einen Versuch war es aber wert. Schließlich hatte ich mich andauernd selbst belogen. Und manchmal habe ich mir den Scheiß sogar selbst abgekauft.

Diesmal jedoch nicht. Ich mag ja die High-School geschmissen haben, aber wann man Angst haben sollte, das weiß ich. Und wenn man gefesselt im Dunkeln liegt, ist das ganz sicher eine dieser Gelegenheiten. Für meine gegenwärtige missliche Lage gab es keine nette, beruhigende Erklärung. Stattdessen tauchten vor meinem geistigen Auge Bilder auf, in hoher Auflösung, freigegeben erst ab achtzehn: von einer langen, schmalen Klinge und dem perversen Ausdruck grausamer Freude auf einem Gesicht, das ich nur zu gut kannte. Dem von Lucas Johnson.

Denn hier konnte es nur um Bache gehen. Er wollte mir meinen Mordversuch heimzahlen. Und jetzt würde ich von der Hand dessen sterben, den ich hatte umbringen wollen.

Nein, nein, nein!

Ich konnte unmöglich sterben! Keinesfalls jetzt. Nicht, wenn ich es bis hierhin geschafft hatte.

Allerdings hatte ich nicht die leiseste Ahnung, warum ich noch am Leben war. Ich erinnerte mich an das Messer, ich erinnerte mich an das Blut. Und dennoch: Ich lebte und atmete. Nun gut, momentan war ich etwas unbeweglich. Aber ich war am Leben. Und wenn es nach mir ging, sollte das auch so bleiben.

Nie und nimmer würde ich meine kleine Schwester der Gnade dieses Schweins ausliefern. Er hatte sie vergewaltigt und brutal misshandelt. Ihr schwarze Rosen und erotische Postkarten geschickt, anonym. Teuflisch, beängstigend. Sie entdeckte ihn immer wieder; er versteckte sich in irgendwelchen Geschäften, lag auf der Lauer. Aber wenn sie um Hilfe schrie, war er schon wieder fort.

Die Polizei hatte diesen erbärmlichen Irren eingelocht. Doch als ihn das Justizsystem wegen eines Formfehlers wieder auf die Straße gespuckt hatte, musste ich mit ansehen, wie Bose dem totalen Zusammenbruch jeden Tag ein bisschen näher kam. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieses Monster in Freiheit herumlief, obwohl es eigentlich in einen Käfig eingesperrt gehört hätte, damit es kleinen Mädchen nicht mehr wehtun konnte. Damit es Rose nicht mehr wehtun konnte.

Deshalb hatte ich die Knarre gestohlen. Ich hatte ihn aufgespürt, und, Gott steh mir bei, ich hatte abgedrückt.

Erst hatte ich geglaubt, ich hätte ihn voll in die Brust getroffen. Aber ich musste ihn verfehlt haben, denn ich konnte mich erinnern, wie Johnson auf mich zustürzte. Von da an wird alles etwas verschwommen. Ich erinnerte mich an das Entsetzen, als mir klar wurde, dass ich sterben musste, und an einen warmen Hoffnungsstrahl. Aber ich hatte keine Ahnung, was zwischen der warmen, vagen Zuversicht und der kalten, harten Steinplatte, auf der ich derzeit lag, passiert war.

Erneut starrte ich angestrengt in die Dunkelheit, und diesmal schien sich ein Samtvorhang zu heben. Der Raum war nicht vollkommen finster. Tatsächlich befand sich am anderen Ende eine einzelne Kerze. Die kleine Flamme kämpfte tapfer gegen die Dunkelheit an.

Verwirrt blickte ich sie an. Ich war mir sicher, dass dort vorher keine Flamme gewesen war.

Langsam tauchte meine Umgebung in ein rötliches Grau mit dunklen und hellen Flecken, die einander abwechselten. Sie enthüllten eine Reihe winkelförmig angeordneter Symbole oberhalb des Kerzenständers.

Mein Blick blieb an den Symbolen hängen, und das Zittern kehrte zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht. Übermächtige Furcht überwältigte mich. Vielleicht hatte ich es gar nicht mit dem Ungeheuer zu tun, das ich kannte. Vielleicht würde ich mir noch wünschen, dieser erbärmliche Arsch Johnson wäre hinter mir her.

Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinab. Ich wollte nur noch raus hier.

Ich wollte schon wieder ziehen und zerren in der verzweifelten Hoffnung, meine Fesseln würden sich wie durch ein Wunder lockern, als ich plötzlich das metallische Knarren einer quietschenden Türangel hörte. Ich erstarrte. Mein Atem wurde flach, alle Muskeln spannten sich an.

Das Knarren wurde lauter, und als die Tür aufschwang, fiel ein schwacher Lichtstrahl in den Raum. Im Eingang tauchte ein riesiger Schatten auf, die dunkle Silhouette einer monströsen Gestalt. Der Gestank, den sie verbreitete, war derart widerlich, dass ich beinahe kotzen musste.

Ein Monster. Und keins vom Schlag eines Lucas Johnson.

Nein, im Vergleich zu der Gestalt, die sich vorwärtsschleppte und sich bücken musste, damit sie überhaupt durch die Tür kam, war Lucas Johnson ein Pfadfinder. Die Kreatur stampfte auf mich zu. Ihre Haut erinnerte mich an Elefanten. Das Monster trug keine Kleider, und sogar in der Dunkelheit konnte ich die Parasiten sehen, die im Schleim seiner Hautfalten lebten. Ich konnte hören, wie sie sich in Sicherheit brachten, während die Bestie auf mich zutrottete. Der üble Gestank, der dem Viech vorauseilte, ließ mich würgen. Als es auf mich herabschaute, hätte ich mich am liebsten unter die Platte verkrochen. Eine Riesenrotzglocke hing ihm aus der Öffnung, die ihm wohl als Nase diente.

Die Kreatur verzog den Mund. Die trockene Haut sprang auf, als sich die Muskeln bewegten, und Rinnsale von Blut und Eiter sickerten aus den neu entstandenen Rissen. Sie trabte auf die Kerze zu und beugte sich vor. Feuer schoss in die Luft, als ob der Atem des Viehs aus entflammbarem Gas bestünde. Im Schein des Feuers glühten die Symbole auf.

Voller Angst und Schmerz schrie ich auf. Mein Körper brannte plötzlich von innen heraus, das Gefühl verschwand jedoch so schlagartig wieder, wie es gekommen war.

Die Bestie wandte sich zu mir. »Du«, krächzte sie. In den schwarzen Schweinsäuglein loderte Zorn auf, während sie drohend einen kurzen, blutigen Dolch schwang. »Jetzt bringen wir die Sache zu Ende.«’

Ein schriller Schrei durchbrach die Dunkelheit. Mir wurde klar: Er kam von mir. Feuer schoss mir durch die Glieder, wild entschlossen sprang ich hoch. Zu meiner Überraschung und Erleichterung gelang es mir, die Arme loszueisen, die Fesseln flatterten an meinen Handgelenken wie nutzlose Flügel.

Die Kreatur hielt inne und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie trat einen Schritt zurück, fiel dann auf die Knie und hob die klauenbewehrten Hände hoch. Mit dem Dolch schlitzte sie einen Handteller auf und ließ sich die dicke schwarze Flüssigkeit aus der Wunde ins Maul tropfen. »Ich diene dem Herrn der Finsternis, meinem Gebieter!« Die Worte klangen wie Reifen auf Kies. »Für mein Opfer werde ich belohnt werden.«

Als ich das Wort Opfer hörte, flippte ich regelrecht aus. Gleichzeitig nutzte ich aber auch die günstige Gelegenheit dieses seltsamen kleinen Monsterrituals aus, um die Fesseln um meine Knöchel wegzureißen. Dabei fiel mir auf, dass ich ein weißes Seidenkleid trug, nicht die Jeans und das T-Shirt, mit denen ich aus dem Haus gegangen war.

Etwa zur gleichen Zeit, als ich mit dem Entfesseln fertig war, hatte die Kreatur auch ihr Gebet beendet. Mit ausgestrecktem Dolch walzte sie auf mich zu. Ich rollte mich zur Seite, zog das Kleid hoch und die Beine an und stand mit einem gewaltigen Satz neben der Steinplatte. Wahrscheinlich gibt es dafür einen Namen, aber den kannte ich nicht. Teufel auch, ich wusste nicht einmal, dass mein Körper zu so einer Bewegung überhaupt fähig war!

Allerdings vergeudete ich keine Zeit damit, meine neuen akrobatischen Fähigkeiten zu genießen, sondern raste zur Tür. Zumindest wollte ich das tun. Doch der Anblick der Höllenbestie, die sich dort auftürmte, brachte mich irgendwie von meinem Plan ab. Was mir dann keine andere Wahl ließ, als herumzufedern und nach einem anderen Ausgang zu suchen.

Natürlich gab es keinen.

Nein, nein, nein! Bisher hatte ich den verpfuschtesten, abgefahrensten Tag meines Lebens überstanden - da gab ich doch jetzt nicht auf! Und wenn das bedeutete, dass ich gegen diese widerliche Ausgeburt der Hölle kämpfen musste, dann würde ich das tun, verdammt noch mal!

Das Viech musste den gleichen Gedanken gehabt haben, denn kaum hatte ich mich wieder zur Tür gedreht, holte es aus und klatschte mir den Bücken seiner schweren Klauenpranke quer übers Gesicht. Der Schlag schleuderte mich durchs Zimmer. Ich prallte gegen den hohen Messingkerzenständer, der mir daraufhin voll gegen die Bippen krachte.

Heißes Wachs brannte sich in meine Brust, aber Zeit, mir Gedanken über die Schmerzen zu machen, hatte ich nicht. Das Untier war schon über mir. Ich tat das Einzige, was ich tun konnte: Ich packte den Kerzenständer und rammte ihn nach oben. Die Bestie wog bestimmt eine Tonne, aber offenbar war die Hebelwirkung auf meiner Seite. Ich erwischte das Monster voll unter dem Kinn. Sein Kopf knallte zurück, und es stieß ein Geheul aus, das meine Trommelfelle nur knapp überstanden.

Ich bin kein Idiot; natürlich wartete ich nicht erst ab, bis sich das Monster wieder erholte. Der Kerzenständer war zu schwer, um ihn als Waffe zu benutzen, also ließ ich ihn fallen. Ich rannte wie ein geölter Blitz zur Tür und hoffte, dass das Untier allein gekommen war.

Ich torkelte über die Türschwelle. Noch nie war ich so froh gewesen, in einem dunklen, feuchten Flur zu stehen. Das einzige Licht kam von mittelalterlich aussehenden Kerzenhaltern, die alle paar Meter an den Wänden angebracht waren. Ich wollte nur noch auf und davon. Also rannte ich weiter muffige Flure entlang und um enge Kurven, bis ich endlich - endlich - gegen den Riegel eines Notausgangs prallte. Ein Alarm ging los und brüllte in die Nacht hinaus, als die schwere Metalltür aufsprang und ich ins Freie glitt. Naserümpfend sog ich den widerlichen Gestank verfaulter Lebensmittel ein, der im kühlen Herbstwind lag. Ich befand mich in einer Gasse, und sobald sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, rannte ich auch schon nach rechts zur Straße hin, wo ich sicher sein würde.

Erst als die Gasse in die mir unbekannte Straße mündete, blieb ich kurz stehen und schaute zurück. Alles ruhig. Keine Monster. Keine Kreaturen. Kein Butzemann, der mir auf den Fersen war.

Die Straße war ebenfalls ruhig. Keine Menschen, kein Verkehr. Die Straßenlaternen flackerten. Es ist spät, dachte ich. Der nächste Gedanke war: Renn weiter! Und das hätte ich auch getan, wenn ich nicht zu Boden geschaut und meine Füße im gelben Licht der Lampen gesehen hätte.

Verwirrt blinzelte ich. Das sah so gar nicht nach meinen Füßen aus. Und wo ich jetzt schon mal darüber nachdachte, galt das Gleiche auch für meine Hände und Beine. Alles kam mir falsch vor. Der Blutfleck auf dem weißen Kleid gab mir endgültig den Best, was, wenn man die Umstände in Betracht zog, doch allerhand aussagte. All das war so was von abgefahren, dass ich dafür nur eine Erklärung fand: Jemand hatte mich unter Drogen gesetzt, und ich befand mich mitten in einer Monsterhalluzination.

Vielleicht war aber auch die einfachste Erklärung die richtige: Ich verlor den Verstand.

»Nein, tust du nicht.«

Ich wirbelte herum und schaute auf ein untersetztes Männchen hinab, das einen grünen Mantel und einen verbeulten Filzhut trug. Er war mindestens einen Kopf kleiner als ich und warf mir einen Blick zu, der durchaus ernst hätte wirken können, wenn mich seine Augen nicht derart an einen Lurch erinnert hätten.

»Du verlierst deinen Verstand nicht«, präzisierte der Froschmann, was mir wiederum den Verdacht aufdrängte, dass ich es doch tat. Den Verstand verlieren, meine ich. Immerhin hatte dieser merkwürdige kleine Mann soeben meine Gedanken gelesen.

Er prustete los. »Deshalb bist du noch lange nicht verrückt. Bloß ein Mensch.«

»Und wer zum Teufel bist du?«, fragte ich, überrascht, dass meine Stimme funktionierte, wenn sie auch ein wenig matt klang. Ich schaute die Straße rauf und runter, schätzte meine Chancen ab, mich aus dem Staub machen zu können. Bestimmt war ich schneller als dieser …

»Kein Grund wegzurennen«, sagte er. Dann machte er einen Schritt vom Bürgersteig auf die Straße. Als hätte jemand auf dieses Zeichen gewartet, fuhr eine glänzende schwarze Limousine vor. Der Froschmann öffnete die hintere Tür und nickte. »Steig ein.«

Ich wich zurück. »Verzieh dich, du Saftsack!«

»Jetzt komm schon, Kindchen, wir müssen uns unterhalten. Mir ist schon klar, wie müde du nach so einem Wahnsinnstag sein musst.« Er nickte zur Gasse hin. »Du hast dich da drin gut geschlagen. Aber vergiss nächstes Mal nicht, dass du ihnen keine Kopfschmerzen einjagen, sondern sie töten sollst. Capisce?«

Von capisce konnte keine Bede sein. »Das nächste Mal?« Ich deutete die Gasse hinunter. »Du hattest etwas damit zu tun? Vergiss es!« Ich trat einen weiteren Schritt zurück. »Hörst du: Vergiss es!«

»Du hast jede Menge zu verdauen, ich weiß.« Er zog die Autotür weiter auf. »Warum steigst du nicht ein, Lily? Wir müssen uns wirklich unterhalten.«

Mein Name hallte durch die Nacht. Argwöhnisch schaute ich mich um, aber da war nichts. »Ich will Antworten, du Scheißkerl!«

Er schüttelte den Kopf. Ich konnte mir lebhaft vorstellen,

wie er innerlich missbilligend vor sich hinmurmelte. »Schwer zu glauben, dass der ganze Zirkus wegen dir veranstaltet wird, aber der große Boss wird schon wissen, was er tut, nicht wahr?«

Ich schaute verständnislos drein.

»Du starrst mich an, als würde ich babylonisch reden. Wahrscheinlich tue ich das in deinen Augen sogar. Du bist erschöpft, nicht wahr? Ich kann dir sagen, jemanden von jetzt auf gleich auf die Probe zu stellen … Also ich halte das nicht für die beste Methode.« Erneut schüttelte er den Kopf, und diesmal war sein Missfallen deutlich zu erkennen. »Aber mich fragt ja keiner. Wer bin ich schon? Der gute alte Clarence, stets zur Stelle, wenn Not am Mann ist. Da soll man keinen Minderwertigkeitskomplex kriegen.« Er klopfte mir auf die Schulter, ehe ich zurückzucken konnte. »Mach dir keine Sorgen. Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Welche Probe? Was ist morgen? Und wer bist du?«

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete er. »Jetzt bringe ich dich erst einmal nach Hause.«

Ich wollte ihn noch fragen, wie er das anstellen wollte - ich hatte nämlich keineswegs die Absicht, in diese Limousine zu steigen. Doch da tippte er mir an die Stirn. »Schlaf jetzt, Kindchen! Du musst dich erholen.«

Ich wollte protestieren, doch ich konnte nicht mehr. Meine Lider schlössen sich. Und das Letzte, woran ich mich noch erinnere, war sein Grinsen, als meine Knie nachgaben und ich auf den Bürgersteig fiel. Dem Froschmann vor die Füße.