30
Als ich endlich vor Zanes Tür stand, war schon Mitternacht vorbei. Mein Handabdruck verschaffte mir Zutritt, dann fuhr ich mit dem Aufzug in das Untergeschoss mit dem Übungsraum hinab. Noch bevor der Käfig ganz unten angelangt war, hielt ich Ausschau nach Zane.
Alles leer.
Aber ich wusste, dass er hier war. Er musste hier sein. Ich überflog den Raum und entdeckte an der Rückwand neben einem Metallregal mit weißen flauschigen Handtüchern eine schmale, unauffällige Tür. Ich ging rüber, öffnete sie und bewegte mich leise vorwärts. Ein Gästezimmer. Zane lag, mit einem dünnen blauen Laken bedeckt, auf einer Eisenpritsche.
Unbemerkt schlich ich mich zu ihm, setzte mich auf den Rand des Gestells und drückte ihm die Hand flach auf die nackte Brust, genau oberhalb des Herzens.
Er schlug die Augen auf. Als er sah, dass ich es war, beruhigte sich der Kämpfer in ihm wieder. »Wir haben uns Sorgen gemacht! Das Portal hat sich geschlossen, und du bist nicht durchgekommen. Dann verging Stunde um Stunde, ohne dass du dich gemeldet hättest.«
»Wie hältst du das aus?«, fragte ich ihn leise. »Wie hältst du das Wissen aus, nicht sterben, aber endlos leiden zu können? Dass man dich in Stücke hauen und einfach liegen lassen könnte, weil man dich für tot hält? Oder dass du Hunderttausende von Jahren in einer Gruft aus Beton begraben sein könntest? Wie lebst du mit diesem Wissen?«
Tränen traten mir in die Augen, dann spürte ich den sanften Druck seiner Hand auf meiner.
»Ich lebe damit, mafleur, weil mir nichts anderes übrig bleibt.« Er setzte sich auf und enthüllte den Rest seiner nackten Brust und seines Waschbrettbauchs. Das Laken rutschte ihm auf die Hüften. Offenbar war er völlig nackt. »Was ist heute Nacht geschehen, cherie?«, fragte er mit unendlich sanfter Stimme.
Ich deutete auf die Stelle, wo das Messer meinen Overall zerfetzt hatte. »Ich wurde angegriffen. Nach dem Auftrag. Die Klinge war vergiftet oder sonst wie präpariert, ich weiß es nicht genau.«
Beim Wort Gift wurde er hellhörig. Er beugte sich vor, um die inzwischen verheilte Wunde zu begutachten. »Erzähl es mir. Erzähl mir genau, was passiert ist.«
Ich erzählte es ihm und sah, wie seine Augen hart und ausdruckslos wurden.
»Die Wahrheit über dich kannten sie nicht, cherie«, sagte er schließlich. »Aber die höhere Wahrheit - wer du bist und warum du hier bist -, die müssen sie kennen.«
»Das glaube ich auch. Töte mich, dann kann sich das Böse eine Auszeit nehmen.« Ich schaute ihn von der Seite an. »Andererseits: Vielleicht wussten sie doch, dass ich deine Essenz in mir habe. Vielleicht haben sie mich gelähmt, um mich in lauter kleine, unsterbliche Teilchen zu zerstückeln.« Bei dem bloßen Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken runter. Diese Vorstellung war der reinste Horror. »Aber ich bin ihnen entwischt.«
»Möglich.« Er dachte kurz nach. »Obwohl ich nicht glaube, dass es sehr schwierig gewesen wäre, deinen Aufenthaltsort festzustellen. Jetzt ist Mitternacht vorbei, und als du losgezogen bist, war es noch hell. Die Zeit hätte locker gereicht, eine bewusstlose Kriegerin aufzuspüren.«
»Genau deswegen habe ich dir nicht längst den Kopf abgeschnitten«, erwiderte ich und äußerte somit einen Verdacht, der mich schon länger beschäftigte. Er runzelte die Stirn, doch ich ließ nicht locker. »Du weißt, was zu tun ist, um mich endgültig auszuschalten. Du hättest mich finden und die Sache erledigen können. Aber ich bin hier. Und das bedeutet, du hast mich nicht verraten.«
Er kniff die Augen zusammen. »Es freut mich zwar, dass du mich von der Liste der Verdächtigen gestrichen hast, aber ich hatte keinerlei Kenntnis darüber, wo du warst. Das Portal enthüllt den Zielort nur dir.«
Hm. Dass sie nicht wussten, wo ich mich aufhielt, war mir neu.
»Darüber hinaus«, fuhr er fort, »würde ich gern erfahren, wie du mich auch nur einen Moment lang für einen Verräter halten kannst.«
Ich legte den Kopf schief, ließ ihn aber nicht aus den Augen. »Du bist ein Dämon. Ein Inkubus.«
Belustigung mischte sich in seinen ernsten Blick. »Ich? Wirklich?«
Ich war mir zwar sicher, dass ich richtig lag, wusste aber auch, dass das eine gigantische Anschuldigung war, vor allem, wenn man bedachte, für wen wir beide arbeiteten. Aber es war logisch. Seine Unsterblichkeit. Die ausdrucksstarke Sinnlichkeit. Die Art und Weise, wie er mich mit nur einem Blick zum Dahinschmelzen brachte.
Und wie die berauschende Kraft dieses sinnlichen Feuers jetzt in mir brannte.
Er war ein Inkubus. Er musste einer sein.
Er stand auf, das Laken rutschte weg und enthüllte einen makellosen nackten Körper. Ich erhob mich ebenfalls und hielt das Messer hoch, als er näher kam. Vielleicht war er nicht derjenige, der mich angegriffen hatte, aber bedingungslos trauen konnte ich ihm nicht. Schließlich wusste ich, was er war.
Er kam auf mich zu und blieb erst stehen, als er mit der Klingenspitze in Berührung kam und ein einzelner Blutstropfen auf seiner karamellfarbenen Haut perlte. »Und was hast du nun mit dem Messer vor?«
»Das ist doch das, wozu ich auserkoren bin. Dämonen umbringen. Oder es wenigstens versuchen. Selbst unsterbliche.«
Er wandte sich ab, beachtete mein Messer nicht weiter und schlüpfte in eine Jogginghose. »Und du glaubst, ich sei einer«, sagte er und kam erneut langsam auf mich zu. »Dass dieses sinnliche Knistern zwischen uns von einer dumpfen, finsteren Quelle herrührt.« Er sprach mit tiefer Stimme. Mein ganzer Körper bebte, alle meine Sinne erwachten zum Leben. Obwohl ich es sehnsüchtig wünschte, berührte ich ihn nicht. »Hör auf damit«, forderte ich, auch wenn mir klar war, dass ich selbst zumindest teilweise hierfür verantwortlich war. Wir waren beide von Natur aus so: scharf, hitzig und für das Vergnügen erschaffen, uns gegenseitig zu erforschen und nach Erleichterung zu gieren.
Ich musste schlucken. Mein Mund war wie ausgedörrt. »Hör sofort auf!«
Er ignorierte mich, kam noch näher. »So schnell verdammst du, was du nicht verstehst? Sag mir, Lily, was, glaubst du, ist ein Inkubus?«
»Das habe ich dir schon gesagt. Ein Dämon, der Kraft und Macht aus Sex zieht und das Opfer dabei aufzehrt.« Ich blickte zu dem Schrank mit den Büchern, die ich während der Trainingspausen gelesen hatte. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«
»Das Beste hast du vergessen«, stellte er seelenruhig fest und umrundete mich im Abstand von nur wenigen Zentimetern. Seine Nähe wirkte auf mich wie eine elektrostatische Ladung. Meine Haut kribbelte. »Ein Inkubus ist im Bett besser als alle anderen. Das Vergnügen, das er seinen Partnerinnen bereitet, ist unerreicht, und seine Fähigkeiten als Liebhaber sind unschlagbar.«
»Lass endlich gut sein!«, verlangte ich mit Nachdruck. Meine Haut hatte sich bereits erhitzt, und meine Sinne bebten vor Erregung.
»Ach, cheriel Sexualität an sich hat nichts mit Gottlosigkeit zu tun. Es hängt ganz davon ab, wie man sich ihrer bedient. Vergnügen?«, fragte er und fuhr mir sacht mit einem Finger vom Kinn über den Hals und über den Busen. Zu meinem nicht geringen Entsetzen stellten sich meine Brustwarzen auf, und mein Höschen wurde feucht. »Oder Kontrolle«, fuhr er fort, und ehe ich reagieren konnte, packte er meine Arschbacken und zog mich an sich. Seine Erektion war hart wie Granit und drückte gegen meinen mit Lycra bedeckten Oberschenkel. »Da gibt es Unterschiede, oder?« Er ließ mich los, trat zurück. Ich stand da und rang nach Atem. Die Hitze dieses Mannes entfachte in mir ein Feuer.
»Setz dich!« Er nickte Richtung Bett.
»Ich bleibe lieber stehen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.« Er setzte sich, und ich fragte mich zwangsläufig, ob ich nicht einen Fehler gemacht hatte. Er war halbnackt, auf einem Bett, und ich in einem Libidonebel. Wahrscheinlich nicht die beste Entscheidung meinerseits.
»Du hast selbstverständlich recht. Ich bin ein Inkubus - oder was die Menschen Inkubus nennen. Aber das macht mich nicht zu einem Teil der Mächte des Bösen, Lily. Das macht mich nicht automatisch zum Verräter. Und ganz bestimmt bedeutet das nicht, dass ich ein Dämon bin.«
»Aber ich dachte …«
»Du hast gedacht, diese Gutenachtgeschichten stimmen. Tun sie aber nicht.« Er streckte den Arm aus, und ohne zu überlegen, setzte ich mich neben ihn. »Es ist nicht grundsätzlich Schlechtes an denen unter uns, die über sinnliche Reize verfügen. Das gilt
nur für jene, die Kontrolle suchen - die diese Reize einsetzen, um Macht zu erlangen oder als Mittel ihrer Überredungskunst. Die, die vor dem Altar des Bösen knien.«
»Und du?«, fragte ich leise.
Er strich mir über die Wange. »Sexualität kann auch eine Form der Wertschätzung sein, ma chere, eine Verbindung, sowohl körperlicher als auch geistiger Natur.«
Er lehnte sich zurück und atmete tief ein. »Verurteile mich nicht, Lily! Ich bin nicht böse. Im Gegenteil. In Wirklichkeit bin ich dir sehr ähnlich. Zwischen zwei Welten gefangen. Wir beide, du und ich, haben mehr Punkte gemeinsam als nur die Substanz, die wir teilen.«
Ich presste die Lippen aufeinander, weil ich mir verloren und blöd vorkam. Als ob ich nicht wüsste, wo das Gute aufhörte und das Böse anfing. Etwas, das eigentlich das Einfachste von der Welt sein sollte, jetzt aber unsagbar schwierig war.
»Arme Lily!« Zanes Augen strahlten Güte aus. »Die Welt ist nicht so, wie sie in deinen Kinderbüchern dargestellt wird, n’est-ce pas?«
»Nein, wirklich nicht.«
»Wenigstens hast du eine klare Aufgabe. Du jagst Dämonen. Mach es nicht komplizierter, als es sowieso schon ist.«
»Aber ich hatte immer gedacht, ein Inkubus sei ein Dämon …«
»Vergiss alles, was du weißt«, sagte er scharf. »Du musst die alten Denkpfade verlassen.«
»Ich weiß. Ich verstehe dich. Aber …« Ich brach den Satz ab und versuchte, den Gedanken, der sich in meinem Kopf ausbreitete, in Worte zu fassen. »Kann ein Dämon gut sein? Du sagst, ich soll alle töten. Aber sind auch alle böse?«
Die unförmige Wolke in meinem Kopf nahm Gestalt an. Ich starrte auf den Boden, weil ich fürchtete, Zane könnte ein Spiegelbild meiner Gedanken in meinem Gesicht erkennen: Deacon.
»Eine außerordentlich interessante Frage«, sagte er leise und schulmeisterlich. Wenn er irgendeine Ahnung vom Hintergrund meines Interesses hatte, ließ er sich nichts anmerken. »Wie überall gibt es auch im Himmel Hierarchien, und die Dämonen, die gediehen, als das Universum noch ein gestaltloses Nichts war, zogen sich in die Finsternis zurück, als Gott dieser Welt Licht einhauchte. Die Dunkelheit schrumpfte, verdrängt vom Licht, und die Bewohner der Finsternis, die Dämonen, scheuten diese neue Dimension. Zunächst jedenfalls. So lange, bis etwas Neues und Wunderbares dort auftauchte.«
»Der Mensch«, erwiderte ich. »Das Böse kam zusammen mit dem Menschen in die Welt.«
»Aus irgendeinem Grund sind Menschen als einzige Wesen empfänglich für die Verlockungen der dunklen Seite, ohne tatsächlich von Natur aus auf dieser Seite zu stehen. Und diejenigen, die dort leben, geraten nur durch Menschen in Versuchung. Und so überschritt das Böse eine Grenze. Das erste Böse. Die mythologische Schlange. Und als die Grenze einmal gefallen war, war der Pfad für alle anderen festgelegt.«
»Ist das alles wirklich oder nur Mythologie?«
»Wenn du es lebst, muss es wirklich sein.«
Ich wurde nicht klug aus dieser Vorstellung eines gut unterrichteten Dunkels oder einer mächtigen Schlange als Verkörperung des Bösen, aber ich ließ es durchgehen, weil dieses Gleichnis von dem handelte, was ich bekämpfte. »Weiter.«
»Einst begann das Böse, den Menschen in Versuchung zu führen, als es nämlich erkannte, dass es auch in Menschen existieren konnte. Sich mit ihnen vereinigen konnte. Macht und Einfluss gewinnen konnte. Und mit jedem Menschen, der die Finsternis in sich aufnahm, dehnte sich das Böse weiter aus.«
»Indem das Böse verbreitet wird, erweitert sich die Hölle.«
»Genau.«
»Und dieses Gruftie-Mädehen, der Tri-Jal - das war also ein richtiger Mensch? Aber eben ein sehr starker Verbündeter der finsteren Mächte?«
Er schüttelte den Kopf. »Die äußere Hülle bekam für die Bewohner der Finsternis eine solche Schlüsselstellung, dass manche Dämonenarten lernten, sie herzustellen. Aber es ist nur eine Verpackung, um in unsere Dimension einzudringen - denn die wahre Gestalt eines Dämons fiele hier zu sehr auf.« Ich dachte an den Grykon und nickte. »Das Böse bekommt Menschen dann am leichtesten in seine Gewalt, wenn es behutsam vorgeht. Wenn es so aussieht und sich so anfühlt wie etwas, das uns möglichst vertraut ist.«
»Dann sah der Dämon zwar aus wie ein Mädchen, hatte aber nichts Menschliches an sich. Nicht wie dieser Mensch, der besessen war. In dem steckte noch ein Best von Mensch. Er war nur zusammen mit einem Dämon eingesperrt.«
»Eingesperrt«, nickte Zane, »und unterjocht.«
Ich stand auf und ging zum Bücherregal hinüber, während ich mir seine Worte durch den Kopf gehen ließ. »Wenn Menschen das Dunkel in sich aufnehmen können, können dann Dämonen auch das Licht in sich aufnehmen?«
Er lächelte. »Ali, ma cherie, das ist die Frage! Ein einziger Mann kann die Dimension der Hölle ausdehnen, indem er sich dem Bösen anschließt. Kann Gott dann nicht auch durch ein Kind der Finsternis bereichert werden, das sich dem Licht zuwendet?«
»Und? Kann er?«
»Alles Natürliche kann gut sein oder böse. Das ist der freie Wille, cherie. Aber jeder von uns, ob Mensch oder Dämon, besitzt eine wahre Natur. Und nur sehr wenige sind so tapfer, sich dagegen aufzulehnen.«
Das war wohl ein eingeschränktes Ja. Ich befeuchtete meine Lippen und fragte mich, was wohl meine Natur war. Und ob sie sich verändert hatte, als ich zu Alice wurde, und ob sie sich noch immer veränderte, wenn ich Tag für Tag Dämonen absorbierte.
»Zieh deine Natur nicht in Zweifel, cherie!«, sagte er freundlich. »Du hast ein gutes Herz.«
»Und du? Wie sieht es mit deiner Natur aus?«
Er lächelte gezwungen. »Ich kämpfe auf der Seite der Rechtschaffenheit. Das schwöre ich. Obwohl ich täglich für meinen Hochmut bezahle.«
»Hochmut?«
»Als ich jung war, wünschte ich mir das ewige Leben, eine Eigenschaft, die nur echten Engeln und körperlosen Dämonen gewährt wird. Ich handelte unbesonnen, weil ich etwas begehrte, das ich nicht richtig verstand. Und wenn ich die indirekten Folgen bedacht hätte, wäre es mir lieber gewesen, diesem Begehren wäre nicht stattgegeben worden. Für meine Dummheit wurde ich bestraft.« Seufzend schloss er die Augen. »Und nun teilst du meine Qual.«
»Aber das heißt, du hast bekommen, was du wolltest«, sagte ich leise. »Unsterblichkeit.«
»Sieht so aus«, antwortete er. Doch als er mich ansah, war sein Lächeln matt. »Es gibt Zeiten, da glaube ich, dass die Hölle der Ort ist, wo alle Träume in Erfüllung gehen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Weißt du, warum ich hier unten bin, Lily? Hier unten in diesem Gefängnis aus Stahl und Beton?«, fragte er, jetzt ohne jeden Akzent. »Hast du eine Vorstellung, wie alt ich bin? Wie viele Leben ich schon hatte? An wie vielen Orten ich gelebt, wie viele Frauen ich gehabt habe, wie viele Jahre ich wie Minuten habe vergehen sehen?«
»Nein.«
Ein trauriges Lächeln zuckte um seine Lippen. »Ich auch nicht. Aber es waren viel zu viele.«
»Zane …«
Er hob eine Hand. »Nein, hör mir zu! Ich habe Tausende von Leben gelebt, und ich bin einfach müde. So unsagbar müde, dass ich mich tatsächlich nach dem Tod sehne. Ich sehne das Ende dieses Lebens herbei und den Beginn eines neuen, egal in welcher Gestalt. Und dennoch kann ich das, was ich mir wünsche, nicht bekommen. Und zwar wegen meines eigenen dummen Ehrgeizes. Ich bin in einem von mir selbst erschaffenen Albtraum gefangen.«
»Aber was hat das damit zu tun, dass du hier in diesem Keller sitzt?«
»Ich habe vor langer Zeit einen Handel abgeschlossen: Ich bilde Krieger aus - und erhalte dafür meine Freiheit, wenn die Zeit reif ist. Man gewährt mir den Tod.« Er sah mir in die Augen. »Alles, was ich zu tun habe, ist hierzubleiben, zu unterrichten und trainieren.«
»Zu bleiben?«, wiederholte ich. »Soll das heißen, du kannst hier nicht weg? Du darfst nicht nach oben?«
»Darf ich schon, aber dann ist der Deal hinfällig.« Er wartete, dass ich etwas entgegnete, aber mir fiel nichts ein. »Kennst du die wahre Hölle, Lily?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hin und wieder bin ich versucht, mit dem Aufzug nach oben in die Stadt zu fahren.«
»Aber dann würdest du die Vereinbarung brechen und unsterblich bleiben.«
Er atmete hörbar aus. »Nach so langer Zeit fürchte ich den Tod ebenso sehr, wie ich ihn mir wünsche. Ein abscheuliches Dilemma!«, lächelte er.
Ich stellte mir vor, wie er hier gefangen war, und ich erkannte, dass Zane meinen Albtraum bereits durchlebte - nur in größerem Maßstab.
»Wie lange musst du denn hier noch ausharren?«
»Das hängt von dir ab, Lily. Das Schicksal der Welt wird sich bald entscheiden, und damit auch mein Schicksal. Die Konvergenz«, sagte er mit einem Anflug von Furcht in den Augen, »rückt von Tag zu Tag näher, ob uns das nun passt oder nicht.«
»Zane, es tut mir …«
»Nein! Von allen Menschen solltest du mich am wenigsten bedauern. Wir sind aufeinander angewiesen, Lily. Uns verbindet das gleiche Schicksal.«
Beunruhigt runzelte ich die Stirn.
»Aber genug jetzt von Theologie und Ewigkeit. Du bist heute Abend hergekommen, weil du befürchtet hattest, ich hätte mich gegen dich gewandt. Aber glaub mir, mafleur, ich wünsche dir kein Leid.« Sein Blick streifte mich, da ich es vermied, ihm direkt in die Augen zu schauen. Ich hatte Angst, was ich darin erkennen könnte, wenn ich Alice’ zweitem Gesicht freien Laufließe. Außerdem sollte er nicht erfahren, dass ich diese seherische Fähigkeit hatte. »Nein, cherie, nie im Leben würde ich dir ein Leid wünschen!«
Grob drückte er seine Lippen auf meine und ließ mich atemlos und begierig auf mehr zurück.
Begierig, ja, aber nicht willig. Sanft drückte ich ihn von mir, ebenso wie meinen inneren Schmerz, der mich um Linderung anbettelte.
»Nein.«
Prüfend sah er mich an, und ich wandte den Blick ab, ehe mein Wille schwanken konnte. Er machte mich an, das schon. Er hatte meine Sinne entflammt.
Aber letztlich war es ein anderer Mann, der meine Gedanken beherrschte. Ein gefährlicher Mann, den ich trotz besseren Wissens in mein Bett locken wollte.
Er trat zurück, vergrößerte die Entfernung zwischen uns. »Du brichst mir das Herz, cherie.«
»Ein anderes Mal vielleicht«, sagte ich. »Wenn die Dinge sich geändert haben.«
»Ist das ein Versprechen, cherie?«
Ich dachte an mein Versprechen, Rose immer zu beschützen, und schüttelte den Kopf. »Ich gebe keine Versprechen mehr.« Ich drehte mich um. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen