19

 

Er wusste es.

Irgendwie wusste Deacon, dass ich nicht die richtige Alice war.

Tief sog ich die frische Nachtluft ein, die deutlich sauberer war als die Mischung aus Rauch und Drogen und Körperausdünstungen, die ich in der tanzenden Menge eingeatmet hatte. Die Luft reinigte nicht nur meine Nasenhöhlen, sondern auch mein Gehirn. Nein, er wusste nicht, was los war. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Er vermutete etwas, das schon, aber das war schließlich ganz was anderes. Und auch wenn er sich die eine oder andere Frage stellte, würde er wohl kaum auf die Idee kommen, dass ich mir Alice’ Körper unter den Nagel gerissen hatte.

Während ich mit großen Schritten über den Bürgersteig fegte, kreisten meine Gedanken immer wieder um dasselbe Thema, und die ganzen Wenns und Abers trieben mich allmählich in den Wahnsinn.

Keine Frage, Deacon war eine Bedrohung. Eine unbekannte Größe, die ich im Auge behalten musste. Ein Joker, über den ich so schnell wie möglich so viel wie möglich in Erfahrung bringen sollte.

Dummerweise war mir der Gedanke, ihm nach Hause zu folgen und ihn auszuspionieren, erst zu spät gekommen. Also blieben mir nur banalere Suchmethoden. Ich war vielleicht keine Detektivin, aber zumindest verfügte ich über die typischen Fähigkeiten meiner Generation: Im Googeln war ich nicht so schnell zu schlagen. Was mir allerdings nicht viel half, denn als

ich in Alice’ Wohnung ankam, war dort weit und breit nichts von einem Computer zu sehen.

Erst war ich frustriert, aber dann fiel mir die rosa Ledertasche ein, die ich auf der Suche nach Kellnerinnenklamotten hinten im Schrank entdeckt hatte. Und tatsächlich entpuppte sie sich als eine dieser schicken Laptop-Taschen für Mädchen und beherbergte ein glänzendes weißes MacBook.

Während ich den Computer auf den Küchentisch stellte, fragte ich mich, ob sie kurz vor ihrem Tod gepackt hatte, um zu verreisen. Die meisten Leute ließen ihren Computer ausgepackt und angeschaltet, weil sie es nicht länger als eine Minute aushielten, ihn nicht auf neue E-Mails oder sonstige Nachrichten zu checken.

Als ich ihn einsteckte und hochfuhr, kam ich mir ganz schön voyeuristisch vor. Aber dann rief ich mir in Erinnerung, dass ich alles Recht der Welt hatte rumzuschnüffeln. Formal gesehen gehörte der Computer jetzt mir.

Während das Gerät startete, drückte ich auf die Taste von Alice’ Anrufbeantworter. Ihre fröhliche Ansage enthielt glücklicherweise auch ihre Telefonnummer, die ich mir gleich mal merkte. Dann kündigte die digitale Stimme drei neue Nachrichten an.

Die erste war von Gracie - was keine Überraschung war. Die zweite war von jemandem namens Brian, der wissen wollte, ob sie Lust auf einen Film hatte. Die letzte war von Sylvia, die angerufen hatte, um sich zu verabschieden, bevor sie sich mit ihrem Freund auf eine Europareise begab.

Freunde. Alice hatte Freunde gehabt und ein Leben, Menschen, denen sie etwas bedeutet hatte. Menschen, die um sie getrauert hätten, wenn sie von ihrem Tod gewusst hätten. Mühsam schluckte ich und fragte mich, ob wohl irgendjemand Lily Carlyle hinterhertrauerte - abgesehen von Rose und Joe.

Wieder schluckte ich, schüttelte die Melancholie ab und

wandte mich erneut dem Anrufbeantworter zu. Gracie hatte ich bereits kennengelernt, und mehr Freundschaft konnte ich im Moment echt nicht ertragen. Es war so schon schwer genug, mit diesem neuen Ich klarzukommen. Ich konnte nicht auch noch gleichzeitig die alte Alice sein. Jedenfalls nicht sofort. Erst musste ich mich in dieser Rolle besser zurechtfinden.

Ich drückte auf die Löschtaste und lauschte, wie das Gerät mit sirrendem Geräusch die Freunde verschwinden ließ. Jetzt kann ich wieder bei null anfangen, dachte ich. Komplett von vorn.

Aber ein Teil von mir hätte doch gern Sylvia und Brian kennengelernt. Wollte mit ihnen ein Bier trinken gehen oder ins Kino. Und ein anderer Teil von mir fragte sich, ob sie wohl Alice sehen würden, wenn wir uns trafen. Oder ob sie wie Deacon feststellen würden, dass irgendetwas nicht stimmte.

Genervt schob ich die Gedanken beiseite. Alice’ Computer war inzwischen startklar, und glücklicherweise hatte sie das System nicht mit einem Passwort geschützt. Außerdem konnte ich mich an mindestens vier WLAN-Netze dranhängen.

Eigentlich wollte ich Deacons Namen eingeben, aber meine Finger machten sich selbstständig und suchten nach meinem eigenen. Ich stieß auf die Bekanntmachung, dass meine Beerdigung am Donnerstagnachmittag stattfinden würde. Man ging davon aus, dass die Polizei die Leiche bis dahin freigegeben hätte.

Der Gedanke, dass ich durch die Gegend spazierte, während mein Körper auf der Liege eines Bechtsmediziners ruhte, jagte mir einen Schauder über den Bücken. Aber vor allem musste ich an Rose und meinen Stiefvater denken. Wie es ihnen wohl ging, jetzt, wo ich tot war? Und wie schrecklich musste es für sie gewesen sein, mich im Leichenschauhaus zu identifizieren.

Vor meinem inneren Auge tauchte ein Bild von Bose auf mit tränenüberströmtem und ramponiertem Gesicht. Ich hatte immer noch die Kohle, die ich ihr schicken wollte, also suchte ich in

Alice’ Wohnung nach einem Umschlag, stopfte das Geld hinein und kritzelte Rose’ Adresse drauf. Es war nicht viel, aber immerhin etwas. Genau wie das Medaillon, das jetzt über meinem Herzen hing: Es machte nicht viel her, aber es bedeutete mir alles.

Ich wollte ihr mehr Geld schicken. Verdammt, ich wollte mit ihr reden! Wollte mehr als den kurzen Blick auf das völlig verstörte Mädchen, das ich in der Tür gesehen hatte. Und obwohl mir klar war, dass ich das besser lassen sollte, hob ich den Hörer ab und wählte unsere Telefonnummer. Ein kurzer Anruf von Lilys angeblicher Freundin würde schon nicht gleich sämtliche Dämonen der Welt zu ihrer Haustür führen.

»Hallo? Hallo?« Ihre Stimme klang dünn und als wäre sie in Eile, und mir wurde bewusst, dass sie sich vermutlich gerade für die Schule fertig machte.

Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.

»Verdammt«, sagte sie und knallte den Hörer auf, als ich gerade mühsam »Bose« flüsterte.

Ich hielt den Hörer weit von mir und starrte ihn an, bis sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich hatte ihr Angst gemacht. Das hatte ich nicht gewollt. Ich hatte nur ihre Stimme hören wollen.

Und mit meinem Egoismus hatte ich bei ihr vermutlich die Erinnerung an Johnsons grauenhafte Anrufe wachgerufen.

Wenigstens er war tot.

Die Artikel, die ich im Internet fand, bestätigten, was Clarence mir erzählt hatte: Unser beider Leichen waren am Tatort gefunden worden. Also hatte ich geschafft, was ich mir vorgenommen hatte - ich hatte Lucas Johnson umgebracht.

Ich hatte einen Plan entworfen, war losgezogen und hatte getötet.

Und das bereute ich keinen Moment lang.

Ich schloss die Augen, holte tief Luft und verstand nun endlich, was Clarence und Zane schon die ganze Zeit gewusst hatten. Was ich gespürt hatte, als ich den Blutsauger erledigt hatte: Ich konnte wirklich töten. Ich konnte dem Bösen die Stirn bieten und die Klinge bis zum Anschlag darin versenken.

Das gefiel mir. Das gefiel mir sogar außerordentlich.

Ich schüttelte die Gedanken ab und beschloss, mich von jetzt an zu konzentrieren. Schließlich hatte ich noch so einiges zu erledigen.

Wild entschlossen tippte ich Deacons Namen ein, fand aber nichts. Der Mann war ein Rätsei. Oder, um es genauer zu sagen, der Dämon war ein Rätsel.

Um mich von Deacon abzulenken, suchte ich nach Informationen über Alice Purdue, aber auch über sie fand ich nichts sonderlich Aussagekräftiges. Ein paar popelige Eintragungen über ihren Highschoolabschluss, ein Hinweis auf ihr Geburtsdatum und ein Foto, auf dem sie mit Egan und einer Frau zu sehen war, die laut Begleittext ihre Schwester Rachel war. Die drei standen vor dem Bloody Tongue, an jenem Tag, als es zur historischen Sehenswürdigkeit gekürt wurde.

Ich prägte mir das Bild der Schwester ein, dann gab ich auf. Ob man das gut oder schlecht finden mag - über 22-jährige Kellnerinnen findet sich nun mal nicht viel bei Google.

Einen Großteil ihres Lebens hatte sie im Bloody Tongue verbracht, und über diesen Ort wollte ich unbedingt mehr in Erfahrung bringen. Als Erstes rief ich die Webseite des Pubs auf und arbeitete mich durch die übliche Werbung - die großartigen Kritiken über das Restaurant, seine langjährige Tradition als Familienbetrieb, die originalgetreue Speisekarte, in die auch ein paar neuere, angesagte Gerichte aufgenommen worden waren. Und natürlich den Ruf des Pubs: dass es dort unheimlich war und spukte. Woran ich mich gut von meiner Gruselrundfahrt durch Boston erinnern konnte.

Das Bloody Tongue machte gute Geschäfte mit den Gerüchten. Angeblich stand es mit dunklen Mächten im Bunde, angeblich gab es Verbindungen zu Hexen und Hexenprozessen, und angeblich hatte Hexenjäger Colton Mather höchstpersönlich versucht, die Schänke im späten 17. Jahrhundert schließen zu lassen, was ihm allerdings nicht gelungen war. Woraus man entweder schließen konnte, dass das Pub nichts mit Dämonen zu tun hatte - oder dass es dort derart von schwarzer Magie wimmelte, dass die Ankläger jener Zeit dagegen nicht ankamen.

Die Webseite ließ diese Fragen offen, was noch zur Anziehungskraft des Pubs beitrug. All die Touristenseiten, die das Bloody Tongue erwähnten, stellten die Verbindung zu den dunklen Mächten als etwas eher Amüsantes und leicht Kitschiges dar. Trotzdem fragte ich mich, ob sich dahinter nicht doch ein gar nicht mal so kleiner Funke Wahrheit verbarg.

Als Nächstes schnüffelte ich in Alice’ Internetbrowser herum. Ich hoffte, auf etwas zu stoßen, das ihr so wichtig gewesen war, dass sie mit Deacon ein heimliches Treffen vereinbart hatte. Aber der Verlauf war gelöscht worden und alle Cookies ebenso.

Da war nichts, also konnte ich auch nichts herausfinden. Nichts außer der befremdlichen Tatsache, dass Alice offensichtlich ein paar Leichen im Keller hatte. Und die hatte sie außerordentlich gut gehütet.

Ich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, fragte mich, wie ich jetzt weitermachen sollte, und beschloss, mehr über meine seltsame neue Welt in Erfahrung zu bringen. Clarence hatte mir bereits einiges über die unterschiedlichen Dämonenarten beigebracht, aber ich hatte im Unterricht noch nie sonderlich gut aufpassen können. Und wenn man bedenkt, was alles am ersten Tag meiner neuen Karriere auf mich eingestürmt war, dürfte es kaum verwunderlich sein, dass mir die Informationen zum einen Ohr rein-und zum anderen wieder rausgegangen waren.

Schon bald musste ich feststellen, dass man im Internet nicht sonderlich viel über Dämonen erfährt. Nachdem sich auf wissenschaftlicher Ebene nichts finden ließ, rief ich Seite um Seite von Fan Fiction auf, Zusammenfassungen verschiedener Fernsehsendungen und ein paar Seiten der Verkünder des Weltuntergangs mit all ihrer Hoffnungslosigkeit und Katastrophenstimmung. Ein paar der Informationen kamen mir bekannt vor. So hatte mir Clarence erklärt, dass manche Dämonen tatsächlich menschliche Gestalt annehmen können, während andere sich einfach eines Menschen bemächtigen - wobei manche Menschen sich sogar freiwillig dafür hergeben, was ich nun wirklich abstoßend fand. Gruftie war tatsächlich ein menschlicher Dämon gewesen. Mir war bis jetzt noch kein Mensch über den Weg gelaufen, der - gewollt oder ungewollt - einen Dämon beherbergte, aber in meinem neuen Job standen die Chancen vermutlich gut, dass das nur noch eine Frage der Zeit war.

Davon abgesehen waren die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit fließend. Offensichtlich musste ich Clarence’ Vorlesungen und Büchern mehr Aufmerksamkeit schenken. Vielleicht konnte ich mir ja auch einfach Kurzfassungen besorgen.

Wie auch immer: Ich gab es jedenfalls ziemlich schnell auf, mehr über meine neue Lebensaufgabe herausfinden zu wollen, und beschloss, mich nochmals der Suche nach Informationen über Alice zu widmen. Diesmal versuchte ich, in ihren Dateien rumzuschnüffeln, in der Hoffnung, ein bisschen mehr über die Frau in Erfahrung zu bringen, die ich jetzt war. Es wurde allerdings ein sehr kurzer Ausflug. Den Computer selbst hatte Alice zwar nicht mit einem Passwort geschützt, dafür aber jede einzelne Datei.

Dennoch gelang es mir, eine der Dateien zu öffnen, und zwar mit einer Mischung aus Neugier, Dummheit und Glück. Mir war ein Ordner ins Auge gefallen, der den Namen »Für Samstag« trug, und ich tippte einfach mal versuchsweise »Deacon« als Passwort ein. Und siehe da - der Ordner ging auf, und ich war drin.

Nicht gerade ein berauschender Sieg; der Ordner enthielt gerade mal eine Datei. Darin war nur ein einziges Foto: ein Mann, gebaut wie ein Schrank, mit pockennarbiger Haut, tief hängenden Augenlidern und einer Mach-mich-ja-nicht-an-Ausstrahlung. Er sah nicht in die Kamera, deshalb konnte ich nur die Hälfte seines Gesichts erkennen. Das Foto war nachts aufgenommen worden, und die Bildqualität war schlecht, als hätte Alice es im Gehen mit ihrem Handy geschossen. Die Datei trug den Namen »T«, und mehr Informationen gab es nicht. Bei dem Foto stach nichts sonderlich heraus. Es war einfach nur da. Im Computer. Nahm Speicherplatz weg und hatte vielleicht eine tiefere Bedeutung. Aber verdammt - ich hatte keine Ahnung, worin sie liegen könnte. Genauso wenig, wie ich mir vorstellen konnte, warum die Datei mit einem Passwort geschützt war, hatte ich eine Ahnung, warum das Passwort ausgerechnet Deacon hieß.

War ihr das einfach als Erstes in den Sinn gekommen, weil er derjenige war, mit dem sie sich am Samstag hatte treffen wollen? Oder kannte er diesen Mann? Und wenn ja, was hätte er mir über diesen T erzählen können? Darauf wusste ich keine Antwort. Aber ich müsste lügen, würde ich mir nicht das leichte Kribbeln auf meiner Haut eingestehen, das mich bei dem Gedanken erfasste, mich nochmals mit Deacon zu treffen. Ja, er war gefährlich. Ja, er verdächtigte mich.

Ja, er war ein gottverdammter Dämon.

Und ja, das machte die Sache komplizierter.

Aber trotz alledem wollte ich es. Und - Schande über mich - ihn wollte ich ebenfalls.

Meine Gedanken wandten sich gerade den erotischen Vergnügen zu, die mir diese verbotene Lust bescheren würde, als es zu meinem Erstaunen plötzlich hartnäckig an der Tür klopfte.

Sofort hatten sich meine Fantasien erledigt. Es war noch kaum hell draußen, und zumindest in meiner Welt kommt niemand so früh am Morgen zu Besuch.

Stirnrunzelnd schnappte ich mir das Messer vom Tisch, wo ich es neben dem Computer abgelegt hatte, und ging zur Tür. Clarence konnte es nicht sein - er würde sich nicht erst die Mühe machen zu klopfen -, und ich versuchte mein Möglichstes, das vorfreudige Kribbeln zu unterdrücken, das mich beim Gedanken an die Möglichkeit überfiel, Deacon könne dort draußen stehen. Schließlich konnte es jeder x-Beliebige sein. Zwar hockte ich mit meiner Dämonenmörderausrüstung jetzt in dieser Wohnung, aber das war schließlich nicht in der Lokalzeitung bekannt gegeben worden. Was bedeutete, dass der Besucher vermutlich zu Alice wollte. Der richtigen Alice.

Ihr Mörder war vermutlich etwas verstört, sie so quicklebendig herumlaufen zu sehen, und ich packte mein Messer gleich noch fester. Zumal er das Morgengrauen vielleicht für den richtigen Zeitpunkt hielt, dieses kleine Problem zu lösen.

Andererseits wäre ein potenzieller Mörder vermutlich nicht so höflich zu klopfen.

Ich presste ein Auge gegen den Spion und zog einen Flunsch, als ich dort draußen eine große Frau mit rabenschwarzen Haaren, vertrauten Augen und ungeduldigem Gesichtsausdruck stehen sah. Dieses Gesicht hatte ich doch schon mal irgendwo gesehen. Aber erst als sie erneut an die Tür hämmerte und »Alice! Verdammt, mach auf« rief, erkannte ich sie von dem Foto und dem Zeitungsartikel, die ich gesehen hatte.

Das war Rachel. Alice’ - oder besser meine - Schwester.

»Du wirst mich nicht hier stehen lassen«, brüllte sie durch die Tür, laut genug, dass die Nachbarn es mitbekamen. »Du kannst mich ignorieren, so lange du willst, aber ich habe einen Schlüssel und keine Hemmungen, ihn zu benutzen.«

Kurz überlegte ich, ob ich mich nicht auf die Feuerleiter flüchten sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie war Alice’ Schwester, und früher oder später musste ich mich ihr ja doch stellen, da konnte ich es auch gleich hinter mich bringen.

Ein weiteres Hämmern, dann das Scheppern eines Schlüsselbunds. »Okay. Ich komme rein.«

Ich schob den Riegel zurück, drehte den Türknauf und riss die Tür auf. Rachel, die ihren Schlüssel gerade ins Schloss gesteckt hatte, wurde mitgerissen und stolperte in den Flur.

Sie starrte mich an, richtete sich auf und zog den Schlüssel heraus. »Noch langsamer kannst du deinen Hintern wohl nicht in Bewegung setzen.«

»Es ist noch früh, Bach«, entgegnete ich. »Du hast mich aufgeweckt.«

»Räch?«, wiederholte sie. »Was ist los, AI?«

Es gelang mir, ein müdes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Offensichtlich hatte diese Familie es nicht so mit Kosenamen. »Ist mir nur so rausgerutscht.«

»Dann schieb’s wieder rein.« Sie ließ ihre Handtasche auf den kleinen, mit Intarsien versehenen Tisch in der Nähe der Tür fallen und ging einfach weiter in die Küche.

Ich blieb ein bisschen zurück, um mir erst mal ein Bild von ihr zu machen. Die Handtasche war eindeutig von Prada, und Rachels total aufeinander abgestimmtes Outfit verriet mir, dass sie nicht ein einziges Kleidungsstück am Leib trug, das ohne einen berühmten Namen daherkam. Auch Alice hatte sich, wie ich bereits festgestellt hatte, gut gekleidet, aber ihre Sachen verströmten eher den Charme günstiger Einkaufsketten. Rachel dagegen stank nach Geld.

»Schläfst du neuerdings in deinen Klamotten?«, fragte sie von der Küche her.

»Was?«

Sie zog die Augenbrauen hoch und machte eine Kopfbewegung in meine Richtung. Ich sah an mir herab und stellte fest, dass ich immer noch in Jeans und Tanktop rumlief. Es waren zwar keine Blutflecken mehr zu sehen, aber ich roch bestimmt noch danach. Es war ein höllischer Tag gewesen. Buchstäblich.

»Netter Pyjama.«

»Ach so, ja … Ich bin vorm Fernseher eingeschlafen und … na ja, du weißt schon.«

»Ich denke, doch«, entgegnete sie, aber bevor ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, verschwand sie hinter dem Tresen und tauchte mit einem Mixer in der Hand wieder auf. Sie stöpselte ihn ein, warf mir über den Tresen hinweg einen prüfenden Blick zu und drehte sich dann um, um den Inhalt meines Kühlschranks zu inspizieren.

»Was tust du … ?«

»Ich kenne dich, Alice. Du isst nicht richtig. Ich mache dir einen Shake.«

Ich wollte gerade widersprechen, sagen, dass ich nach einer streng ausgewogenen Diät lebte, als mir bewusst wurde, dass ich außer ein paar Bissen Fisch mit Pommes in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts zu mir genommen hatte. Ausgerechnet in dem Moment fing mein Magen an zu knurren, und Rachel sah mich triumphierend an. Zwei Dinge wurden mir schlagartig klar: erstens, dass ein Shake gar nicht so schlecht klang. Und zweitens, dass ich null Erfahrung mit der Bolle der jüngeren Schwester hatte. Bis jetzt, musste ich zugeben, war es nicht allzu schlimm. Ein bisschen überfallartig, aber erträglich.

»Was ist los?« Rachel warf mir einen kurzen Blick zu. »Was ist passiert?«

Ich rieb mir die Augen, um die Tränen wegzuwischen, die mir beim Gedanken an Bose gekommen waren. »Nichts. Ich habe dir doch gesagt, du hast mich aufgeweckt.«

Das schien sie nicht unbedingt zu überzeugen, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, Joghurtbecher auszukratzen, um nachzuhaken.

»Und was tust du hier um diese Uhrzeit?« Eine riskante Frage für jemanden, der derart ahnungslos war, aber ich beschloss, sie trotzdem zu stellen.

»Kann eine große Schwester denn nicht einfach mal ihre kleine Schwester besuchen kommen?«

Ich legte den Kopf auf die Seite und hoffte, entweder genervt oder resigniert zu wirken.

Es funktionierte. »Jetzt hör schon auf! Ich habe versprochen, dass ich da nicht wieder aufkreuze, und ich habe das ernst gemeint. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht für eine total bescheuerte Idee halte, dort wieder zu arbeiten.«

»Ich weiß«, entgegnete ich und zuckte auf eine Art mit den Schultern, von der ich hoffte, sie würde Rachel zu einer längeren Standpauke herausfordern.

Das ohrenbetäubende Sirren des Mixers setzte dieser Hoffnung ein Ende, und bis sie die Shakes eingoss, hatte sie das Thema ganz offensichtlich bereits aus den Augen verloren. Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte es wieder anschneiden. Klar war jedenfalls, dass es ihr nicht passte, dass Alice in dem Pub arbeitete. Ob das was damit zu tun hatte, dass es ein Anziehungspunkt für Dämonen war? Oder gab es einen anderen Grund?

Meine Gedanken kehrten zu Deacon zurück. Hatte irgendetwas, das Alice im Pub gesehen hatte, sie dazu veranlasst, Deacon um Hilfe zu bitten?

Ich wusste es nicht, aber ich musste es herausfinden. Denn wenn man alles zusammenzählte, kam als Ergebnis heraus, dass Alice tot war. Und ich musste in Erfahrung bringen, warum. Nicht nur, weil ich das Gefühl hatte, ihr das schuldig zu sein, sondern auch, weil ich meinen neuen Körper gern beschützen wollte.

»Und wieso bist du dann also hier?«, wiederholte ich, als sie mir meinen Shake reichte.

»Ich habe mir Sorgen gemacht. Und spiel jetzt bloß nicht die Eingeschnappte und erzähl mir, du wärest erwachsen und könntest selbst auf dich aufpassen. Ich weiß nämlich, wie du sein kannst.«

»Und das wäre?«

Sie warf mir den typischen Blick einer genervten Schwester zu, der mir ziemlich bekannt vorkam. »Ich fliege heute Morgen nach London, also wollte ich kurz vorbeikommen und nach dir sehen. Dich daran erinnern, keine Dummheiten zu machen. Oder besser gesagt, nicht noch mehr Dummheiten, nachdem du ja bereits wieder für Onkel Egan arbeitest.«

»Das ist ein guter Job«, gab ich zurück in der Hoffnung, ich könnte sie dazu verleiten, mir zu erklären, warum er das nicht war.

»Ein guter Job? Das Pub steht die ganze Zeit kurz vor der Pleite, und du weißt genauso gut wie ich, wie Egan immer an das fehlende Geld kommt.«

»Ja«, antwortete ich, als wüsste ich Bescheid, und hoffte gleichzeitig, es gäbe eine einfache Möglichkeit, das rauszufinden. Es musste etwas mit den Gerüchten zu tun haben, dass das Pub Verbindung zur schwarzen Magie hatte. Aber wie? Und, viel wichtiger: Wie konnte ich danach fragen und trotzdem so klingen, als wäre ich längst eingeweiht?

»Verdammt! Du hattest mir versprochen, die Finger von diesem ganzen Magiekram zu lassen.«

Um meine Reaktion zu verbergen, trank ich schnell einen Schluck von meinem Shake. Alice war nicht so brav, wie sie wirkte, und ich fragte mich allmählich, ob das kleine Dolchtattoo auf ihrer Brust vielleicht mehr über sie aussagte als ihre rosa Garderobe. Aber was genau hatte Alice angestellt, dass sie jetzt tot war und ich in ihrem Körper steckte?

Ich schüttelte die Gedanken ab und zwang mich zu lächeln. »Ich habe nichts mit schwarzer Magie am Hut«, versicherte ich ihr. »Hier ist alles nur weiße Unschuld.«

»Alice …«

»Entschuldige. Aber mir geht es wirklich gut. Du machst dir zu viel Sorgen. Oder gibt es irgendwas Bestimmtes, worüber du dir Sorgen machst?« Klasse, Lily. Äußerst raffiniert.

»Warum laufen Gespräche mit dir eigentlich jedes Mal gleich ab? « Rachel packte den Mixer und wischte ihn mit Schwamm und Spülmittel ab. »Du hast einen Platz in Harvard bekommen, Alice! Du musst nicht im Pub arbeiten. Du musst nicht in das Familienunternehmen eintreten. Was tust du mit einem Viertelanteil von etwas, das du - wie du mir immer und immer wieder versichert hast - überhaupt nicht willst? Du warst doch völlig zufrieden damit, dem Ganzen den Rücken zu kehren.«

»So wie du?«

Sie kniff die Augen zusammen und funkelte mich böse an. Ich machte glatt einen Schritt nach hinten, so überrascht war ich von ihrer Reaktion auf etwas, das ich für eine gute Frage gehalten hatte, um ein bisschen mehr in Erfahrung zu bringen. Mir war nicht klar gewesen, dass ich da in ein Wespennest gestochen hatte. »Jetzt tu doch nicht so!«, entgegnete sie kalt. »Das passt nicht zu dir.«

»Tut mir leid«, murmelte ich ernsthaft zerknirscht.

Ihre Schultern sackten herab, dann atmete sie laut durch die Nase aus, knallte den Mixer auf das Ablaufbrett und trocknete sich die Hände an einem Küchentuch ab. Sie schwankte leicht, als bräuchte sie eine Stütze. Schließlich steckte sie die Hände in die Taschen ihres eng anliegenden Jacketts.

»Versprich mir einfach, dass du vorsichtig bist und keine Dummheiten machst.«

»Ich verspreche es«, erwiderte ich und schwor mir herauszufinden, welche Dummheit Alice denn nun tatsächlich gemacht hatte.

»Na gut.« Sie kam um den Frühstückstresen herum und nahm mich in den Arm. Einen Moment lang stand ich wie festgenagelt da, dann legte ich die Arme um sie und genoss das Gefühl, geliebt zu werden. Zwar nur in Vertretung, aber zurzeit nahm ich, was ich kriegen konnte.

Als wir uns voneinander lösten, strich sie mir sanft das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe das Taxi unten warten lassen, ich muss jetzt wirklich los. Wenn ich den Flug verpasse, kriege ich mit den Londonern echt Ärger.«

Ich nickte zustimmend, dabei wusste ich nicht mal, wieso sie überhaupt nach London reiste.

»Kannst du mir einen Gefallen tun? Rieh muss Mittwoch nach Washington, und das heißt, er kann nicht auf Lucy und Ethel aufpassen. Ich weiß, es ist nervig, aber es ist ja nur der eine Abend. Würde es dir was ausmachen? Rieh fährt erst nach dem Mittagessen, du kannst also ruhig später kommen.«

»Ja … na klar, kein Problem.«

»Wirklich?« Ich versicherte ihr, Lucy und Ethel würden in besten Händen sein, und wurde gleich noch mal kräftig in den Arm genommen. »Du bist die Beste!«

Sie stolzierte auf ihren hohen Absätzen zur Tür, umarmte und küsste mich noch einmal, überprüfte rasch im Spiegel über dem Tischchen, ob ihr Haar richtig saß, und verschwand im Treppenhaus.

Ich blieb in der Tür stehen, sah ihr nach und fragte mich, worauf ich mich da wohl eingelassen hatte. Vermutlich auf einen großen Haufen Mist, zumal ich, wie mir - jetzt, wo es zu spät war - klar wurde, nicht mal wusste, wo sie wohnte. Oder gar, wo sie ihren Schlüssel versteckte.

Und wenn ich es mir recht überlegte, war ich nicht mal sicher, was für einer Gattung Lucy und Ethel angehörten. Ich war von Hunden ausgegangen, aber vielleicht sollte ich ja für zwei hungrige Venusfliegenfallen den Babysitter spielen.

Ich trat ins Treppenhaus, um Rachel hinterherzujagen und sie zu fragen … ja, was? Ich stolperte, als mir klarwurde, dass ich das nicht machen konnte. Jedenfalls nicht, wenn ich nicht auffliegen wollte.

Ich würde irgendwas aus dem Hut zaubern müssen