34

 

Ich schwankte. Sollte ich etwas unternehmen oder es lieber bleiben lassen? Schließlich rang ich mich dann doch dazu durch, das knallharte Mädchen zu sein, das ich sein sollte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte Egan, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. Er blickte von dem Tequila auf, den er gerade einschenkte, und runzelte misstrauisch die Stirn.

»Wieso? Was soll denn nicht in Ordnung sein? Abgesehen davon, dass Gracie aufhört und mir das erst an ihrem letzten Tag erzählt. Hast du davon gewusst?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, möglichst überrascht auszusehen. »Dann macht dir also bloß das zu schaffen?«

»Reicht das nicht?«

Ich kämpfte einen Moment lang mit mir, beschloss dann aber doch, in den sauren Apfel zu beißen. »Ich habe vorhin dein Gespräch mit Tank gehört. Er klang ganz schön sauer. Und … nun ja, es klang, als würde er dich in irgendetwas Illegales mit reinziehen wollen.« Egan wirkte zwar nicht wie jemand, der hinter dem Tresen Drogen verhökerte, aber mich überraschte so schnell nichts mehr. Nicht, dass ich Alice’ Onkel etwas unterstellen wollte. Besser war es, auf der Schiene zu bleiben, ob er in irgendetwas reingezogen wurde, dann würde er vielleicht wenigstens einen Teil der Wahrheit ausspucken. »Ich dachte, du brauchst vielleicht Hilfe.«

Erst sah er mich erschrocken an, dann verwirrt. Und dann fing er zu meiner Überraschung laut zu lachen an. »Ach du Scheiße, Mädchen! Das klang vermutlich so, als würden wir Heroin unter

die Leute bringen. Und Tank würde man so etwas auch wirklich zutrauen, nicht wahr?«

Ich blinzelte, schockiert über seine Freimütigkeit.

»Kann gut sein, dass das Arschloch sogar wirklich dealt«, fuhr Egan fort, als wäre ihm das gerade erst in den Sinn gekommen. »Aber nicht hier.« Er sah mich durchdringend an. »So was lasse ich nicht zu, und das weißt du verdammt gut.«

»Ja natürlich«, entgegnete ich, als ob ich das wirklich wüsste. »Dann ging es also nicht um Drogen. Ging es irgendwie um schwarze Magie?«

Egan schüttelte den Kopf. »Das müsstest du doch besser wissen, Mädchen.«

Ich nickte. Clarence hatte mir erzählt, dass Egan sich mit Alice’ Mom gestritten hatte, weil sie sich mit schwarzer Magie eingelassen hatte. Dass die Kneipe als gefährlich galt, war für ihn in Ordnung, aber echte Gefahr - das ging zu weit.

»Also gut, was ist es dann? Was ist los?«

Jetzt sah er mich wieder amüsiert an und schob feixend Gracie das Tablett mit den Drinks zu, wobei er es bewusst vermied, sie anzusehen. »Der Idiot hat sich beschwert, dass der Wagen, den ich ihm verkauft habe, nicht läuft. Dieser uralte Buick? Der kotzgrüne? Als er ihn abgeholt hat, lief er noch bestens, aber er will, dass ich ihm entweder das Geld zurückgebe oder ihm ein anderes Auto besorge, und …« Er zuckte mit den Schultern.

»Darum geht es? Um ein Auto? Und das ist es, was an dir nagt?«

»Du bist doch diejenige, die behauptet, mit mir würde was nicht stimmen. Ich selbst bin bloß genervt, weil ich mich mit lauter Idioten rumschlagen muss.«

Das klang logisch, und da ich an seinen Augen sah, dass er nicht log, kam ich mir ziemlich blöd vor. Doch dann lächelte er mich an und sagte: »Ich bin froh, dass du wieder hier arbeitest,

Alice. Es ist schön, wenn man Familie hat, die sich um einen sorgt.«

»Ja«, antwortete ich aus ganzem Herzen. »Das stimmt.«

Ich beugte mich über den Tresen und gab ihm rasch einen Kuss auf die Wange. »Ich bin spät dran. Ich muss los.«

Und zu spät war ich tatsächlich. Ich hätte bereits bei Zane sein, hart trainieren und im Ring Dämonen töten sollen. Zane behauptete, das diene dazu, mein Selbstvertrauen zu stärken und meine Fähigkeiten zu verbessern, aber ich wusste, es gab auch noch einen anderen Grand. Sie wollten, dass ich weiterhin dämonische Essenz in mich aufnahm. Clarence und Zane mochten zwar dauernd von »Abspalten« reden, aber es war klar, dass sie mich in Mordlaune halten wollten. Und das klappte am besten, wenn ich ständig ein bisschen Dämon in mich aufnahm.

Zynisch? Vielleicht.

Vielleicht hatte ich schon zu viele Dämonen abgeschlachtet.

Ich wusste es nicht.

Ich wusste nur, dass ich diese Dämonenessenz heute nicht brauchte. Immerhin ging ich zu meiner eigenen Beerdigung.

Am Gottesdienst nahm ich nicht teil. Ich wollte nicht hören, wie man Lobreden auf mich hielt. Wollte nicht sehen, wie wenige Leute in der Kirche saßen.

Und ich wollte mich nicht wie eine Heuchlerin fühlen, weil meine Familie für mich einen Gottesdienst abhalten ließ.

Meinen Glauben hatte ich schon vor langer Zeit verloren, hatte ihn zusammen mit meiner Mutter begraben. Es gibt keinen Himmel, hatte ich gedacht. Und keine Hölle. Und mit Sicherheit sieht kein Gott auf uns herab.

Es gibt nichts als Leere.

Jetzt wusste ich es besser. Aber nicht der Glaube hatte mich bekehrt, sondern die gnadenlose Realität. Ich wusste, dass in der Dunkelheit Monster lauerten. Und ja, ich hatte ganz schön

Angst. Nicht um mich mit meinen Superkräften. Aber um Leute wie Rose, denen Monster wie Johnson den Glauben ausgetrieben hatten und die unbedingt wieder den Weg ans Licht finden mussten, bevor die Finsternis sie endgültig verschluckte.

Die kleine Trauergemeinde am Grab löste sich bereits auf, als ich hinkam. Ich hielt mich etwas abseits, auch wenn ich die Einzige war, die wirklich hierhergehörte. Zunächst konnte ich nur Rose’ Rücken sehen. Aber dann drehte sie sich um, und ich stellte fest, dass sie nur noch Haut und Knochen war. Ich wusste, dass sie nichts aß. Mein Tod und ihre Erinnerungen saugten ihr das Leben aus. Ihre Haare hingen glanzlos herab, und selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, dass ihre einst so schönen Augen stumpf und ausdruckslos waren.

Ich redete mir ein, dass die Zeit ihre Wunden schon heilen würde, schließlich war seit meinem Tod nicht mal eine Woche vergangen. Aber ich wusste, das war eine Lüge. Ich wollte ihr helfen. Wollte etwas Greifbareres tun als nur die Welt zu retten.

Ich wollte zu meiner Schwester gehen, obwohl ich gleichzeitig wusste, dass ich das nicht tun sollte. Mein Wunsch und mein Verantwortungsgefühl bekriegten einander, und so hielt ich mich einfach zurück und wartete ab, welche Seite die Oberhand gewinnen würde.

Über den sorgfältig gemähten Rasen hinweg beobachtete ich, wie Rose teilnahmslos die Beileidsbekundungen einiger Leute entgegennahm. Auch Jeremy vom Videoladen war unter ihnen, und das entlockte mir beinahe ein Lächeln. Jedenfalls bis mein Stiefvater an Rose’ Seite stolperte, betrunken und in seinem Kummer völlig nutzlos.

Mein Magen zog sich zusammen, mir gefror das Blut in den Adern. Ich hatte versprochen, auf sie aufzupassen, aber jetzt, auf diesem Friedhof in den Fiats klang mein Versprechen hohl und leer. Wie hatte ich bloß so selbstgefällig schwören können, etwas zu tun, was ich nie und nimmer hinkriegen konnte? Ich konnte nicht auf sie aufpassen! Ich hatte es versucht. Verdammt, ich hatte wirklich alles gegeben.

Und was war dabei rausgekommen? Wir waren beide Verdammte. Ich mit dem Makel der Sünde befleckt, und Rose mit Ängsten, wegen derer sie nach Anbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verließ. Sie war eine Gefangene in ihrem eigenen Zuhause, gequält von ihren Erinnerungen, ihren Ängsten und den nicht gehaltenen Versprechen ihrer Schwester.

»Rose«, flüsterte ich, weil die Tränen, die sich in meiner Kehle ansammelten, das Wort einfach aus mir herauspressten. Sie konnte mich unmöglich gehört haben, dennoch drehte sie sich um. Sie riss die Augen auf, beugte sich zu Joe und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann kam sie auf mich zu.

Wie angewurzelt blieb ich stehen, trotz Clarence’ Warnung.

»Warum verfolgen Sie mich?«

Die Frage kam so unerwartet, dass sie mich völlig aus dem Konzept brachte. »Das tue ich nicht. Also … das eine Mal an der Schule, da habe ich auf dich gewartet. Aber …«

»Aber was? Sie standen dort rum und haben mich beobachtet. Ich habe Sie doch gesehen! Und nur weil ich Sie die anderen Male nicht entdeckt habe, heißt das nicht, dass Sie nicht da waren. Ich kann Ihren Blick spüren. Ich sehe, wie Sie in dunklen Ecken lauern. Sie glauben, ich wüsste nicht Bescheid. Sie halten mich für blöd, aber das bin ich nicht.«

»Ich verfolge dich nicht«, erwiderte ich und merkte, wie mir die Angst den Rücken hinaufkroch. Jemand spionierte meiner Schwester hinterher, und bei der Vorstellung wurden meine Knie ganz weich. Ich musste hierbleiben und meine Schwester beschützen, nicht irgendein kaum greifbares Übel bekämpfen.

Sie sah mich nach wie vor argwöhnisch an. Ich seufzte, weil der Anflug von Genervtheit, den ich plötzlich meiner kleinen Schwester gegenüber empfand, so vertraut war, dass mir ganz warm ums Herz wurde.

»Wenn ich dir tatsächlich nachspionieren würde, wieso sollte ich mich dann bei der Beerdigung deiner Schwester zeigen?«

Ein wenig schmollend ließ sie sich das durch den Kopf gehen. »Stimmt auch wieder«, sagte sie und fuhr mit der Spitze ihres gewienerten schwarzen Schuhs durch das feuchte Gras. »Wieso sind Sie überhaupt hier?«

»Um dir zu sagen, dass ich es ernst gemeint habe. Das, was ich neulich gesagt habe. Lily war meine Freundin, und ich weiß, dass sie dich niemals absichtlich allein gelassen hätte.«

Sie nickte, und als sie mich ansah, standen ihr die Tränen in den Augen. Dann glitt ihr Blick nach unten, und auf einmal zog sie die Stirn kraus, kniff die Augen zusammen und streckte die Hand vor. Unwillkürlich griff ich an das Medaillon, das ich unter mein Hemd gestopft hatte. Aber dort war es nicht. Es hing über dem Hemd, wo Rose es sehen konnte.

Ich zwang mich, nicht zusammenzuzucken, als ihre Finger das Medaillon berührten. Sie öffnete es und schnappte nach Luft.

»Das hat sie mir gegeben«, sagte ich. »An dem Abend, als sie … also, ich sollte es für sie aufbewahren.«

Bose stand einfach nur da, und ich hatte keine Ahnung, ob sie mir diesen Blödsinn abkaufte.

Ich griff nach dem Verschluss. »Möchtest du es haben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte, dass Sie es bekommen.« Sie legte den Kopf auf die Seite, als versuche sie, sich einen Beim auf mich zu machen. »Sie sind wirklich ihre Freundin.«

»Ja. Das habe ich dir doch gesagt. Und mein Versprechen gilt. Wenn du was brauchst - egal was -, kannst du mich anrufen. Hier. Ich habe jetzt ein Handy.« Ich trug noch immer eine schwarze Jeans und unter dem roten Ledermantel ein schwarzes T-Shirt. Vermutlich sah ich damit nicht gerade Respekt einflößend aus, aber ich hatte keine Zeit gehabt, mich umzuziehen. Außerdem war ein Rock beim Motorradfahren ziemlich unpraktisch.

Ich durchwühlte sämtliche Taschen, aber in keiner fand sich Papier oder Stift. Rose zögerte kurz, dann öffnete sie ihre kleine schwarze Handtasche, die einst unserer Mutter gehört hatte. Sie reichte mir einen Notizblock und einen Kugelschreiber, und ich schrieb ihr außer meinem Namen und meiner Nummer auch noch den Namen des Pubs auf. Glücklicherweise dachte ich daran, »Alice« zu schreiben, nicht »Lily«. Es wurde von Tag zu Tag leichter, von mir als Alice zu denken.

»Ich meine das ernst«, wiederholte ich und gab ihr den Notizblock zurück. »Egal, was du brauchst, ruf mich an.« Clarence würde das zwar nicht gefallen, aber das war mir scheißegal. Wenn jemand Rose verfolgte, schwebte sie vermutlich sowieso schon in Gefahr. Und ich würde mich unter gar keinen Umständen von ihr fernhalten, wenn ich wusste, dass jemand hinter ihr her war.

Sie zögerte, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, wie ich es schon seit ewigen Zeiten nicht mehr bei ihr gesehen hatte. »Gut«, sagte sie und ließ den Block in die Tasche gleiten. »Danke.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Ich muss los.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ließ mich stehen - mutterseelenallein bei meiner eigenen Beerdigung.

Ehrlich gesagt, war das Ganze schon mehr als nur ein bisschen gruselig.

Kopfschüttelnd wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und grübelte darüber nach, wer ihr wohl nachstellen mochte. Clarence? Um sicherzustellen, dass ich mich nicht zu einem Besuch bei ihr davonstahl? Aber das schien nicht sehr logisch - leider. Wenn es Clarence gewesen wäre, hätte ich wenigstens Bescheid gewusst. Und das wäre besser als diese nicht so recht greifbare Angst, dass Rose noch immer in Gefahr war.

»Ein trauriger Tag für die Kleine.«

Ich fuhr herum. Vor mir stand Deacon.

Meine Hand glitt in die Innentasche meines Mantels, wo mein Messer steckte. »Bleib ja weg von ihr.«

Er legte den Kopf auf die Seite. »Sie ist dir wichtig.«

»Ja.« Ich brachte es nicht über mich, das lauthals abzustreiten. Außerdem wusste er es sowieso schon. Mir fiel wieder ein, was Rose gesagt hatte, und auch, wie ich Deacon in der Ferne hatte stehen sehen, als ich mit den Hunden Gassi gegangen war. »Du bist mir gefolgt.«

»Ja«, entgegnete er ohne Umschweife. Lieferte keine Erklärung. Stand einfach nur selbstbewusst und ein klein wenig bedrohlich da. Nun gut - bedrohlich konnte ich auch sein.

»Und das Mädchen? Bist du dem auch gefolgt?«

»Wieso sollte ich das tun?«

»Sag du es mir.«

Er trat noch einen Schritt näher und wieder spürte ich dieses Kribbeln in meinem Bauch. Eine verschlingende, alles umfassende Begierde, die mir den Verstand raubte. Sie gehört mir, hatte er zu dem Mann auf der Tanzfläche gesagt. Und in diesem Moment hatte ich wirklich das Gefühl gehabt, dass das stimmte.

Zögerte ich deshalb so sehr, das Schlimmste von ihm zu glauben? Ich sagte mir, dass das nicht sein konnte: So oberflächlich war ich nicht, dass ich mich von meiner Lust beherrschen ließ. Jedenfalls wollte ich so nicht von mir denken.

Nein, ich zögerte, weil ich fürchtete, dass man Clarence falsche Informationen zugespielt hatte. Bewusst oder aus Dummheit versuchte jemand, Deacon für den Mord an Alice verantwortlich zu machen.

Aber sicher konnte ich mir da natürlich nicht sein.

Und ich wusste, dass Deacon gefährlich war.

Daran zweifelte ich keine Sekunde

»Wieso bist du hier?«, fragte ich und wandte mich vom Grab weg, hin zu dem weit entfernten Parkplatz, auf dem ich mein Motorrad abgestellt hatte.

»Offensichtlich verfolge ich dich«, sagte er leichthin. »Also lautet die eigentliche Frage vermutlich, wieso du hier bist.«

»Ich schulde dir keine Erklärung.«

»Ich brauche auch keine. Es ist eindeutig, Lily, wieso du gekommen bist.«

Er verkniff es sich, die Stimme zu heben oder mich triumphierend anzusehen, aber er hatte einen Treffer gelandet. Ich stolperte, fing mich aber sofort wieder. Es war nur ein kurzer Moment, ein leichtes Danebentreten, aber er hatte es mit Sicherheit bemerkt. Deacon entging vermutlich nur ganz selten etwas.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich in dem Versuch, noch was zu retten.

»Lass die Spielchen!«, erwiderte er barsch. »Tu uns beiden wenigstens diesen einen Gefallen.«

Ich überlegte, welche Möglichkeiten mir blieben. Ihn umzubringen kam nicht infrage. Ich konnte davonlaufen. Oder lügen. Aber letztendlich wusste er ja doch, wer ich war - welcher Körper und welche Seele. Es war sinnlos, mein Geheimnis weiter wahren zu wollen. Und vielleicht konnte ich ihm dafür, dass ich ihm seinen Verdacht bestätigte, ein paar Informationen entlocken.

Wir waren inzwischen bei einem Marmormausoleum angelangt, das im orangefarbenen Licht der untergehenden Sonne glänzte. Ich blieb stehen und sah ihn an. »Wie hast du meinen Namen rausbekommen?«

In seinen Augen flackerte plötzlich etwas Dunkles auf, als hätte er soeben eine herbe Enttäuschung erlebt. »Du gehörst mir, weißt du noch?« Er klang bitter. »Wir haben es beide gesehen. Die Lilien im Blut. Ineinander verschlungen, du und ich.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nette Geschichte, sie stimmt nur nicht. Auf die Art könnte niemand einen Namen in Erfahrung bringen.«

»Vielleicht nicht. Aber da war auch noch die Tätowierung auf deinem Rücken - der Künstler hat mir an jenem Abend bereitwillig davon erzählt, vor allem, nachdem ich ihm einen Fünfziger rübergeschoben hatte. Darf ich sie mal sehen? Seiner Beschreibung nach muss sie echt was Besonderes sein.«

»Leck mich.«

»Nur zu gern.«

Meine Güte, war er charmant! So charmant, dass ich nicht wusste, ob ich ihn flachlegen oder ihm einen Tritt versetzen sollte.

Eines aber wusste ich: Ich hatte keine Angst vor ihm. Und das erschreckte mich direkt ein bisschen. Schließlich war er gefährlich. Und gefährliche Dinge kommen an einen heran, indem sie einen einlullen. Und sich dann anschleichen.

Das wusste ich nur zu gut, und Deacon schlich sich näher und näher heran.

»Eine Tätowierung beweist noch gar nichts«, flüsterte ich und versuchte verzweifelt, nicht die Kontrolle zu verlieren.

Deacon legte die Hand auf meine Taille. Ich zuckte zusammen, schob sie aber nicht weg. In die Augen sah ich ihm allerdings nicht. Ich wollte nicht an das Böse in ihm erinnert werden. Nicht jetzt. Nicht, wenn die Gefahr, die zwischen uns in der Luft lag, bereits genügend Funken stieben ließ, um Boston eine Woche lang hell zu erleuchten.

Er schob sich noch näher an mich heran und ließ die Hand unter meinen Mantel und zu meinem Bücken gleiten. Er drückte dagegen, aber die Tätowierung war bereits verheilt, und statt Schmerz spürte ich nur die Wärme seiner Hand. »Eine weiße Lilie«, sagte er. »Mit Blutstropfen. Und darunter in einer zierlichen Handschrift ein Name: Lily.«

Wir standen jetzt Hüfte an Hüfte, und mein Körper vibrierte vor Erregung. Ich spürte, wie Deacon hart wurde, und obwohl ich wusste, dass es verkehrt war, begehrte ich ihn rasend.

»Der Rest war dann einfach: Ich habe die Sterberegister durchgesehen und bin auf eine junge Frau gestoßen, deren Leiche heute beerdigt wurde.«

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten - ganz schön bescheuert, schließlich war ich nicht richtig tot. Oder vielleicht doch.

»Lily.« Sein Atem an meinem Ohr ließ meinen Körper Funken sprühen, und ich musste mich zwingen, die Hand an meinem Messer zu lassen. Auf gefährliche Spiele konnte ich mich einlassen, aber die Kontrolle durfte ich nicht verlieren.

»Ganz schön weit hergeholt, von einer Tätowierung auf ein Begräbnis zu schließen.« Ich sah hoch, ließ den Blick über seine Augen gleiten und spürte, wie sich langsam eine Vision auftaute. Ich zwang mich wegzusehen, die Verbindung zu unterbrechen. Dorthin wollte ich nicht. Nicht jetzt. Nicht mit ihm.

»Eigentlich nicht«, entgegnete er. Falls er gespürt hatte, wie die Vision kam, ließ er es sich nicht anmerken. »Schließlich wusste ich, dass irgendwas anders war. Du bist nicht die Alice, die ich kannte. Alice hat mein Blut nicht ins Wallen gebracht wie du. Bei Alice hatte ich nie den Wunsch, sie gegen eine Wand zu pressen und tief in sie einzudringen.« Seine Stimme klang vor Begierde ganz rau. Er ließ seine Hand zwischen meine Schenkel gleiten, und ich zitterte, nicht nur unter seiner Berührung, sondern auch wegen dem, was er sagte.

»Und ich wollte sie auch nicht auf ein Bett werfen und jeden Zentimeter ihres Körpers liebkosen, bis sie für mich kommt.«

»Lass das!«, sagte ich, als sein Finger über die Haut oberhalb des Gürtels meiner Jeans strich. »Mach mich gefälligst nicht an. Das läuft nicht.« »Was läuft nicht?« Er nahm meine Hand, führte sie an seine Lippen und saugte an einer Fingerspitze.

»Es wird dir nicht gelingen, mich abzulenken«, behauptete ich trotz aller Gegenbeweise.

»Wirklich? Bis jetzt scheint es ganz gut zu klappen.«

Es war das Selbstvertrauen in seiner Stimme, das mich aus meiner lustbedingten Vernebelung herausriss. Ich entzog mich ihm und spürte die harte Wand des Mausoleums in meinem Rücken. »Auf der Straße erzählt man sich, du hättest Alice umgebracht.« Ich beobachtete ihn. Würde ihn diese Anschuldigung schockieren, oder würde er die Wahrheit akzeptieren?

Sein Gesicht verriet nichts. Er sah mich nur nachdenklich an und trat einen Schritt zurück. »Das kann ich den Leuten nicht verdenken«, entgegnete er. »Schließlich klebt ihr Blut an meinen Händen.«

Panik erfasste mich. »Was soll das heißen? Hast du sie umgebracht?«

»Ob ich ihr das Leben genommen habe?« Die Anschuldigung machte ihn wütend, aber er hielt seine Wut gut im Zaum. »Natürlich nicht. Aber das solltest du doch am besten wissen, oder etwa nicht?«

Verwirrt starrte ich ihn an. »Was willst du damit sagen?«

»Sag du es mir, Lily! Schließlich steckst du in ihrem Körper.«