25
»Was habt ihr mit mir gemacht?«, fragte ich und schubste Zane gegen die Wand mit den Metallschränken in seiner Ausrüstungskammer. Die Messer und Schwerter an der gegenüberliegenden Wand klirrten. »Was zum Teufel habt ihr mit mir gemacht?«
Er sah mir in die Augen, völlig unberührt von meiner Wut. »Du wirkst aufgeregt, ma petite.«
»Verarsch mich nicht! Ich bin gestorben!« Ich bemerkte ein ganz leichtes Flackern in seinen Augen. »Ich bin gestorben«, wiederholte ich. »Und trotzdem bin ich hier. Mal wieder.«
»Ma cherie«, sagte er leise und fast ein wenig zögerlich. »Ich verstehe dich nicht.«
Da mein Messer immer noch irgendwo in der Gasse im Müll lag, schnappte ich mir eins von seinen, rammte die Klinge in das dünne Metall neben seinem Ohr und versenkte es bis zum Griff. »Blödsinn! So ein Blödsinn!«
Noch während ich vor mich hinzeterte, flüsterte mir ein Teil meines Gehirns zu, dass es eigentlich ziemlich gut war, von den Toten wiederauferstehen zu können. Dass es wie jedes neue coole Geschenk, das sich als Teil meines Dämonenmörderinnenauftrags entpuppt hatte, gar nicht mal der schlechteste Trick war, den ich auf Lager hatte. Denn wenn man die Superkillerin nicht umbringen kann, macht sie ihren Job gleich noch viel besser. Stimmt’s?
Stimmt.
Aber die kühle Logik konnte meine Wut und das Gefühl, verraten worden zu sein, nicht beschwichtigen.
Ich wollte nicht plötzlich unsterblich sein, als hätte ich Unsterblichkeit in einem Überraschungsei gefunden, und vor allem wollte ich nicht einfach nur ein verdammtes Werkzeug sein, über das jeder mehr wusste als ich selbst.
Das gefiel mir ganz und gar nicht. Aber vermutlich würde ich damit leben müssen.
»Sag es mir!«, drängte ich, weil ich die Antwort unbedingt wissen musste. »Auf der Stelle!«
»Erklär mir genau, was passiert ist.«
»Nein!«, schnauzte ich ihn an. »Du bist dran mit Erklärungen! Du hast gesagt, wenn ich mit meiner Klinge töte, macht mich das stärker. Mag ja stimmen. Aber das ist bei Weitem nicht alles, nicht wahr? Dieses erotische Kribbeln. Der Blutdurst. Die gottverdammte Unsterblichkeit. Ich nehme irgendwas in mich auf. Nicht wahr? Nicht wahr!« Ich war kurz davor loszuheulen. Ich wusste, dass ich mich beherrschen musste, aber in mir war irgendetwas Dunkles und Bitteres. Etwas, das still vor sich hintobte und mich antrieb.
Dämonen.
Mit jedem Mord sog ich irgendwie ihre Abscheulichkeit auf. Ihre Schwärze. Ihre Wut und ihre Verzweiflung.
Ich sog auf, was sie fühlten, was sie wollten, wonach sie sich verzehrten, egal ob das Schmerz, Zorn oder Blut war.
Und ihre Wut - eine Wut, die ich gerade nur zu gern an Zane ausließ.
»Du lässt mich jetzt sofort los«, befahl er. »Und dann unterhalten wir uns in aller Ruhe. Wenn nicht, wird das übel für dich ausgehen, das verspreche ich dir.«
Ich stieß ein humorloses Lachen aus und ließ ihn los. »Übel für mich ausgehen? Was für eine Untertreibung! Noch dazu, wo es ein Mich kaum mehr gibt. Und das bisschen, was noch da ist, wird von Tag zu Tag weniger.«
Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und stolzierte zum Sparringring. Den Blick hatte ich auf die öligen Flecken gerichtet, Überbleibsel der geschlachteten Dämonen. »Bitte!«, flehte ich leise. »Ich weiß nicht, ob ich das aushalte.«
Ich drehte mich zu ihm um und stellte mit Entsetzen fest, dass mir nicht nur Tränen die Wangen hinabliefen, sondern er auch noch nahe genug bei mir stand, um sie wegzuwischen.
Als er mir mit dem Daumen über die Wange strich, durchfuhr mich ein Schauder, und als er mich in den Arm nahm und mein Haar streichelte, verlor ich endgültig die Fassung. »Ich kann das nicht, Zane! Ich kann nicht für das Gute kämpfen, wenn es mich böse macht. Wenn es mich so … so falsch macht.«
»Ganz ruhig, ma fleur. Wir werden gemeinsam nach einer Lösung suchen, du und ich.«
Ich lehnte mich zurück und betrachtete sein Gesicht. »Du hast es nicht gewusst.«
»Nein. Das schwöre ich dir.«
Ich starrte in sein Gesicht und versuchte, die Wahrheit zu entdecken. Dabei fand ich mehr, als mir lieb war. Ich hatte nicht aufgepasst, und bevor ich es verhindern konnte, war ich drinnen, und dunkle Bilder breiteten sich in meinem Kopf aus, vermischt mit tiefer, verzweifelter Traurigkeit.
Ich riss mich los, voller Panik, dass er merken würde, was ich getan hatte, dass ich in seinem Kopf gewesen war.
Während mein Herz ängstlich pochte, hielt er einfach nur meine Hand. »Cherie«, sagte er. »Das wird schon wieder.«
Ich benetzte meine Lippen. Er hatte es nicht gemerkt. Ich war nur ganz kurz drin gewesen. Falls er etwas gespürt hatte, war ihm wohl nicht klar, was es war. »Und wie?«
Er strich mir über das Haar, und die Traurigkeit, die ich in seinen Augen gesehen hatte, klang jetzt auch in seiner Stimme durch. »Ich weiß es nicht. Manchmal fürchte ich, dass es nie wieder gut wird.«
Ich presste die Lippen aufeinander, überzeugt, dass ich gerade mehr von Zane mitbekommen hatte, als er preisgeben wollte. Ich legte den Kopf an seine Schulter und hätte ihn am liebsten gefragt, was los sei. Ich hätte gern etwas über seine Vergangenheit erfahren und auch über die Dämonen, die ihm Sorgen machten. Stattdessen fragte ich nur: »Und was soll ich jetzt tun?«
Er seufzte. »Du wartest.« Und dann ließ er mich dort stehen, allein mit den dunklen Gedanken, die mich beschäftigten. Ich schauderte, weil ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut fühlte und verzweifelt hinter dem schwarzen Schleier in meinem Kopf nach der wirklichen Lily suchte.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort so stand und in einem Meer aus Angst unterzugehen drohte. Ich kam erst wieder richtig zu mir, als Clarence plötzlich vor mir stand, mit Augen, die wie üblich froschartig hervorquollen, den Filzhut tief in die Stirn gezogen. Mit anderen Worten: Er sah genauso hässlich und nervtötend aus wie immer.
Und ich war überglücklich, ihn zu sehen.
»Es ist die Essenz, Kleine«, sagte er ohne Vorrede. »Von allem, was du tötest, nimmst du ein bisschen von dessen Wesen in dich auf.«
»Danke«, antwortete ich, und meine Stimme troff nur so vor Sarkasmus. »Das habe ich bereits selbst rausgefunden. Würdest du mir erzählen, warum du das erst jetzt erwähnst?«
»Ich konnte dir nichts erzählen, solange ich mir nicht sicher war.«
»Was willst du damit sagen?«
»Du hast eine Prüfung bestanden, Kleine«, erwiderte er, hob die Hände und spreizte die Finger. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Eine Prüfung?« Ich hatte es doch gerade mal geschafft, mich ermorden zu lassen. Die Sache mit der Wiederauferstehung war natürlich schon ein Ding, aber das hatte ich ja nicht gerade mit Absicht gemacht.
»Genau das«, erwiderte er.
»Bleib aus meinem Kopf weg! Und wovon genau redest du?«
»Das ist eines der Zeichen. Jener Zeichen, die beweisen, dass du das Mädchen aus der Prophezeiung bist.«
»Dass ich von den Toten zurückgekommen bin?«
»Dass du das Wesen derjenigen in dich aufsaugst, die du tötest. Du bist zweifelsohne unser Mädchen, Lily.«
Ich betrachtete ihn misstrauisch. »Ich dachte, das wussten wir bereits.«
Er zuckte lässig mit den Schultern. »Na ja. Ganz sicher kann man da eigentlich nie sein. Aber jetzt, würde ich sägen, sind wir es schon.«
Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Dann lass uns doch mal sehen, ob ich voll und ganz im Bilde bin, einverstanden?« Ich wartete gar nicht erst ab, bis er oder Zane zustimmend nickten. »Meine Aufgabe lautet: Dämonen töten.« Ich sprach langsam, als hätte ich es mit etwas zurückgebliebenen Erstklässlern zu tun. »Und Dämonen sind böse. Und wenn ich sie töte, sauge ich dieses Böse in mich ein.«
»Das ist eine ziemlich brauchbare Zusammenfassung.«
»Aber ich dachte, ich würde Gelegenheit bekommen, all das, was ich getan habe, wiedergutzumachen? Eine Chance, dem Bösen im Namen von allem, was für Wärme und Geborgenheit steht, einen Arschtritt zu verpassen. Und jetzt stelle ich fest, dass ich ein Riesenvorratslager für böses Karma bin? Was zum Teufel habt ihr mit mir angestellt?«
»Glaubst du wirklich, du wärest ausgewählt worden, wenn wir nicht sicher wären, dass du damit umgehen kannst?«
»Damit umgehen? Womit umgehen? Mit dem Wissen, dass ich nach meinem Tod in der Hölle schmoren werde? Oh, halt, warte!
Sterben ist ja gerade das geringste meiner Probleme. Ihr habt meine Seele verdorben.«
Clarence trat so nah an mich heran, dass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. »Glaubst du, der da oben hätte dich ausgewählt, wenn du nicht damit umgehen könntest?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.«
»Da draußen gibt es einiges, wovor man Angst haben muss, ma fleur«, mischte Zane sich ein. »Zähl dich ja nicht dazu.«
»Du hast gut reden. Mit jedem Mord werde ich mehr zu dem, was ich bekämpfe. Wie soll ich damit leben?«
»Das ist doch nicht dein wahres Ich.« Clarence nahm seinen Filzhut ab und ließ die Krempe durch die Finger gleiten. »Du musst das trennen, Kleine. Nutz, was du brauchen kannst - die Wut, den Blutdurst und sperr den Best weg.«
»Blut.« Ich starrte ihn an, weil mir erst jetzt klar wurde, welche Bedeutung das Blut des Dämons in der Gasse hatte. »Er hat geblutet.«
Clarence sah mich verwirrt an. »Hä? Was willst du …«
»Er war ein Mensch. Verstehst du nicht? Der Dämon, den ich getötet habe … kurz bevor der andere mich getötet hat. Verdammt, das war ein Mensch! Er war besessen«, fügte ich hinzu, weil ich mich wieder an Clarence’ Einführungslektion über Dämonen erinnerte. Ich blickte von Zane zu Clarence. Mir war leicht übel. »Mein Gott, er war besessen, und ich habe gesehen, wie der Dämon abgehauen ist. Ich habe ihn umgebracht. Umgebracht! Ich bin nicht nur ein lebendes Vakuum für dämonische Substanz, jetzt bin ich auch noch eine Mörderin.«
Eine Doppelmörderin, wenn man Lucas Johnson mitzählte. Und wenn man bedenkt, dass der Mord an ihm diese ganze Sache erst losgetreten hatte, musste ich ihn auf jeden Fall dazurechnen.
Clarence blickte mich gelassen an, und das machte mich wütend. Ich wollte, dass er tobte und schrie. Dass er genauso viel Zorn spürte, wie in mir loderte. »Ja, du hast getötet, das stimmt. Aber betrachte es doch einmal so, Kleine: Du hast etwas Böses getötet. Etwas Niederträchtiges. Und dazu, mein Kind, wurdest du schließlich geboren.«
»Niederträchtig? Er war besessen. Aus ihm kam eine große Dämonenwolke.«
»Nicht immer ist jemand gewaltsam besessen. Die meisten wollen es so. Genießen die Macht, die ihnen das gibt.«
Ich dachte an die Augen des Menschen und wusste, dass er den Dämon nicht freiwillig aufgenommen hatte. »Dieser nicht.«
Clarence seufzte. »Was willst du hören, Kleine? Dass du Scheiße gebaut hast? Hast du nicht. Ob der Mensch es gewollt hat oder nicht - Tatsache ist, er war besessen. Und dabei wäre es vermutlich geblieben, bis der Dämon weitergezogen wäre. Das hätte nicht lange gedauert. Menschen sind zerbrechlich, und dieser Mensch war ein Werkzeug - und du hast dieses Werkzeug zerstört.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich verstand, was er sagte, aber es ging mir trotzdem gegen den Strich. Ich wollte die Unschuldigen beschützen, nicht sie abschlachten, wenn die Gefahr zu groß wurde. »In jedem Krieg gibt es Tote. Du hast genau das getan, wozu du geschaffen wurdest.«
»Ich dachte, ich wurde dazu geschaffen, den Dämonenpriester daran zu hindern, die Neunte Pforte zu öffnen. Ich dachte, ich sollte nicht einfach rumlaufen und ohne deinen Befehl Dämonen um die Ecke bringen«, erwiderte ich unwirsch.
»Jammer nicht rum, Kleine, und stell dich nicht dumm! Du bist nun mal, was du bist: eine Waffe gegen das Böse. Sie wissen es. Sie wissen, dass du sie jagen wirst. Das Böse wird sich wehren. Und wenn es das tut, verteidigst du dich. Merk dir das, sonst sind wir nämlich wirklich verloren.«
Ich holte tief Luft. Langsam wich mein Ärger - Clarence hatte ja recht. »Mist.« Plötzlich fühlte ich mich so erschöpft, dass ich auf die Knie sank. All diese Gefühle und der Horror drückten mich nach unten. »Er wollte mich töten. Alle wollten sie mich töten. Dämonen und Menschen. Das war kein Überfall auf ein x-beliebiges Mädchen in einer dunklen Gasse. Die hatten es auf mich abgesehen.«
Ich ließ den Blick von Clarence zu Zane wandern, weil ich sie beide brauchte. »Woher wussten sie, wo ich war?« Ich schüttelte den Kopf, als mir die schemenhafte Gestalt vor dem Pub wieder einfiel. Und Deacon im Restaurant. Ich schlang die Arme um mich und ließ in meinem Kopf Kinderlieder erklingen. Hoffentlich hatte Clarence noch keinen Blick in mein Gehirn geworfen.
»Jemand hat dich verraten. Kleine«, sagte er gerade. »Lass uns überlegen, wer das sein könnte. Wer weiß, dass du hier bist? Wer weiß, wer und was du bist?«
»Der Grykon wusste es, aber der ist tot.«
»Ich glaube, wir haben die Tatsache bereits erwähnt, dass es dir nicht gelungen ist, den Grykon im Zeremonienzimmer zu töten«, rief Zane mir in Erinnerung.
»Ach herrje!« Was für ein Fehler das gewesen war, wurde mir erst jetzt klar. »Der hatte inzwischen genügend Zeit, mit seinen kleinen dämonischen Freunden ein Bier trinken zu gehen und die Nachricht zu verbreiten.«
»Das ist richtig«, nickte Clarence. »Aber wir haben noch einen weiteren Verdächtigen. Dich hat auch noch jemand anderer in Aktion erlebt.« Er durchbohrte mich mit einem wissenden Blick.
»Deacon Camphire«, brachte ich widerwillig über die Lippen. »Aber er weiß nicht, was ich bin.« Doch noch während ich sprach , war ich mir da gar nicht mehr so sicher. Was, wenn er die ganze Zeit nur mit mir gespielt hatte?
Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich dazu fähig bin. Immer wachsam sein. Jeder Schatten eine Bedrohung. So gerissen bin ich nicht. Ich bin nicht das Mädchen, für das ihr mich haltet.«
»Glaub mir«, entgegnete Clarence. »Das bist du.«
»Ich habe getötet. Genau so, wie ihr es mir gesagt habt.« Wieder fiel mir der durchdringende Geruch des Menschenbluts ein. »Aber ich bin diejenige, die damit leben muss - mit dem, was ich getan habe und wozu ich mich entwickle. Ich weiß nicht recht, wie ich das schaffen soll.«
Zane trat auf mich zu und ging in die Hocke. »Du lebst damit, weil dir nichts anderes übrig bleibt. Du kannst nachts schlafen, weil du weißt, dass du für das Gute kämpfst. Dass es wegen dir weniger Böses in der Welt gibt.«
»Und wenn ich selbst das Böse werde?«
»Geh nicht so mit dir um, cherie. Das Böse ist ein Virus. Du hast eine Krankheit ausgerottet, die die Welt befallen hat.«
»Ausgerottet?«, fragte ich bitter. »Sie ist nicht ausgerottet. Sie ist in mir.« Ich holte tief Luft und versuchte, die schreckliche Angst zurückzudrängen, die in mir aufstieg. »Was ist, wenn ich sie nicht unter Kontrolle halten kann?«
»Du schaffst das«, entgegnete er. »Weil du, ma petitefleur, gar keine andere Wahl hast.«
Keine andere Wahl…
Seine Worte hallten in mir nach, legten sich wie ein Umhang über meine Schultern. Wortlos ging ich auf den Fahrstuhl zu, blieb nicht stehen, sah mich nicht um, obwohl beide meinen Namen riefen.
Als Erstes ging ich zum Restaurant, zu der Gasse, in der ich zum zweiten Mal gestorben war. Sie lag still da. Sicher. Die Flecken auf dem Betonboden waren der einzige Beweis, dass sich hier eine Gewalttat abgespielt hatte. Die Flecken und der schwache Geruch nach Blut. Gerade genug, um mich zu erregen. Um dieses Grammeln in meinem Bauch auszulösen.
Ich leckte mir die Lippen und rollte die Schultern, wild entschlossen, diesem verdammten Instinkt nicht nachzugeben. Stattdessen tat ich, weshalb ich gekommen war: Ich ging auf die Knie und tastete im Dreck um die Tür herum nach meinem Messer, bis ich es gefunden hatte. Als ich es in die Scheide steckte, fühlte ich mich gleich viel besser. Trotz seines geringen Gewichts erdete es mich irgendwie.
Ich bin mir nicht sicher, wo ich danach überall rumlief oder wie lange, aber meine Schritte verschlangen die Straßen, während allmählich die Nacht hereinbrach. Die Straßen leerten sich, Arbeiter gingen nach Hause zu ihren Familien, und schließlich waren nur noch vereinzelt Autos unterwegs. Auf den Straßen waren nur noch die Leute anzutreffen, die hier lebten.
Als ich mich schließlich umsah, um mich zurechtzufinden, stellte ich fest, dass ich die ganze Nacht vor mich hingelaufen war. Die Sonne war zwar noch nicht aufgegangen, aber aus einem nahe gelegenen Bahnhof quollen bereits die Pendler. Ich zögerte, dann fasste ich einen Entschluss, kaufte mir eine Fahrkarte und bestieg den Zug. Das Rumpeln der Wagen hypnotisierte mich, mein Kopf wurde so leer wie das Abteil. Erst als wir in den Bahnhof einfuhren, kam ich wieder zu mir. Ich schob mich durch die lebende Mauer, die sich in die Wagen drängelte, und stolperte zum Ausgang. Ich wusste nicht so recht, wieso ich hierhergekommen war.
Nein. Das war eine Lüge. Ich war wegen Bose hergekommen. Oder, um genauer zu sein, meinetwegen.
Ich wartete an der Highschool auf sie, stand etwas abseits von der Haltestelle, als der 28er-Bus vorfuhr. Ich dachte an Clarence’ Warnung, dass ich sie vielleicht in Gefahr bringen würde. Aber ich würde sie nicht ansprechen. Ich würde einfach nur dastehen und schauen und vielleicht, ganz vielleicht, wieder ein Gefühl für mich bekommen.
Als ich sie wie eine Schlafwandlerin aus dem gelben Monster steigen sah, musste ich schlucken. Unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, und sie wirkte noch gequälter als gestern, als sie an die Tür gekommen war. Die Mädchen, mit denen sie sonst zusammen gewesen war - die, die behauptet hatten, ihre Freundinnen zu sein -, liefen an ihr vorbei, als gäbe es sie überhaupt nicht.
In gewisser Weise hatten sie recht. In dieser Hülle steckte nicht mehr meine Schwester. Ihren Körper hatte Johnson am Leben gelassen, aber tot war sie trotzdem.
Genau wie ihre große Schwester.
Ich wollte ihr helfen, aber ich wusste nicht, wie. Nicht, wenn sie in Gefahr geriet, sobald ich mich in ihr Leben schlich. Und das Wissen, dass ich nur hilflos zuschauen konnte, machte mich traurig und gab mir ein Gefühl von Unfähigkeit.
Während ich dort stand, ging sie auf die Tür zu, blieb dann aber stehen, als könne sie meinen Blick spüren. Sie drehte sich in meine Richtung, und an ihrem Stimrunzeln sah ich, dass sie mich erkannt hatte. Mein Herz setzte einen Moment lang aus, bis mir wieder einfiel, dass die Frau, die sie da erkannte, Alice war, die aufdringlich vor ihrer Haustür gestanden hatte. Lily war für immer aus Rose’ Leben verschwunden.
Ich riss mich zusammen, bis sie die Tür geöffnet hatte und im Inneren der Schule verschwunden war, dann ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Heiß rannen sie meine Wangen hinab, und die Schluchzer ließen meinen ganzen Körper beben.
Ein paar Nachzügler vom Bus warfen mir neugierige Blicke zu, allerdings war ich nicht geneigt, mich beglotzen zu lassen wie ein Käfer im Glas. Jedenfalls nicht jetzt, während mein Herz in tausend kleine Teile zersprang. Rose war nur noch eine leere Hülle.
Genau wie Lily Carlyle.
Zutiefst deprimiert lief ich ziellos vor mich hin, ohne darauf zu achten, wohin mich meine Füße trugen.
Sechs Blocks von meinem alten Zuhause, in der Nähe der kleinen katholischen Kirche, in die wir Heiligabend immer gegangen waren, machten sie Halt. Meine Mutter hatte uns nie zu einer bestimmten Glaubensrichtung gedrängt, aber ich hatte immer an Gott geglaubt. Ich hatte Vertrauen in die Welt gehabt, war überzeugt gewesen, das Gute würde das Böse besiegen, und hatte in der Sicherheit gelebt, dass Gott über uns wachte.
Diesen Glauben hatte ich verloren, als meine Mutter starb. Und jetzt wurde mir bewusst, was für eine Leere das in mir zurückgelassen hatte.
Als ich jetzt gegenüber dieser kleinen Kirche stand, musste ich an meine Mutter denken und daran, wie sie an Weihnachten immer mit uns hierhergekommen war. Joe war nie mitgegangen, aber davon hatte Mom sich nicht abhalten lassen. Wir waren immer auf der Empore gesessen, und ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie unendlich ich mich gelangweilt hatte, bis die Messe endlich begann. Doch wenn dann der Chor zu singen anfing, fühlte sich das an, als würden die Stimmen mich gen Himmel tragen.
Genau dieses Gefühl brauchte ich jetzt. Dieses Funkeln, wenn ein Mensch sich nach dem Göttlichen streckt. Bis jetzt waren die Himmelsgeschöpfe, die ich kennengelernt hatte, alle ganz schön weltlich gewesen. Sie hatten einen dermaßen ausgeprägten Sinn fürs Praktische, wie ich das niemals erwartet hätte, den ich aber zugegebenermaßen gut nachvollziehen konnte. Nachdem ich Rose’ Augen gesehen hatte, wurde mir die einfache Natur meiner Mission klarer als je zuvor: Rotte das Böse aus. In all seinen Erscheinungsformen, in all seinen Abstufungen. Mach es fertig, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, egal, wessen Seele dabei unter die Räder gerät.
Merz das Böse aus und mach den Weg frei, damit das Gute stolz und siegreich seinen Platz einnehmen kann.
Ohne groß darüber nachzudenken, überquerte ich die Straße und ging auf die weiße Steinkirche zu. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah zur Turmspitze hoch, die wie ein Pfeil den Weg gen Himmel wies. Bevor mir klar wurde, was ich tat, hatte ich bereits die Hand auf den massiven Messinggriff der Tür gelegt. Ich zog sie auf und sog tief den Geruch nach Öl und Wachs ein, in den sich ein Hauch von Gewürz mischte.
Ich trat ein und fand mich in einem Eingangsraum mit einer weiteren Tür wieder. Nach kurzem Zögern öffnete ich auch diese und stand im Kirchenschiff.
Ein paar Menschen beteten kniend, ihren Rosenkranz fest in der Hand. Niemand drehte sich um, um zu fragen, was ich wollte, also blieb ich einfach einen Moment lang stehen, schlang die Arme um meinen Körper und versuchte, mir darüber klar zu werden, was ich brauchte und wie ich es hier finden konnte.
An einer Wand stand ein Altar, davor flackerten Dutzende von weißen Kerzen. Fasziniert ging ich hinüber, ließ die Hand über die Flammen gleiten und genoss die Hitze, die durch meine Handfläche drang und sich im ganzen Körper ausbreitete.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich machte einen Satz, und als ich mich umdrehte, fand ich mich einem jungen Mann in Talar gegenüber.
»Würden Sie gern eine Kerze anzünden?«
Ich zog die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt, dann schüttelte ich den Kopf, und ein unerklärliches Schuldgefühl machte sich in mir breit.
»Ich sollte gar nicht hier sein. Ich hätte nicht kommen sollen.«
»Sie sind hier herzlich willkommen.«
»Nein. Ich meine, ich weiß. Ich …« Ich konnte die Worte einfach nicht aussprechen, weil sie von einer Erscheinung blockiert wurden: Ich war zu meinem Job geworden - eine Mörderin. Ein Werkzeug. Aber das war kein Job, den Lily erledigen konnte, und wenn ich an ihr festhielt, würde das meinen Tod bedeuten. Genau wie Clarence gesagt hatte: Ich musste sie loslassen. Schließlich war sie sowieso schon tot. Ich musste die alte Lily loslassen und die Frau finden, die sich dahinter verbarg. Eine Kämpferin. Eine Mörderin. Eine Frau, die dem Bösen die Stirn bieten und nicht mit der Wimper zucken würde. Die einstecken und mit allem fertigwerden konnte, die alles tief in ihrem Inneren begrub.
Eine Frau, die verstand, dass man für den endgültigen Sieg Opfer bringen musste.
Die Eine, hatte Clarence gesagt. Irgendwo in mir verbarg sie sich.
Und jetzt war es an der Zeit, dass ich sie zum Leben erweckte. Dass ich die letzten Überbleibsel von Lily opferte und die Mörderin in mir willkommen hieß. Sie willkommen hieß, sie benutzte und das Ganze hinter mich brachte.
Vernichte die Dämonen, versiegle die Pforte der Hölle, beschütze die Unschuldigen.
Wenn ich das tat, war Rose endlich in Sicherheit.
Wenn ich das tat, würde ich mein Versprechen endlich einlösen.