3

 

Der Name meines Körpers lautete Alice Elaine Purdue. Wie passend, dachte ich. Denn ich war definitiv im Wunderland gelandet.

Dieses interessante Bröckchen Information hatte ich auf die altmodische Weise herausbekommen. Ich hatte herumgeschnüffelt und das Medizinschränkchen durchwühlt, bis ich etwas fand, auf das der Name meines Körpers aufgedruckt war. Keine schlechte Idee, wie sich herausstellte, denn Alice war nicht nur stolze Besitzerin der Anti-Baby-Pille, sondern auch einer verschreibungspflichtigen Creme gegen Fußpilz.

Ich verzog das Gesicht. Aus dem strammen Zustand von Alice’ Arsch und dem Pilzbesatz an ihren Füßen schloss ich, dass wir regelmäßig ein Fitnessstudio besuchten, wo wir dann auch die öffentlichen Duschen benutzten, und zwar ohne Gummilatschen.

Finster schaute ich zu den Zehen runter, die Gott sei Dank nicht juckten. Dann hielt ich die Zeit für gekommen, das Bad zu verlassen. Praktischerweise führte die Tür in ein Schlafzimmer, das nur von einer Nachttischlampe erhellt wurde. Der Baum war spärlich eingerichtet, wirkte aber bewohnt. Neben dem Bett lagen achtlos hingeworfen zwei Taschenbücher auf dem Boden, beides Bomane von Jane Austen. In der Nähe des Spiegels über der Anrichte klebte ein Haken, an dem verschiedene pastellfarbene Halsketten hingen. Eine zusammengeknüllte rosafarbene Lederjacke hing halb aus dem Schrank.

Neben der Nachttischlampe stand ein kleines Foto in einem billigen, einfachen Rahmen: eine riesige schwarze Katze, die sich auf der Rückenlehne eines Sofas räkelte, zwei junge Frauen, die sich von hinten an sie ankuschelten. Ich erkannte das Gesicht, das zu Alice gehörte. Beziehungsweise zu mir. Die andere wirkte älter, sah uns aber sehr ähnlich. Vermutlich eine Schwester. Ernster Blick, braune Augen mit langen Wimpern, hohe Wagenknochen. Die dichten schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Fest zusammengepresste Lippen, die wild entschlossen schienen, nicht zu lächeln, während Alice mit einem Ausdruck der Belustigung für die Ewigkeit festgehalten wurde.

Wer war diese ernste Frau? Ich starrte ihr in die Augen, dachte an Rose und suchte nach Antworten. Die fand ich erst, als ich praktisch an das Ganze heranging und das Foto aus dem Rahmen zog. Auf der Rückseite stand in schöner Handschrift, die vermutlich von einem Elternteil stammte: Alice und Rachel kuscheln mit Asphalt. Kein Jahr. Kein hilfreicher Hinweis wie etwa »Schwester« oder »Cousine«. Tränen schössen mir in die Augen. Irgendwo da draußen lebten Alice’ Verwandte, die keine Ahnung hatten, was mit ihr geschehen war.

Genau wie mein Stiefvater. Wie Rose.

Aufgewühlt warf ich das Bild auf das Bett, stand auf und ging zum Fenster. Ich zog die Rollläden hoch und schaute auf eine lange Reihe grauer Gebäude auf der anderen Straßenseite. Rissige Betonstufen führten zu Eingangstüren mit seitlich angebrachten Briefkästen. Die graue Farbe blätterte in der grellen Herbstsonne ab.

Sonne. Offenbar hatte Alice im Schlafzimmer dunkel getönte Fensterscheiben. Was ich für frühe Dämmerung gehalten hatte, entpuppte sich als Spätnachmittag.

Ich legte den Kopf an das kühle Glas und konzentrierte mich auf die grauen Fassaden gegenüber. Etwas Stabiles, Dauerhaftes, Wirkliches. Etwas, auf das ich meine aufgewühlten Gefühle stützenkonnte. Leider half nicht einmal dieser Anblick. Diese Straße, diese Häuser waren mir unbekannt. Eine Welle der Panik durchflutete mich. Ich kämpfte sie sofort nieder, hasste meine Feigheit. Nach allem, was ich durchgestanden hatte, sollte ich mich von so etwas kleinkriegen lassen? Von einer bescheuerten Adresse?

Nein. Komm wieder runter! Ich holte tief Atem, versuchte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Auf der Anti-Pilz- Creme war der Aufkleber einer Apotheke, die Adresse lag in Boarhurst. Das waren nicht die Fiats, das Viertel, in dem ich wohnte, aber Boarhurst kannte ich. Früher ein eigenständiger kleiner Ort, war es von Boston eingemeindet worden. Nun bemühte es sich, seine Identität im Vergleich zu den vielen anderen Vierteln zu wahren. Meine zahlreichen unternehmerischen Aktivitäten hatten mich einige Male per Zug nach Boarhurst geführt. Ich kannte die Gegend nicht gerade wie meine Westentasche, aber doch gut genug, um mich einigermaßen zurechtzufinden.

Ich ließ die Jalousien runterrauschen, und das Zimmer hüllte sich wieder in Dunkelheit.

Da ich jetzt zumindest wusste, wo ich war, hatte ich mich ein wenig beruhigt und versuchte nun, den Rest der Teilchen zusammenzusetzen. Ich war gestorben. So viel war klar. Und ich war zurückgekommen. Auch das war offensichtlich.

Was ich nicht verstand, war: Warum?

»Weil du es bist«, sagte eine Stimme. »Du bist die Frau, die die Dämonen davon abhalten kann, die Pforte zu öffnen. Die dafür sorgen kann, dass sie geschlossen bleibt.«

Ich wirbelte herum, das Herz schlug mir bis zum Hals. Vor mir stand der geheimnisvolle Froschmann, ein Bier in der Hand, den Filzhut tief ins Gesicht gezogen.

»Raus hier, verdammt noch mal!«, schrie ich und drückte mich mit dem Rücken an die Wand. Meine Angst war so groß, dass ich dachte, sie würde mir aus den Fingerkuppen spritzen.

»Na, na, na!« Er hob die Arme als Zeichen des Friedens. »Ich weiß ja, dass du dich fürchtest, aber jetzt übertreib mal nicht. Ich habe mir den Rücken verrenkt, als ich dich von der Limousine hier ins Apartment geschleppt habe. Und dann musste ich Stunden über Stunden die Langeweile ertragen, während du ohnmächtig im Bad gelegen hast. Jetzt, wo du endlich wieder unter den Lebenden weilst, da werde ich wohl kaum abhauen.« Er trat auf mich zu. Ich spannte alle Muskeln an und war bereit anzugreifen oder abzuhauen, falls eins von beiden notwendig werden sollte. »Also bitte, Kindchen! Das kränkt mich jetzt. Ich bin doch nicht hier, um dir wehzutun. Ich bin hier, um dir zu helfen.«

»Du kannst mich mal.« Ich schleuderte ihm meinen bösesten Blick entgegen. Die Wirkung wurde allerdings durch den Hello-Kitty-Pyjama leicht beeinträchtigt. »Und jetzt mach dich vom Acker, bevor ich das ganze Viertel zusammenbrülle!«

Der Froschmann grinste bloß. »Sag Clarence zu mir, in Ordnung? Dieser Froschname ist nicht unbedingt schmeichelhaft.«

»Scheiße! Raus aus meinem Kopf!« Er hatte diese Nummer bereits auf der Straße abgezogen, und schon da hatte sie mir nicht gefallen. »Ich will Antworten! Sofort! Sag mir, wer du bist.«

»Man könnte sagen, ich arbeite in der Personalabteilung. Ich bin hier, um dich am ersten Tag deiner neuen Arbeit zu begleiten.« Er zog die Stirn kraus. »Jeden Tag, genauer gesagt, aber immer schön eins nach dem anderen.«

»Arbeit? Was für eine Arbeit? Wovon redest du eigentlich?«

»Das fällt dir schon wieder ein.«

»Tu mir den Gefallen und sag es mir einfach.«

»Es ist eine einmalige Chance, Kleine! Eine Gelegenheit zur Buße. Die Chance, etwas wirklich Gutes zu tun. Aus der Welt einen besseren Ort zu machen, als sie es verdient hätte. Ein Paradies statt einer Jauchegrube.«

Ich schauderte. Plötzlich befürchtete ich, ich hätte ihn tatsächlich richtig verstanden. Mein Verstand weigerte sich zu folgen, ganz egal, wie sehr der Froschmann drängte.

»Clarence!«, sagte er. Ich bekam das kalte Grausen, weil er schon wieder in meinem Kopf herumturnte. »Und ja: eine Schlacht von biblischem Ausmaß. Der entscheidende Kampf zwischen Gut und Böse. Ein Krieg, der seit Jahrtausenden tobt, bis auf den heutigen Tag. Genau die Art Geschichte, bei der Fernsehproduzenten von Realityshows aus dem Sabbern gar nicht mehr rauskommen würden, wenn sie eine Kamera draufhalten könnten. Aber jetzt geht es dem Ende entgegen. Die Dinge spitzen sich zu. Böse Dinge, apokalyptische Dinge. Und da, Lily, kommst du ins Spiel.«

»Ich?« Meine Stimme schraubte sich aus Angst und Ungläubigkeit in die Höhe. »Spinnst du?! Was hat denn die Apokalypse mit mir zu tun? Und was soll das heißen, ich könnte die Pforte geschlossen halten? Was für eine Pforte?«

Er fuhr mit den Armen durch die Luft, als wolle er einen Filmtitel aus Neonlichtern präsentieren. »Die. Pforte. Zur. Hölle. Na? Na? Da fangen doch die Lebensgeister gleich an zu sprudeln, was?«

Ich blinzelte. »Pforte zur Hölle? Pforte zur Hölle?«

»Ganz genau, Kleine. Die Neunte Pforte öffnet sich, und die Unterwelt strömt herein. Und ich rede hier nicht von einem Rinnsal wie bei früheren Jahrtausendwenden, sondern von einer ausgewachsenen Sturmflut. Auf der anderen Seite sammelt sich eine ganze Armee. Sie macht sich bereit durchzustoßen, sobald die Dimensionen ausgerichtet sind.«

Mir drehte sich der Kopf. »Dimensionen? Wovon redest du überhaupt?«

»Glaubst du etwa, Dämonen können die Seiten wechseln, wann sie wollen? Das können sie nicht! Das gäbe ein schönes Chaos. Nein, Dämonen kommen nur auf unsere Welt, wenn ein Durchgang offen ist.«

Ich traute mich kaum zu fragen. »Und wie öffnen sich diese Durchgänge?«

»Es gibt da ein paar Zauberer auf dieser Welt, die die finsteren Tricks kennen, aber selbst sie können die Pforte nicht lange offen halten. Auf diese Art kommt immer nur ein Dämon durch, höchstens zwei. Aber wenn es eine natürliche Konvergenz gibt, und auf eine solche steuern wir gegenwärtig zu …«

»Moment, nicht so schnell! Ich habe keine Ahnung, um was es geht.«

»Um den nächsten Vollmond, Schätzchen. Eine vollständige interdimensionale Konvergenz ist im Anmarsch. Weißt du, was das bedeutet?«

»Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: das Ende der Welt .« Ich würde ja gern behaupten, dass ich kein Wort von dem ganzen Humbug glaubte. Aber ich war erst vor Kurzem in einem fremden Körper erwacht; ich war also auf bizarre Dinge geeicht.

»Meine Einser-Schülerin! Und du kannst mir wirklich glauben, es gibt sehr viel mehr als nur vier apokalyptische Reiter. Glaubst du, das wäre ein hübscher Anblick? Dann glaubst du vielleicht auch, dass die Welt, wie wir sie kennen, das überleben würde?«

»Warte mal kurz«, unterbrach ich ihn. Auch wenn meine Toleranz abgefahrenen Dingen gegenüber gewachsen war, übertrat dies doch eindeutig die Grenze zum ganz großen Scheiß. »Noch mal von vom. Was ist los?«

»Eine Gruppe Dämonen ist drauf und dran, die letzte der neun Pforten zur Hölle zu öffnen«, erklärte Clarence langsam und deutlich. »Im Lauf der letzten Jahrtausende war es gelungen, die anderen acht Pforten endgültig zu versiegeln. Diese jedoch …« Er schüttelte den Kopf. »Tja, vielleicht gelingt es ihnen, die letzte zu öffnen.«

»Aber … aber …« Ich hinkte immer noch sieben Schritte hinterher. »Selbst wenn alles, was du sagst, stimmt, was hat das mit mir zu tun?«

»Die Prophezeiung!. Da kommst du ins Spiel. Du musst sie beschützen, Lily. Du musst die Dämonen aufhalten und die Pforte endgültig verschließen.«

»Bist du verrückt?«, fragte ich und dachte bei mir, dass er das höchstwahrscheinlich tatsächlich war. »Ich bin kein … Ich meine, wie? Wie soll ich so etwas schaffen?«

Er hob die Bierflasche und musterte mich kritisch. »Du weißt es wirklich nicht, was? Kannst du dich nur an so wenig erinnern?«

»Verdammt, Clarence, rück einfach raus damit!«

»Du bist eine Mörderin, Lily. Und wenn die Prophezeiung recht behält, eine sehr wichtige dazu. Du wirst die Dämonen töten. Du wirst die Zeremonie beenden.«

»Eine Mörderin«, wiederholte ich völlig entgeistert. »Das ist doch verrückt!«

»Wirklich? Du hast doch schon einmal zu einer Pistole gegriffen, um einen Mann zur Strecke zu bringen. Jetzt benutzt du eben ein Schwert.«

»Nein. Nein!« Eine Mörderin? Das sollte mich wundern. »Dieses Jagen und Töten habe ich ein einziges Mal gemacht. Ein einziges Mal!«, wiederholte ich mit allem Nachdruck. »Und dafür hatte ich einen guten Grund. Der Dreckskerl hat meine Schwester zerstört. Vierzehn Jahre ist sie erst alt! Eine Woche war sie im Krankenhaus, das Gesicht so geschwollen, dass ich sie beinahe nicht erkannt hätte, ihre Vagina so zugerichtet, dass man sie nähen musste. Sie ist erst vierzehn!«

Durch den roten Schleier meiner Erinnerungen konnte ich ihn nur mehr undeutlich sehen. »Danach hat er ihr Postkarten geschickt. Sie angerufen. Ihr aufgelauert.« Ein Bild tauchte vor meinem geistigen Auge auf: Rose sinkt vor Entsetzen auf die Knie, ich stehe dabei und verspreche ihr, dafür zu sorgen, dass alles gut wird, während mich der Zorn und das heftige Verlangen, Johnson in Stücke zu reißen, von innen heraus verbrennt.

»Als du losgezogen bist, um ihn zu töten, war er nicht hinter ihr her«, sagte Clarence, seine Stimme so ausdruckslos wie sein Blick.

Ich hob den Kopf. Nie - niemals - würde ich deswegen ein schlechtes Gewissen bekommen. »Er hat sie zugrunde gerichtet! Er hat sie zerstört, und sie haben ihn wieder auf die Menschheit losgelassen.« Ich begann zu zittern, holte tief Luft und blickte Clarence an. »Ich hatte es auf ihn abgesehen, nur auf ihn, und ich hatte verdammt gute Gründe dafür. Aber ich bin keine Killerin. Das bin ich nicht. Ich bin nicht so. Ich tue so etwas nicht.«

»Sieh es nicht als Mord. Sieh es als Bettung der Welt.«

»Aber …«

»Lily«, unterbrach er mich scharf, »was wolltest du werden, wenn du mal groß bist? Bevor dein Leben auf die schiefe Bahn geraten ist, meine ich.«

Ich presste die Zähne aufeinander und sagte kein Wort. Auf Psychospielchen hatte ich echt keinen Bock. Ich musste nachdenken. Ich musste mir überlegen, wie ich weiter vorgehen sollte, da ich nun in einem fremden Körper in Boarhurst festsaß, während meine Schwester schutzlos und allein in den Fiats steckte.

»Nun sag schon!«, hakte Clarence nach. »Davor. Was wolltest du werden?«

»Ärztin. Ich wollte Ärztin werden.« Diesen Traum hatte ich zusammen mit meiner Mutter beerdigt. Als mein Stiefvater in völliger Nutzlosigkeit versank und ich diejenige war, die für das Essen auf dem Tisch sorgen musste - im reifen Alter von vierzehn. Ich liebe meinen Stiefvater - oder zumindest weiß ich, dass meine Mutter ihn geliebt hat. Aber manchmal hasse ich ihn für seine Schwäche. Dafür, dass er mich nicht so beschützt hat, wie ich Bose zu schützen versucht habe.

»Ein ziemlich aufopferungsvoller Beruf, die Medizin. Immer erst an andere denken. Dafür sorgen, dass es anderen Leuten gut geht.«

»Stimmt«, gab ich ihm recht. »Und für den Fall, dass du es noch nicht gemerkt hast: Ich bin keine Ärztin geworden.« Mehr als ein paar Kurse als Rettungssanitäterin hatte ich nicht geschafft - und auch die nur, wenn ich einen Job hatte, bei dem mein Schichtdienst und der Stundenplan der Volkshochschule zusammenpassten. Und wenn ich genug Geld zusammenschnorren oder klauen konnte, das nicht komplett für Essen und Hypothek draufging oder dafür, dass ich ausnahmsweise mal über die Stränge schlug. Meistens brachte ich Terminplan und Geld nicht in Einklang.

Ich habe niemandem davon erzählt, nicht einmal Rose. Wenn ich keinen Abschluss machte, wollte ich zumindest nicht als noch größere Versagerin dastehen, als ich ohnehin schon war.

Und der Verwesungsgestank geplatzter Träume hing ganz bestimmt an mir. Mein Scheitern war gepflastert mit Klischees: mit miesen Jobs, dem Verkauf von ein paar Tütchen Hasch oder Ecstasy nebenher, hier und da einer geklauten Brieftasche, wenn ich glaubte, der Besitzer könne den Verlust des Geldes verschmerzen, mit raubkopierten DVDs, die ich unter der Hand verscherbelte, und sonst noch allerhand Scheiß. Und ja, ich habe sogar mit einigen Typen geschlafen, die ich nicht ausstehen konnte, weil ich dachte, ich könnte sie dazu bringen, eine Leihgabe in ein Geschenk umzuwandeln.

Ich bin darauf nicht stolz, aber ich habe getan, was ich tun musste. Und ich habe dafür gesorgt, dass wir immer ein Dach über dem Kopf hatten - selbst als Joe nichts mehr tat, als die Wände anzustarren und sich am Arsch zu kratzen.

Trotzig starrte ich Clarence durch den Nebel zerbrochener Träume an. »Ich bin keine Ärztin. Nicht mal annähernd.«

»So, so. Du hast vielleicht keinen Äskulapstab am Ärmel, aber du bist losgezogen, um Rose zu schützen.« Er beugte sich vor, der Blick so verständnisvoll, dass ich am liebsten geweint hätte. »Du hast getan, was du tun musstest, damit sie es nicht mitbekam. Du hast es getan, obwohl du wusstest, dass es letztlich nicht richtig war.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und erinnerte mich an das Gefühl, als ich mit der Pistole in der Hand zu der Souterrainwohnung unterwegs war, die Johnson gemietet hatte. Ich hatte gewusst, dass ich sterben würde. Versteht mich nicht falsch: Natürlich hatte ich gehofft, dass es nicht so weit kommen würde, aber die Chancen dafür standen nicht so toll. Und es war mir egal. Ich war bereit, in diese Schwärze, das Nichts, einzutauchen, die mich als Kind so geängstigt hatte. Ich war dazu bereit - solange ich ihn mitnehmen konnte.

Mit anderen Worten: Ich hatte die feste Absicht gehabt zu töten.

»Na also.«

Aber das hieß nicht, dass mir irgendetwas klarer wurde. Ich verstand immer noch nicht, warum ich hier war. Warum ich eine zweite Chance bekommen hatte. Ich kapierte es einfach nicht. Beim besten Willen nicht.

Clarence seufzte. »Komm schon, Lily! Du bist bestimmt nicht hier, weil du eine Heilige bist. Eine Heilige bräuchte nämlich keine Erlösung. Nein, Mädchen, den zweiten Versuch hast du deinen Absichten zu verdanken. Was du für deine Schwester getan hast. Einfach so loszuziehen und dich einem solchen Ungeheuer zu stellen - das war schon ein verdammt großes Opfer, zu dem du bereit warst.«

Ich schaute ihn an und begriff allmählich.

»Das ist nichts anderes als damals, als du Medizin studieren wolltest - nichts anderes, als du losgezogen bist, um Rose zu beschützen. Nur beschützt du diesmal die ganze Welt. Also, hier ist mein Angebot, Kindchen: Du rettest uns vor den Dämonen, vor dem Feind. Vor den Geißeln der Erde, die alles Gute auslöschen, die Menschheit vernichten, die Hölle ans Licht des Tages und Verwüstung über das Land bringen wollen.«

Sein Gesicht wurde lebhaft, und er deutete mit dem Finger auf mich. »Du, Lily, du wirst ihre Bemühungen zunichtemachen! Wie ein Körperpanzer beschützt du die gesamte menschliche Rasse. Du bist die Geheimwaffe, die dafür kämpft, dass auf der Welt alles wieder seine Ordnung hat. Und deine erste Aufgabe wird sein, die Neunte Pforte zu sichern.«

Ich schluckte und versuchte zu verhindern, dass mein Gesichtsausdruck meine Empfindungen preisgab. Was allerdings lächerlich war, wenn man bedenkt, dass der kleine Drecksack meine Gedanken lesen konnte. Aber wisst ihr, was? Es war mir ziemlich egal. Denn tief im Innern spürte ich etwas, etwas, das ich lange Zeit vermisst hatte. Hoffnung.

Mehr noch: Ich fühlte mich wie etwas Besonderes. Sie wollten mich, Lily Carlyle. Sie hatten mich dem Tod von der Schippe geholt, weil ich für sie etwas Besonderes war.

Wenn das nicht cool war …

Nur …

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

»Was ist?« Clarence kniff die Augen zusammen.

»Du hast von einer Prophezeiung gesprochen. Bist du dir sicher, dass ich gemeint bin?«

»Du brauchst mehr Vertrauen zu dir selbst, Kindchen! Und zu uns.« Er deutete mit dem Finger auf mich. »Glaub mir, die Prophezeiung weist auf dich. Die einzige Frage ist jetzt nur noch: Bist du mit von der Partie?«

Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und blieb hängen; ich war die Länge noch nicht gewohnt. Ich weiß nicht, warum ich zögerte. Es war völlig ausgeschlossen, dass ich mich drücken würde. Wie er schon sagte: Ich war auserwählt. Ich war der Finsternis entrissen worden, um es den Bösewichtern heimzuzahlen.

Männern wie Lucas Johnson.

Ich stand auf und lief im Zimmer hin und her. Das, was ich Hoffnung genannt hatte, wurde größer und größer. Lange hatte ich so etwas nicht mehr gefühlt. Genauer gesagt: seit dem Tod meiner Mutter. Das Gefühl war noch so zerbrechlich, dass ich es kaum wagte, genauer hinzuschauen. Aber die Hoffnung war da, streckte ihr Köpfchen aus der Jauche. Eine Chance zu einem bestimmten Zweck. Für eine Zukunft.

Ach ja, auch eine zweite Chance, Johnson doch noch zu erwischen.

»Sie gehört dir, wenn du sie ergreifst«, sagte Clarence mit zusammengekniffenen Augen, ein Gesichtsausdruck, den ich nicht entschlüsseln konnte. Ich blickte zu Boden, da ich nicht wollte, dass er die Rachegedanken in meinem Kopf sehen konnte. Denn die kamen mir irgendwie nicht sonderlich heilig vor.

»Was, wenn ich ablehne?«, fragte ich, obwohl mir klar war, dass das nicht zur Debatte stand. Ich war bereits viel zu aufgekratzt von der Vorstellung, viel zu scharf auf die Aussicht, alles Nötige zu tun, um das Böse auszulöschen. Das Böse, das Männer wie Lucas Johnson antrieb.

»Überlegst du das ernsthaft?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Gut. Denn dann wärst du wieder am Nullpunkt, und deine sündhaften Taten würden deine Seele besudeln.« Er steckte die Hand tief in die Manteltasche, holte ein gefährlich aussehendes Messer heraus und zuckte mitleidig mit den Schultern. »Und dein Blut besudelt diese Klinge. So sind nun mal die Regeln.«

»Ach du Scheiße! Was für eine Sorte Engel bist du eigentlich?«

Er ließ das Messer wieder verschwinden. »Ich habe nie behauptet, dass ich ein Engel bin. Ich arbeite hier nur. Und du ab sofort auch.«