21

 

»Bist du deswegen bis nach Irland geflogen. Kleine?«, fragte mich der Bär in den schwarzen Klamotten, als ich ihm das Guinness auf den Tisch stellte.

Ich schenkte ihm ein freundliches Lächeln, so eins, für das man ein gutes Trinkgeld bekommt. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«

»Setz dich auf meinen Schoß, Schätzchen, dann verzeihe ich dir.«

»Die Sache ist nur, Schätzchen, wenn ich mich auf deinen Schoß setze, werde ich mir selbst das nie verzeihen.« Ich drehte mich auf dem Absatz um, während der Kumpel des Bären in schallendes Gelächter ausbrach und alle in Hörweite wissen ließ, wo er diesen frechen kleinen Mund am liebsten sehen würde.

Mein Gott.

Ich schminkte mir mein Trinkgeld ab, nahm an ein paar Tischen Bestellungen auf und ging zum Tresen. Egan war wieder zurück, und ich sah ihn voller Zuneigung an, froh, dass ich in diesem neuen Leben jemanden hatte, an den ich mich halten konnte. Wenn man es genauer betrachtet, wusste ich jetzt allerdings auch nicht mehr als vorher. Ich war immer noch ahnungslos, hatte keinen blassen Schimmer, wer Alice getötet haben könnte und warum. Ich hatte ein paar Fragen gestellt, mit Egans Antworten aber nicht viel anfangen können. Es gibt einfach keine elegante Methode, wie man jemanden bitten kann, einem zu erzählen, was man ihm alles gebeichtet hat. Ach, Onkel Egan, ich habe mein Gedächtnis verloren - worüber habe ich mir doch letzte Woche noch mal Sorgen gemacht? Das konnte ich ja wohl kaum bringen.

Also hatte mich diese Begegnung auch nicht weitergebracht. Dennoch hatte ich etwas Wertvolles daraus mitgenommen, und als er mir jetzt zulächelte, fühlte ich mich wohl und sicher. Aber ich erinnerte mich durchaus daran, wie Bose geschaut hatte, als sie mich, Alice, von der Tür aus betrachtet hatte. Sie fühlte sich nicht wohl und sicher, und das angenehme Gefühl, das sich in mir ausgebreitet hatte, verwandelte sich in Schuld und Bedauern.

Ich war für den vorderen Bereich des Pubs zuständig, Trish für den hinteren. Gracie war heute nicht da, sie hatte angerufen und gesagt, sie sei krank, wozu Egan nur spöttisch bemerkt hatte, am Telefon klänge sie ganz schön munter. Ich hatte mich gezwungen, möglichst ausdruckslos zu schauen, während ich mich gleichzeitig fragte, ob heute wohl das Vorstellungsgespräch für den Job war, den Alice für sie aufgetan hatte.

Da wir nur zu zweit waren, rannten wir uns schier die Hacken ab. Das Bloody Tongue zieht die ganzen Arbeiter an, die um fünf Feierabend haben, und diese Meute fällt immer überaus hungrig und durstig dort ein. Jemand vom hinterem Bereich rief nach mir und bestand darauf, sie bräuchten sofort ihre Käsefritten, und ich sah mich verzweifelt nach Trish um.

Sie war nirgendwo zu entdecken, aber kurz darauf ging die Küchentür auf, und sie stürmte völlig erschöpft herein. Der Lichtstrahl aus der Küche glitt über einen Zweiertisch in der Ecke. Als er das Gesicht des Mannes beleuchtete, der dort saß, blieb mir glatt der Atem weg: Deacon. Unsere Blicke trafen sich, und mein Magen vollführte eine dieser Schmetterlingsnummern, an die ich mich noch aus der Schule erinnere. Und genau wie damals in der Schule drehte ich mich sofort weg und rückte auf dem nächstgelegenen Tisch Salz und Essig gerade.

Eine halbe Minute später wurde mir klar, wie idiotisch ich mich da gerade aufführte, und ich drehte mich wieder um. Er war weg.

Als Trish an mir vorbei zum Tresen eilte, um ein Tablett mit Pints zu holen, zupfte ich sie am Ärmel und fragte: »Wo ist er hin?«

Sie blinzelte mich an wie eine Eule, und ich konnte zusehen, wie ihr Gehirn die Frage langsam verarbeitete. Trish war eine prima Kellnerin, aber sie war eindeutig nicht die Hellste. »Wer?«

»Tisch neun.« Unnötigerweise deutete ich in die Richtung. »Deacon Camphire.«

Sie blickte über meine Schulter, dann wieder zu mir. »Da ist niemand.«

»Das weiß ich. Aber …«

»Wenn du es weißt, warum fragst du mich dann? Ich meine … komm schon, Alice! Ist ja schließlich nicht so, als hätte ich nichts Besseres zu tun, als hier rumzustehen und mit dir zu reden.«

Und wisst ihr was? Genauso ging es mir mit ihr auch.

Sie eilte davon, um die Meute zu befriedigen, und ich ging hinüber zu Tisch neun, um mich meinen Pflichten zu entziehen. Nach wie vor kein Deacon, aber der Stuhl war noch warm. Ich setzte mich, presste die Hände auf die Tischoberfläche und stellte mir vor, er säße neben mir.

Ich bemerkte, dass Egan mich vom Tresen aus neugierig und besorgt beobachtete. Dennoch hob ich nicht die Hand, um ihm beruhigend zuzuwinken. Wie hätte ich das auch tun sollen, schließlich war ich selbst alles andere als beruhigt.

In der Küche tauchte ich in die hektischen Aktivitäten und den intensiven Gestank nach Fett ein. Ich konnte richtig spüren, wie er in meine Poren drang. Gerüche charakterisieren Orte, dachte ich mir, und jetzt charakterisieren sie auch mich. Die Ausdünstungen des Pubs. Der Gestank des Tötens.

»Bestellung fertig«, rief Caleb, und ich nahm dem stämmigen Koch drei Körbchen mit Fisch ab und kehrte in den Schankraum zurück, wo ich sie vor einer Gruppe von Leuten Mitte zwanzig absetzte, die einige Gesetzestexte aufgeschlagen vor sich liegen hatten. Sie nahmen mich kaum wahr, so sehr waren sie in ihre Diskussion über Liegenschaften und Nießbrauch vertieft.

Ich schlenderte zum Tresen, um von Egan einen Drink zu schnorren, aber er war nicht da. Stattdessen zapfte Trish ein Bier nach dem anderen wie ein Profi. Ich beugte mich über den Tresen, griff nach dem Limonadenspender und einem leeren Glas und versuchte, es mit Sprite zu füllen. Nichts. Nur ein paar armselige Tropfen kohlensäurehaltiges Wasser, und selbst die bestanden größtenteils aus Luft.

»Verdammt! Wo ist Egan?«, fragte ich. Ich war kurz vorm Verdursten.

Trish zeigte zur Küche. »Im Lager, nehme ich an. Ich weiß nur, dass er sich verdrückt hat, und jetzt komme ich hier nicht mehr weg.«

»Tut mir leid.«

»Hey. Das betrifft dich genauso.« Sie schob mir ein Tablett mit Pints rüber. »Tisch siebzehn.«

»Aber ich muss …«

»Du musst mir helfen, das ist alles, was du im Moment musst.«

Okay, sie hatte ja recht, aber ich war wild entschlossen. Allerdings war ich nicht blöd, also nahm ich das Tablett und servierte das Bier. Doch dann ging ich nicht zurück zum Tresen, sondern eilte auf die Küche zu, und als Trish das sah, ließ sie einen derart verärgerten Schrei los, dass sich alle Köpfe im Pub umdrehten. Ich winkte ihr zu und versprach, gleich wieder zurückzukommen. So macht man sich vermutlich keine Freunde, aber manchmal muss man einfach durchziehen, was man sich vorgenommen hat.

Meine Füße fanden von allein den Weg zum Lager: die Treppe hinunter, vorbei am Kühlhaus und an der Nische mit den Fässern, wo ich vorher mit Egan geredet hatte.

Der Keller des Pubs bestand aus einer Reihe von verwinkelten Gängen, teilweise aus Stein, teilweise mit Holz vertäfelt. Er erinnerte mich derart an ein Labyrinth, dass ich mir schon wünschte, ich hätte Brotkrumen mitgebracht. Die Tür zum Lager war auf der linken Seite, und während ich vor mich hinging, ließ ich die rechte Hand über die Steinwände gleiten. Auf Höhe des Kühlhauses merkte ich jedoch auf einmal, dass ich nicht Stein unter meinen Fingern spürte, sondern kaltes Metall.

Sie war mir bisher noch nicht aufgefallen, aber jetzt sah ich, dass dort eine schmale Bronzetür war, verziert mit seltsamen Symbolen, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Aber als ich versuchte, die Erinnerung zu greifen, rann sie mir davon durch die Finger wie Wasser.

Probehalber drückte ich gegen das Metall, das unter meinen Handflächen zu pulsieren schien. Ich beugte mich vor und suchte nach einem Knauf, wild entschlossen, da reinzukommen und zu sehen, was sich hinter dem magischen Vorhang verbarg. Aber ich fand nichts und knallte frustriert die Faust gegen die Tür.

Mein Frust verwandelte sich in Besessenheit, und vermutlich wäre ich dort für den Rest meines Lebens stehen geblieben und hätte versucht, das Hindernis mit purer Willenskraft zu überwinden. Doch dann hörte ich hinten im Flur Egans Stimme.

Reichlich widerwillig bewegte ich mich von der Tür weg, bis die Anziehungskraft der Stimme schließlich größer wurde als die der Tür.

»Verdammt, ich muss es wissen!«, drang Egans Stimme aus dem Lager. »Ihr könnt mich doch nicht dermaßen im Unklaren lassen.«

Ich blieb stehen, teils weil ich neugierig war und teils weil ich nicht stören wollte. Ich hatte damit gerechnet, eine zweite Stimme zu hören, aber als wieder nur Egan sprach, fiel mir ein, dass an der Wand neben der Tür ein Telefon hing.

»So? Na gut, dann sag mir, was los ist! Ich will wissen, warum ich diesen ganzen Scheiß plötzlich wieder am Hals habe!« Ich hörte Schritte, dann tauchte sein Schatten im Türrahmen auf.

Rasch zog ich mich zurück, presste mich gegen die Wand, hielt den Atem an und betete, er möge in den Raum zurückkehren. Ich hatte keine Ahnung, mit wem er telefonierte oder worüber er dermaßen sauer war, aber ich wusste, dass ich ihn nicht dabei stören wollte.

Als ob mein Wille Macht hätte, zog sich der Schatten zurück, und Egans Stimme wurde leiser. »Auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall! Ich habe ein Recht, das zu wissen. Ich habe diesem Pub meine Seele verschrieben. Wie lange habe ich euch schon ermöglicht, hier euer Ding durchzuziehen? Und das ist der Dank, den ich dafür bekomme? Das kann doch wohl nicht euer Emst sein!«

Ich trat einen Schritt zurück. Was auch immer da gerade ablief - Egan war total sauer. Und da das Ganze nach einer sehr privaten Sache klang, wollte ich nur noch nichts wie weg. Als ich jedoch hörte, wie seine Stimme bei den nächsten Worten einen respektvollen Unterton bekam, blieb ich abrupt stehen. Es klang, als hätte ihm jemand mit einer Nadel in die aufgeblähte Brust gestochen und alle Luft wäre entwichen.

»Nein, nein. Natürlich würde ich nie … Genau. Genau, ja, ich weiß.« Stille, dann: »Das glaube ich nicht. Auf keinen Fall. Ich musste nur Dampf ablassen. Sie hat mich einfach aus dem Konzept gebracht.« Noch längere Stille, dann weiteres Arschkriechen. »Unbedingt. Ja, natürlich. Was immer ihr braucht. Gar kein Problem.«

Danach hatte ich keinen Nerv mehr, mir den Best anzuhören. Egan würde stocksauer sein, wenn er aus diesem Baum kam - wer wäre das nicht, wenn man ihm dermaßen den Schneid abgekauft hätte und ich wollte ihm lieber nicht vor die Füße laufen.

Was ich wollte, waren Antworten.

Wem hatte er das Pub angeboten, und wie hatten sie ihn ausgetrickst? Und diese »Sie«, die ihn aus dem Konzept brachte? War ich das? Oder besser gesagt - Alice? Hatte sie irgendetwas über die Leute am anderen Ende der Leitung herausgefunden? Jene Leute, die einem Bullen von einem Mann wie Egan Angst einjagen konnten?

Hatte sie sich mit jemandem eingelassen, der Egan bedrohte? Oder zumindest zur Weißglut brachte? Und ihn auf jeden Fall unter seiner Knute hatte?

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und mit jeder neuen Idee trugen mich meine Füße schneller durch das Labyrinth zur Küche und schließlich in den Schankraum zurück.

Trish brüllte mich an, kaum dass sie mich erblickte, aber ich gab keine Antwort. Ich war viel zu sehr mit all den Fragen beschäftigt und mit dem Gefühl von Hilflosigkeit, das aus dem Wissen entstand, dass ich die Antworten darauf nicht so schnell finden würde.