22

 

Ich hatte das Motorrad in der Gasse hinter dem Pub abgestellt, ohne mir Gedanken zu machen, wie ich reagieren sollte, falls mich jemand darauf ansprach. Oder besser gesagt: Ein paar Gedanken hatte ich mir schon gemacht. Aber nachdem Alice offenbar kein Auto besaß, hatte ich die Notwendigkeit, unauffällig und im Einklang mit ihrer Persönlichkeit zu bleiben, meinem Bedürfnis untergeordnet, nicht zu Fuß zur Arbeit gehen zu müssen.

Ich war gerade auf dem Weg zum Motorrad, als mich jemand an der Schulter berührte. Ich wirbelte herum, das Messer in der Hand. Es war Gracie.

Sie kreischte auf, und ich ebenfalls, dann machte ich einen Satz nach hinten und verbarg das Messer hinter meinen Rücken.

Zu spät - sie hatte es bereits entdeckt. »Wow!«, sagte sie. »Meine Mom predigt mir dauernd, ich soll mir einen Elektroschocker besorgen, vor allem seit letztem Sommer.« Vor ein paar Monaten war eine Reihe von Mädchen verschwunden. Überwiegend solche, die das College geschmissen hatten, Mädchen mit wenig Geld und ohne Familie in der Nähe. Der Fall hatte es bis in die Nachrichten gebracht, und soweit ich wusste, war keine von ihnen wieder aufgetaucht. Vielleicht konnte ich jetzt, wo ich die Superbraut war, für sie zurückschlagen, für sie das Böse bekämpfen.

Gracie beäugte das Messer. »Das ist ja noch abartiger als das, das du sonst immer hattest!« Ich blinzelte, überrascht, dass Alice überhaupt mit einer Waffe rumgelaufen war. »Und ich bleibe dabei: Das ist eine bescheuerte Waffe. Ich habe mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht, und da sollten wir mit einem Messer in eine Puppe stechen. Ich konnte es nicht, und das meine ich im wörtlichen Sinn. Diese Haut war vielleicht zäh! Außerdem hat die Puppe total echt ausgesehen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Elektroschocker. Mütter haben immer recht.« . »Wirklich blöd«, entgegnete ich und steckte das Messer wieder in meinen Mantel. »Gestern Abend sind hier auf der Straße ein paar Typen rumgelungert, und als mir das heute Morgen wieder eingefallen ist, hab ich mir einfach das nächstbeste Messer geschnappt.«

»Du hast dir also gedacht, wenn du schon so blöd bist, nachts zu Fuß nach Hause zu gehen, solltest du wenigstens nicht so blöd sein, das ohne Messer zu tun? Weißt du denn nicht, dass solche Typen es dir einfach abnehmen würden? Wenn sie wirklich vorhaben, dich anzugreifen, dann hilft dir ein Messer auch nicht. Das nützt ihnen höchstes noch.«

»Sagt das deine Mom

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Onkel Tilo. Er ist Bulle. Weißt du, was er dir raten würde?«

»Was denn?«

»Pfefferspray.«

»Sag bloß! Auf die Idee bin ich ja noch gar nicht gekommen.«

Sie warf mir einen seltsamen Blick zu, aber ich lächelte sie einfach nur an. Dass Alice das unschuldigste Lächeln auf diesem Planeten hatte und es sich sehr gewinnbringend einsetzen ließ, hatte ich bereits geschnallt. Ich schwang mich auf das Motorrad. »Was tust du eigentlich hier?«

Aber sie antwortete nicht, stand einfach nur mit offenem Mund da. »Wer bist du und was hast du mit meiner Freundin gemacht?«, fragte sie schließlich.

Mein Körper verwandelte sich in einen Eisblock. Verdammte Scheiße! Ich starrte sie an, der Unterkiefer fiel mir herab wie bei einem Fisch, und schließlich rang ich mir ein »Wie bitte?« ab.

»Das Motorrad! Ich nehme alles zurück, was ich übers Nachhausegehen gesagt habe. Aber mal ehrlich: Haben dich irgendwelche Aliens einer Gehirnwäsche unterzogen? Ich dachte, du hasst diese Dinger.«

»Ach so, ja … Tue ich auch. Oder besser gesagt: habe ich. Das habe ich überwunden.«

»Dann hast du Noah also nur aufgezogen?«

Ich durchforstete mein Gehirn nach den Informationen, die ich in den letzten Tagen gespeichert hatte. Noah war in der Schublade »Exfreund« abgelegt. Offensichtlich hatte er ein Motorrad besessen. Und mir hatte das offensichtlich nicht gefallen. »Vielleicht war ich bei ihm ein bisschen überempfindlich«, entgegnete ich und versuchte, so zu klingen, als würde ich eine größere Charakterschwäche zugeben. »Außerdem war er viel zu leichtsinnig. Sicherheit ist mir total wichtig.« Dass ich keinen Helm hatte, zeigte eigentlich deutlich, was für eine faustdicke Lüge das war.

Gracie fiel das jedoch gar nicht auf. »Das war er wirklich. Und seine Harley war dermaßen laut!«

Mein Exfreund hatte eine Harley gehabt? Alice war wohl doch cooler gewesen, als ich gedacht hatte. Außerdem bewegten wir uns gerade in gefährlichen Gewässern, schließlich wusste ich so gut wie nichts über Alice’ Freund. Aber als ich mich anschickte loszudüsen, protestierte Gracie heftig.

»Ich dachte, wir könnten zusammen was unternehmen«, gestand sie mir.

»Was denn?«

»Feiern.« Sie grinste. »Komm schon! Lass das Motorrad stehen und fahr mit mir mit. Ich erzähle es dir unterwegs.«

Ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es sich bei diesem »Es« handelte, und mein Bauchgefühl empfahl mir heimzufahren, bevor ich einen größeren Schnitzer machte und mich verriet. Aber mein Bauch wurde einfach übergangen. Tatsache war nämlich, dass ich Gracie mochte. Und auch wenn mir bewusst war, dass mich Kontakte mit Alice’ Freunden in Schwierigkeiten bringen könnten, wollte ich mit ihr losziehen. Und Gracie sah ich schließlich eh jeden Tag im Pub. Ob es mir nun gefiel oder nicht: Sie war dauerhaft Teil meines Lebens. Also konnte ich das auch genießen.

»Na gut«, sagte ich, glitt vom Motorrad und folgte ihr zum Ende der Gasse, wo ihr alter klappriger Chevy Nova zwei Plätze vor einer Parkuhr einnahm. Als ich einstieg, fiel mir kurz eine dunkle Gestalt auf, die sich in der Nähe des Pubs herumdrückte. Ich behielt sie auch noch im Auge, als sie in einen Wagen stieg, doch dann bog Gracie ab, und ich konnte sie nicht mehr sehen.

Ich klappte die Sonnenblende herunter, um den nachfolgenden Verkehr im Auge zu behalten. Um Viertel nach elf waren nur noch wenige Autos unterwegs, und glücklicherweise blieb keins davon länger als ein oder zwei Blocks hinter uns. Auf der Schnellstraße kamen wir zügig voran, und ich konnte wieder leichter atmen. Entweder hatte ich mir nur was eingebildet, oder mein Schatten hatte angenommen, dass ich wohl kaum mit Gracie an meiner Seite auf Dämonenjagd gehen würde.

»Also, was feiern wir?«, fragte ich fröhlich und versuchte, mich in die richtige Stimmung zu bringen.

»Sie haben mir den Job nicht direkt angeboten, aber ich glaube echt, ich habe ihn. Ich bin dir so dankbar, dass du mich ihnen empfohlen hast.«

»Habe ich doch gern gemacht«, erwiderte ich und wechselte schnell das Thema. Ich wollte nicht in die blöde Situation kommen, zugeben zu müssen, dass ich keine Ahnung hatte, wer »sie« waren.

Also redeten wir vor allem über die Gäste und über Egan, wobei die meiste Zeit eigentlich Gracie redete und ich so tat, als hätte ich Kopfschmerzen - die, davon war Gracie überzeugt, aufhören würden, sobald ich was zu essen bekam.

»Ich wette, du hast heute Abend noch nichts gegessen«, sagte sie und klang dabei dermaßen wie eine fürsorgliche Mutter, dass ich lächeln musste. Alles in allem war das Gespräch locker und freundlich, und ich glaube, ich war die ganze Zeit nicht ein einziges Mal in Gefahr, enttarnt zu werden.

Als sie von der Schnellstraße runterfuhr, wurde mir bewusst, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wo wir waren. Ich wollte sie gerade fragen, als sie wendete und dann vor einem Restaurants parkte, das seinen Namen Thirsty in hellgrünen Neonbuchstaben bekannt gab, also »durstig«. Was für ein Zufall, dachte ich, ich war nämlich ziemlich durstig.

Die lärmende Atmosphäre fühlte sich vertraut an, und ich folgte Gracie zu einer Nische im hinteren Teil. Auf halbem Weg fiel mir auf, dass wir gar nicht erst die Bedienung nach einem freien Platz gefragt hatten. »Ich habe mit Aaron ausgemacht, dass wir uns hier treffen. Ist das in Ordnung?«

»Aaron?«

Sie drehte sich zu mir um. »Ich habe dir doch von ihm erzählt. Der Typ, den ich im Fitnessstudio kennengelernt habe.«

»Ach ja. Richtig.«

»Und Brian habe ich auch Bescheid gesagt.«

Diesen Namen kannte ich von Alice’ Anrufbeantworter. Abrupt blieb ich stehen. »Moment mal. Was soll das?«

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte mich unschuldig an. »Ihr würdet echt gut zusammenpassen, Alice, da bin ich mir sicher.«

Ein abgekartetes Spiel. Ein Doppel-Date! Und ich war einfach darauf reingefallen. »Ich weiß nicht«, erwiderte ich und trat einen Schritt zurück. Alice im Pub zu spielen oder manchmal in Gracies Gegenwart war die eine Sache - aber Alice spielen gegenüber einem Typen, der auf sie abfuhr, war eine ganz andere. Das war nun wirklich keine gute Idee.

Gracie sah mich mit einem Hundeblick an und sagte bettelnd: »Ach komm schon. Wenn du nicht dabei bist, führe ich mich mit Aaron immer ganz komisch auf. Und das mit Brian ist wirklich unverbindlich. Er weiß, dass du dich gerade erst von Noah getrennt hast. Und Freunde seid ihr doch sowieso schon. Na los, Alice. Lass mich nicht hängen.«

Ich warf einen Blick über ihre Schulter und sah mir die beiden Männer in der Nische hinten im Eck an. Sie wirkten eigentlich ganz nett, wie Jungs, die man in der Schule kennenlernt oder bei einem Spiel der Red Sox. Die Sorte Mann, die weder über den Preis von Ecstasy im Straßenverkauf Bescheid weiß noch in der Lage ist, ein Schloss zu knacken. Die Sorte Mann, mit der ich nicht die geringste Erfahrung hatte.

Sie unterhielten sich angeregt - vermutlich über Sport - und hatten uns noch nicht bemerkt. Doch dann blickte einer von ihnen zu uns her und erkannte mich offensichtlich, denn er lächelte und winkte. Nachdem ich nun also ertappt war, lächelte ich zurück und ergab mich in mein Schicksal. Wie es aussah, würden wir uns wohl zu den Jungs gesellen.

Ich redete mir ein, so schlimm würde es schon nicht werden. Und sollte ich das Gefühl kriegen, dass ich überhaupt nicht wie Alice rüberkam, konnte ich mich immer noch verdrücken.

Gracie ging voran, und wir brachten die üblichen Begrüßungen und Umarmungen hinter uns. Sie setzte sich zu dem Typen mit dem kurzen roten Haar, der aussah wie der nette Junge von nebenan. Musste wohl Aaron sein. Brian, der mit seinen dunklen Haaren und seinem Drei-Tage-Bart äußerst sexy wirkte, rutschte zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich setzte mich und lächelte ihn - wie ich hoffte - unverbindlich an.

Glücklicherweise wurde ich nicht sofort in ein Gespräch verwickelt, weil die Bedienung an unseren Tisch kam, die aussah, als wäre sie höchstens vierzehn. Ich bestellte ein Bier und eine Portion Pommes frites, dann lehnte ich mich zurück, um die Atmosphäre in mich aufzunehmen, während die anderen bestellten.

Überall um uns herum saßen Pärchen oder Gruppen und lachten und tranken. Es herrschte eine heitere, gesellige Stimmung. Hierher kam man, um Freunde zu treffen. Um mit Leuten abzuhängen, die man mochte. Einfach so zum Zeitvertreib.

Hatte ich jemals solche Freunde gehabt? Klar war ich mit Leuten weggegangen. Wir hatten rumgehangen, hatten getrunken, uns vielleicht etwas nicht ganz Legales reingepfiffen. Und manchmal hatten wir uns auf irgendjemandes Bude verzogen und waren zusammen im Bett gelandet. Aber als Freunde hätte ich die Leute nicht bezeichnet. Über Lucas Johnson hatte ich mit keinem von ihnen gesprochen. Auch nicht darüber, was er Bose angetan hatte. Nicht über das System, das ihm die Freiheit wiedergegeben hatte. Und schon gar nicht über meinen Racheplan.

Stattdessen hatte ich mich zurückgezogen. Hatte mich eingesperrt, nie mehr zurückgerufen und mich ganz in mich selbst verkrochen. Und je mehr ich in meine nur noch von Rachegedanken erfüllte Welt abtauchte, desto mehr verlor ich meine sogenannten Freunde. Nicht einer hatte gefragt, was mit mir los sei. Nicht einer war vorbeigekommen, um nachzusehen, wie es mir ging.

Ich richtete den Blick auf Gracie und versuchte, mir vorzustellen, sie würde sich derart desinteressiert zeigen. Aber es gelang mir nicht, dafür war sie einfach zu sehr Gracie, nicht irgendeine flüchtige Bekanntschaft, die sich im Hinterzimmer einen Schuss setzte und einen gelegentlich um Geld anhaute. Zuverlässig. Eine Freundin. Und zum ersten Mal wurde mir bewusst, was der eigentliche Unterschied zwischen Alice und mir war: Zwar war sie jetzt tot, aber sie war mal deutlich lebendiger gewesen, als ich das je geschafft hatte. Und sie war - dachte ich mir jedenfalls - auch sehr viel geheimnisvoller gewesen. Eine verwöhnte Göre mit einem Faible für Rosa, die Freunde hatte, attraktive Männer anzog und offensichtlich mit schwarzer Magie rumspielte. Und ein paar nicht gerade harmlose Geheimnisse hatte.

Ich zog die Stirn kraus, aber falls Gracie oder den Männern meine nachdenkliche Stimmung auffiel, äußerten sie sich jedenfalls nicht dazu. Stattdessen hingen sie an Grades Lippen, während sie davon schwärmte, wie sicher sie sei, den Job zu kriegen. »Und das verdanke ich alles Alice.« Sie strahlte mich an. »Du bist die Beste.«

»Wenn du das wirklich bist«, sagte Brian, »besorg mir doch ebenfalls einen neuen Job. Mein Chef treibt mich in den Wahnsinn.«

»Tut mir leid«, erwiderte ich trocken. »Ich helfe nur denen, die wirklich begabt sind.«

Er presste die Hände gegen sein Herz. »Zack! Schon der erste Pfeil aus ihrem Köcher hat mich niedergestreckt.«

Ich grinste und trank einen Schluck Wasser. Vielleicht würde das Ganze einfacher, als ich befürchtet hatte. Und so war es dann tatsächlich. Ich überging Brians Frage, warum ich ihn wegen des Films nicht zurückgerufen hatte, und wehrte Aarons Interesse an meiner Freundschaft mit Gracie ab, indem ich stattdessen einfach ihn ausquetschte. Ich nippte gelegentlich an meinem Bier und versuchte, einen interessierten Eindruck zu machen, während er von der Inventur in dem Autoteileladen erzählte, in dem er arbeitete. Plötzlich entdeckte ich im Eingang des Restaurants ein bekanntes Gesicht.

»Alice?«

»Nichts«, erwiderte ich, aber nicht schnell genug. Gracie drehte sich um und sah in die Richtung, in die ich gestarrt hatte. Und als ich sie nach Luft schnappen hörte, wusste ich, dass auch sie Deacon erkannt hatte.

»Geh da bloß nicht hin!«, warnte sie mich, als ich an den Rand der Sitzbank rutschte.

»Ich muss.« Ich dachte daran, wie ich ihn im Pub gesehen hatte und wie er verschwunden war. Und jetzt war er hier. Beobachtete mich. Verfolgte mich. Und ich hatte vor, dem ein Ende zu setzen.

Ich stand auf und lächelte die Männer an. »Ich muss gerade mal was mit einem Bekannten klären«, sagte ich und drehte mich um, bevor sie Fragen stellen oder protestieren konnten.

Bis ich im Eingangsbereich des Restaurants angekommen war, hatte Deacon sich wieder einmal verdrückt.

»Nein, nein, nein!«, murmelte ich. »Das gibt’s doch nicht!« Ich suchte die ganze Bar nach ihm ab, aber auch dort war er nicht. Dann entdeckte ich eine Doppeltür, die in einen Biergarten führte. Ich ging hinaus und stand auf einmal zwischen lauter mit Kerzen geschmückten Tischen. Trotz der kühlen Oktoberluft war es dank sorgfältig platzierter Gasheizpilze angenehm warm.

Ich blickte mich um und sah Deacon mit einer Bierflasche in der Hand am Tresen des Biergartens stehen. Ausdruckslos starrte er mich an, als ich auf ihn zuging.

»Dauernd haust du vor mir ab«, sagte ich in anklagendem Ton.

»Hier bin ich doch. Vielleicht stimmt mit deiner Wahrnehmung was nicht.«

»Warum verfolgst du mich?«, fragte ich. Der Barkeeper hinter dem Tresen legte den Kopf auf die Seite und starrte Deacon mit zusammengekniffenen Augen an.

»Macht der Typ dir Ärger?«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, entgegnete ich und warf dem Barkeeper einen Blick zu, der ihn zurückschrecken ließ. Vermutlich nicht die höflichste Art, mit der Situation umzugehen, aber ich konnte spüren, wie langsam etwas in mir hochkochte - eine warme, breiige Mischung aus Gefühlen, die nach einem Kampf lechzte.

»Ein Blick, und der Typ schmeißt das Handtuch«, sagte Deacon und betrachtete mein Gesicht. »Du hast diesen Blick vorm Spiegel geübt, stimmt’s?«

»Ich habe noch viel mehr als nur das geübt. Beantworte meine Frage! Warum verfolgst du mich?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Frage bereits beantwortet habe. Oder hast du das Versprechen vergessen, das ich dir gegeben habe?«

Hatte ich nicht. Wie auch? Wie hätte ich überhaupt irgendetwas vergessen sollen, was diesen Mann betraf? Jede Berührung, jeder Geruch, jede leichte Veränderung seines Gesichtsausdrucks hatte sich mir tief eingeprägt. Und natürlich auch sein Versprechen herauszufinden, was mit mir geschehen war.

Ich konnte nicht zulassen, dass er dieses Versprechen hielt.

»Es ist gefährlich, wenn man dermaßen besessen von etwas ist«, sagte ich. »Gib das lieber auf.«

»Das sehe ich anders.« Er trat einen Schritt näher an mich heran. Ich wich keinen Zentimeter zurück, wild entschlossen, mich von ihm nicht aus der Fassung bringen zu lassen. »Nicht immer ist es schlecht, wenn man von etwas besessen ist«, fuhr er fort. »Manchmal ist es eher faszinierend.« Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und ließ dabei die Fingerspitzen über meine Wange gleiten. Diese einfache und wie zufällige Berührung setzte in mir eine Kettenreaktion in Gang, die meinen ganzen Körper heiß und willig werden ließ.

»Aber manchmal«, fügte er hinzu, »kann Besessenheit auch gefährlich werden.« Bevor ich mir etwas überlegen oder gar reagieren konnte, senkten sich seine Lippen auf meine. Ich hörte mich nach Luft schnappen, dann spürte ich, wie meine Schenkel heiß wurden und meine Brustwarzen sich aufrichteten. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ mich tiefer und tiefer in diesen Kuss sinken - diesen hitzigen Kuss, der so glühend war, dass er mich vielleicht gemeinsam mit Deacon in die Hölle hinunterfegen würde. Und so mitreißend, dass ich in dem Moment freiwillig mit ihm dorthin gegangen wäre.

Der Gedanke ließ mich wieder zu mir kommen, und mir fiel auch wieder ein, wer und was ich war. Ganz abgesehen davon, wer er war. Oder, besser gesagt, was er war.

Automatisch glitt meine Hand an meinen Schenkel, aber das Messer steckte nicht in seiner Scheide. Zuletzt hatte ich die Kellnerinnenkluft angehabt, und als Gracie aufgetaucht war, hatte ich es in meine Tasche gesteckt.

»Du würdest mich nicht umbringen«, lächelte Deacon. »Nicht hier. Nicht jetzt.«

»Wieso zum Teufel bist du da so sicher?«

»Aus zwei Gründen.« Lässig lehnte er sich gegen den Tresen. »Erstens hast du gegen mich keine Chance, Alice, das kannst du mir glauben.«

Ich erinnerte mich an das, was Clarence gesagt hatte, und beschloss, nicht zu widersprechen. Es mochte einen Zeitpunkt geben, wo Draufgängertum angesagt war, aber nicht jetzt. »Und zweitens?«

»Weil es dir gefallen hat, wie ich dich geküsst habe.« Seine Worte wärmten mich wie Whisky und machten mich genauso beschwipst. »Es hat dir gefallen, und du willst mehr.«

Es gelang mir, zaghaft den Kopf zu schütteln. »Du irrst dich.«

Er lächelte mich verheißungsvoll an und hörte nicht auf, mich anzustarren, bis ich total kribbelig wurde. Sein Blick wanderte nach unten. Zu meinen Brüsten, meinem Schoß. Dann sah er mir wieder in die Augen. »Nein«, erwiderte er. »Das tue ich nicht.«

Und dann knallte er einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen, drängte sich an mir vorbei und war im Nu an der Tür. Er zog sie auf, und schon war er verschwunden, während ich noch erfolglos nach einer schlagfertigen Entgegnung suchte. Vermutlich weil alles, was er gesagt hatte, stimmte. Eine Tatsache, die mich unruhig und voller Verlangen und mehr als nur ein bisschen verwirrt zurückließ.

Diese Runde hatte er zweifellos für sich entschieden. Eine zu Gefühlsbrei zerflossene Dämonenjägerin ist nicht sonderlich gut geeignet, die Mächte des Bösen zu bekämpfen.

Deacon provozierte mich, und ich musste unbedingt lernen, mich von ihm nicht mehr derart aus der Fassung bringen zu lassen. Schließlich hatte ich eine Aufgabe zu erledigen. Und dafür brauchte ich einen klaren Kopf.

Kaltes Wasser im Gesicht würde mir vielleicht helfen, also ging ich wieder nach drinnen. Obwohl ich mir einredete, mir sei egal, wo Deacon sich aufhielt, ließ ich den Blick auf der Suche nach ihm durch den Baum schweifen. Als ich ihn nirgendwo entdecken konnte, zog sich mein Magen vor Enttäuschung zusammen. Gut. Ich würde mich jetzt nämlich beruhigen und einen netten Abend mit meinen Freunden verbringen. Kein Deacon in Sichtweite war etwas außerordentlich Gutes.

Ich hatte eigentlich vorgehabt, kurz an unserem Tisch vorbeizugehen und Gracie Bescheid zu sagen, dass ich gleich wiederkäme, aber Aaron und sie waren intensiv in ein Gespräch vertieft, und Brian saß nicht mehr in der Nische. Da ich die beiden nicht stören wollte, ließ ich den Tisch links liegen und ging gleich auf die Toilette.

Die Toiletten waren ganz hinten, direkt neben einem Notausgang, und offensichtlich hatten die Besitzer nicht damit gerechnet, dass das Lokal mal so viele Leute anziehen würde. Acht Frauen standen in der Warteschlange. Ich beschloss, lieber nach draußen zu gehen. Trotz eines roten Warnschilds mit der Aufschrift: Nicht öffnen! Alarm ist eingeschaltet! hatte jemand die Tür aufgemacht, ohne dass irgendein Alarm zu hören war.

Ich trat hinaus und fand mich in einer kleinen Gasse wieder.

Ich wusste nicht, ob es an Alice’ Ausstrahlung lag oder an dem Hallo-ich-bin-eine-Mörderin—Schild auf meiner Stirn, jedenfalls schien ich mich in letzter Zeit ziemlich viel in dunklen Gassen herumzutreiben. Morgen, dachte ich mir, fahre ich mal ein bisschen ins Grüne.

Ich holte tief Luft und wünschte mir fast schon, ich würde rauchen. Das wäre zumindest ein netter Zeitvertreib, während ich Gracie noch ein paar Minuten mit ihrer Neuerwerbung allein ließ.

Hinter mir fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Ich drehte mich um und hoffte, dass sie nicht verschlossen war; ich hatte wirklich keine Lust, um den ganzen Block zu laufen. Aber solche Unannehmlichkeiten waren mein geringstes Problem. Nicht, dass ich das gleich gemerkt hätte. Stattdessen stand ich nur da, und meine angeblich so hochsensiblen Sinne versagten kläglich. Nichts warnte mich vor dem drahtigen Wesen, das hinter einer Mülltonne hervorkam und sich auf mich stürzte.

Es war klein und rundlich und offensichtlich völlig elastisch. Es rammte mir den Kopf in den Bauch, dass ich zu Boden ging und mir der Atem wegblieb.

»Und jetzt«, krächzte es, »wirst du, denke ich, sterben.«